Cem Özdemir war am 26. November zu Gast im tagesschau-Chat, in Zusammenarbeit mit politik-digital.de. Der Grünen-Parteivorsitzende bezog klar Stellung zur Bonusmeilen-Affäre, einer Zusammenarbeit mit der CDU auf Bundesebene und Türkisch-Unterricht in Schulen.
Moderatorin: Herzlich willkommen beim
tagesschau-Chat im ARD-Hauptstadtstudio. Mein Name ist Corinna
Emundts. Zu Gast heute ist der frischgewählte Parteivorsitzende der
Grünen, Cem Özdemir. Herzlich willkommen auch an Sie, Herr Özdemir
– und danke, dass Sie sich Zeit genommen haben, hierher zu kommen!
Können wir loslegen?
Cem Özdemir: Absolut, danke für den
freundlichen Empfang!
Moderatorin: Vor nicht allzu langer Zeit haben
Sie gesagt, Sie trauten sich das Amt des Grünen-Parteivorsitzenden
nicht zu. Was führte zu dem Sinneswandel?
Cem Özdemir: Das Amt des Parteivorsitzenden
generell, aber im Besonderen bei mir in der Partei, ist ein sehr
Anspruchsvolles und es will gut überlegt sein. Und ich habe es mir
gut überlegt und mich dann entschlossen, dass ich Parteivorsitzender
werden möchte. Nachdem für mich auch klar war, dass sich das mit
meinen Pflichten als Vater vereinbaren lässt.
Moderatorin: Das sagt einer der Partei, die lange
schon für Vereinbarkeit von Familie und Beruf kämpft?
Cem Özdemir: Anspruch und Wirklichkeit klaffen
bei jemandem mit einer 70-Stunden-Woche gelegentlich auseinander.
Umso wichtiger ist es, dass man vorher gut plant und es sich vor
allem gründlich überlegt. Ich gehöre zu einer Generation, die
beides zusammenbringen möchte. Beide Elternteile berufstätig und
dennoch mit dem Anspruch, genug Zeit für sich und für das Kind zu
haben. Im Grunde bin ich doch sogar eigentlich privilegiert im
Verhältnis zu vielen anderen in der Gesellschaft, da ich
beispielsweise morgens meine Tochter selber in den Kindergarten
bringen und anschließend zur Arbeit gehen kann. Viele Menschen haben
eine solche Möglichkeit nicht, weil es entweder von der Arbeitszeit
her nicht geht oder die entsprechende Kinderbetreuungseinrichtung
fehlt.
Moderatorin: Im Prechat wurde häufig für die
Frage gestimmt, warum Sie nach der Bonusmeilenaffäre wieder auf die
politische Bühne gegangen sind?
Cem Özdemir: Die Logik kann, glaube ich, nicht
so funktionieren, dass derjenige, der Verantwortung übernimmt,
lebenslänglich bekommt und derjenige, der auf Durchzug schaltet,
sich damit zu Höherem berufen zeigt. Zumindest wäre dies nicht
meine Logik. Ansonsten ist es aber so, dass ich nach 2002 ernsthafter
aus der Parteipolitik schon draußen war und auch nicht so schnell
vorhatte, wieder aus den USA zurückzukehren. Reinhard Bütikofer und
Daniel Cohn-Bendit, die ich bei ihren USA-Reisen getroffen habe,
haben mich aber überzeugt, für das Europa-Parlament 2004 zu
kandidieren.
IK: Befürchten Sie nicht ein
Glaubwürdigkeitsproblem nach der versäumten Steuerpflicht, der
Hunzigeraffäre und dem Bonusmeilenskandal? Alles vergeben und
vergessen?
Cem Özdemir: Ich habe meine Steuerpflicht nicht
versäumt – sondern erfüllt. Und in Sachen Hunzinger meinte der in
dieser Frage wohl eher unverdächtige Hans-Christian Ströbele, zum
Zeitpunkt der Aufnahme des Darlehens hätte er mir auch nicht davon
abraten können. Bei den Bonusmeilen habe ich private und dienstliche
nicht geteilt, so wie viele andere auch, und dies nicht aus
Böswilligkeit, sondern weil ich davon ausging, dass ich genug privat
erworbene Meilen habe. Für all dieses habe ich Verantwortung
übernommen, indem ich – wie angekündigt – das Mandat nicht
angenommen habe, nachdem ich für den Bundestag wiedergewählt worden
war. Dies gibt mir jetzt allerdings auch die Möglichkeit, an dem
gemessen zu werden, was ich zuvor gemacht habe und vor allem aber,
was ich seither mache. Man wird verstehen, dass ich doppelte
Standards nicht akzeptiere, auch in dieser Frage nicht. Dass es immer
wieder welche geben wird, die mir Fragen stellen, die sie anderen
nicht stellen, ist mir nicht ganz unvertraut.
Moderatorin: Wieso?
Cem Özdemir: Es hat sich auch nicht jeder
darüber gefreut, dass jemand wie ich da ist, wo er heute ist.
Dennis: Auf die Landesliste wollte man Sie nicht
wählen. Warum glauben Sie, dass Ihnen die Partei als Vorsitzender
folgen wird?
Cem Özdemir: Weil diejenigen, die mich auf die
Landesliste in Baden-Württemberg nicht gewählt haben, mir auch dort
schon gesagt haben, dass sie mich als Bundesvorsitzenden wollen. Und
das Ergebnis auf dem Bundesparteitag, das für grüne Verhältnisse
(bei uns gibt es keine 90-Prozent-Ergebnisse für Vorsitzende) sehr
gut war, zeigt, wie breit die Unterstützung in der Partei ist. Die
Landespartei in Baden-Württemberg tut sich traditionell schwer mit
der Vereinbarkeit von Amt und Mandat. Dies muss man verstehen vor dem
Hintergrund unserer Tradition: Traditionell wollen viele bei uns
vermeiden, dass Einzelne in der Führung zu viele Aufgaben und zu
viel Macht in einer Person konzentrieren.
Alessandra: Lieber Cem! Was hast du in deiner
Zeit im europäischen Ausland gelernt und wie wirkt sich diese
Erfahrung nun auf dein politisches Engagement aus?
Cem Özdemir: In einem Parlament mit 27
Mitgliedsländern bleibt es nicht aus, dass man viel lernt über die
Hintergründe der anderen Kollegen. Um nur ein Beispiel zu nennen:
Die Länder, die diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs waren,
haben beispielsweise oft einen ganz anderen Zugang zum Verhältnis zu
Russland. Spannend für mich ist auch, dass das Europäische
Parlament im Gegensatz zu nationalen Parlamenten nicht über einen
strengen Fraktionszwang verfügt. Das heißt, bei uns suchen sich die
Themen ihre Mehrheiten. Für den einzelnen Abgeordneten bedeutet das,
dass er mal mit konservativen Kollegen und mal mit Kollegen von der
Linkspartei bei bestimmten Themen zusammenarbeitet. Etwas von dieser
Flexibilität und Offenheit in den etwas robusteren Alltag von Berlin
rüberzuretten, würde ich gerne versuchen. Was sicherlich bleiben
wird, ist meine Begeisterung für Europa.
pp: Cem, was muss geschehen, damit Dein
Migrationshintergund nicht mehr im Vordergrund steht, sondern die
politischen Inhalte, für die Du stehst?
Cem Özdemir: Nicht ohne Grund habe ich in meiner
Rede auf dem Bundesparteitag in Erfurt das Thema "Migration"
mit keinem Wort erwähnt, sondern, als es beispielsweise um das Thema
"Bildung" ging, von Arbeiterkindern gesprochen. Denn
schließlich haben deutsche Arbeiterkinder keine grundlegend anderen
Probleme als türkischstämmige Arbeiterkinder, die an den
unsichtbaren Mauern des deutschen Schulsystems – das genau diese
soziale Schicht systematisch von höheren Schulen und damit von
Zugang zu den Universitäten ausschließt – scheitern. Mein Wunsch
ist, dass wir eines Tages in einer farbenblinden Gesellschaft leben.
Dass die Menschen nicht danach beurteilt werden, welcher
Religionsgemeinschaft sie angehören oder wo ihre Vorfahren
herkommen, sondern danach, was sie zu sagen haben und was sie machen.
Dies wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Moderatorin: Da würde ich gerne nachhaken: Wieso
haben Sie dann gleich quasi als erste Amtshandung das "Türkisch
in der Schule"-Thema in der "Bild"-Zeitung gespielt?
Cem Özdemir: Meine Ansage war doch eigentlich
sehr klar: Deutsch muss die erste Sprache sein und wenn neben
Englisch, Französisch, Russisch und anderen Sprachen, die bei uns
angeboten werden, auch Türkisch als weiteres Fach angeboten wird,
kann dies der Gesellschaft eigentlich nur gut tun. Nochmal: Grundlage
sind gute Deutschkenntnisse für alle. Dies gilt auch für den
Schwaben Cem Özdemir, der schließlich auch Hochdeutsch lernen
musste. Spannend ist allerdings, was die Zeitungen und vor allem
Agenturen aus dem, was ich gesagt habe, gemacht haben. Dies fängt
schon bei der Überschrift der Bild-Zeitung an und hört bei den
Reaktionen noch nicht auf. Es zeigt mir eigentlich nur, dass man
künftig bei der PISA-Studie nicht mehr nur 15-Jährige, sondern auch
den Berufsstand der Politiker und möglicherweise auch der
Hauptstadtjournalisten und vor allem derjenigen, die Agenturmeldungen
machen, mit einbeziehen sollte. Ich bin mir allerdings nicht ganz
sicher, ob die möglichen Resultate so wären, wie wir uns das alle
wünschen.
Simon: Sehr geehrter Herr Özdemir, welches Motiv
vermuten Sie hat die "Bild", dass sie so gegen Sie wettert?
Cem Özdemir: Ich würde nicht sagen dass die
"Bild" gegen mich wettert, denn in der Reaktion am nächsten
Tag wurde ja auch wiedergegeben, dass es unterschiedliche
Rückmeldungen gab. Die Bild ist die Bild und die Bild will sich
verkaufen und braucht dafür eine gute Schlagzeile. Und wenn ich sie
nicht liefere, dann muss man eben etwas zuspitzen. Viel
bemerkenswerter ist, dass seriöse Medien, die dieses eigentlich
wissen sollten, ausschließlich die Überschrift zitieren und damit
eine virtuelle Debatte entfachen, zu der sich dann wiederum virtuelle
Politiker äußern und so weiter. Eigentlich sollte der Ernst der
PISA-Studie und ihre Ergebnisse dazu führen, dass man an ein solches
Thema mit etwas mehr Tiefgang herangeht. Aber vielleicht hat meine
Erwartungshaltung auch damit zu tun, dass ich noch immer etwas von
dem Stil in Brüssel "verdorben" bin.
Moderatorin: Die folgende Frage an Sie ist
zugleich eine, die viele User vorab für besonders wichtig bewertet
haben.
Nichttürkischer Ausländer: Finden Sie nicht,
dass der Türkischunterricht an deutschen Schulen zu einer
Zweiklassen-Ausländerschaft führt? Warum sind Sie für Sonderrechte
für Türken? Warum missachten Sie die anderen Kulturen?
Cem Özdemir: Es ist immer schwierig, Positionen
zu verteidigen, die man nie vertreten hat. Dies meine ich mit
virtuellen Diskussionen. Ich setze mich dafür ein, dass neben der
deutschen Amtssprache und den wichtigsten Fremdsprachen auch andere
Sprachen in unserer Gesellschaft unterrichtet werden, wo immer es
entsprechende Nachfrage gibt. Dies bedeutet für meine Tochter
beispielsweise, dass sie auf einen spanisch-deutschen Kindergarten
geht, weil ihre Mutter Argentinierin ist. Für andere mag es
bedeuten, dass sie neben Deutsch auch Kurdisch, Arabisch, Persisch
oder was auch immer lernen. Es gibt ein schönes anatolisches
Sprichwort, das heißt: Eine neue Sprache ist wie ein neuer Mensch.
Dem kann ich nicht viel hinzufügen außer der Verwunderung darüber,
wie schwer man sich in Deutschland mit der Mehrsprachigkeit tut.
banjo: Zudem ist ein Zweitsprachenerwerb
erwiesenermaßen nur dann möglich, wenn die Muttersprache
ausreichend beherrscht wird. Erst dann kann auf dieser aufgebaut
werden. Warum wird so wenig auf dieser Grundlage diskutiert? Ich
begrüße Ihre Wahl. Mit welchen Konzepten wollen Sie die Integration
in unserer Gesellschaft voranbringen?
Cem Özdemir: Es ist nicht zwingend so, dass man
erst die Muttersprache gelernt haben muss. Wichtig ist vor allem,
dass man eine Sprache richtig gut lernt. Die Eltern sollten die
Sprache vermitteln, die sie am besten können. Deshalb ist es auch
Quatsch, wenn einige "Experten" sagen, die Eltern sollen in
jedem Fall deutsch mit ihren Kindern sprechen. Wenn es fehlerhaftes
Deutsch ist, versündigt man sich an den Kindern eher.
mahdi1: Guten Tag, Cem Özdemir. Ich möchte Sie
fragen, was Sie für Muslime in Deutschland tun werden, um deren
Rechte zu stärken und dafür zu sorgen, dass trotz einer Integration
(die sein muss), der Islam trotzdem ausgelebt werden kann? Ich wäre
sehr dankbar für Ihre Antwort.
Cem Özdemir: Ich mache keine spezielle Politik
für eine Religion. Der Islam und damit auch die Muslime sind Teil
unserer Gesellschaft. Dazu gehört auch der Bau von Moscheen und
damit der Abschied von den Hinterhöfen. Oder das Thema
Religionsunterricht: Es ist mir schließlich lieber, wenn hier
ausgebildete Religionslehrer in Deutsch muslimische Kinder
unterrichten und nicht irgendwelche radikalen Prediger.
Moderatorin: Ich bitte um Verständnis, dass wir
nun von den politischen Fragen zu den Grünen wechseln, dazu sind
hier live in diesen Minuten bereits sehr viele Fragen eingetroffen.
Laurens: Ich habe große Sorge, dass Sie eines
der Kernthemen der Grünen, den Umweltschutz und insbesondere den
Klimaschutz, unter den Tisch fallen lassen oder auf Kuschelkurs mit
der halbherzigen Unionspolitik gehen. Warum widmen Sie diesen
wichtigen Themen so wenig Aufmerksamkeit?
Cem Özdemir: Wie kommen Sie darauf, dass ich dem
Thema wenig Aufmerksamkeit widmen würde? Es ist praktisch in jeder
Rede Kernbestandteil und einen Kuschelkurs mit der Union kann ich bei
bestem Willen nicht erkennen. Sie müssten dies schon belegen. Die
Grünen haben eine sehr klare Position in Sachen Atomausstieg und die
Union muss wissen, dass es da nichts zu verhandeln gibt. Und auch der
Bau neuer Kohlekraftwerke zusätzlich zu den bereits bestehenden und
in Bau befindlichen ist mit uns nicht zu machen.
Moderatorin: Bei folgender sehr umfassenden
Frage bitte ich um eine KURZE Antwort im Interesse aller anderen noch
Fragenden!
Peter Klaus: Was sind Ihre Ziele für den
Bundestagswahlkampf 2009 und mit wem wollen Sie eine Koalition
eingehen und warum gerade mit diesem?
Cem Özdemir: Ich kann verstehen, dass viele die
Koalitionsfrage interessiert. Mich interessiert aber vor allem, dass
die Grünen gestärkt in diese Wahlauseinandersetzungen gehen und
gute Ergebnisse einfahren. Über Koalitionen wird nicht entlang
arithmetischer Mehrheiten entschieden, sondern es geht hier um
Inhalte. Und zwar grüne Inhalte. Und dann schauen wir, mit wem wir
sie am besten umsetzen können.
Laurens: Auf ihrer Homepage ist das Thema kaum
erwähnt.
Cem Özdemir: Es ist die Homepage des
Europa-Abgeordneten Cem Özdemir und sie gibt insofern die Arbeit des
Europa-Abgeordneten Cem Özdemir wieder und Cem Özdemir ist im
Europa-Parlament außenpolitischer Sprecher der Grünen. Wenn Sie
aber schauen, es findet sich auch auf meiner Website, welche
Interviews ich im letzten halben Jahr zu welchen Themen gegeben habe.
Dann ist es glaube ich sehr eindeutig, oder?
kayboard: Sehr geehrter Herr Özdemir, ich würde
gerne weg von der Nationalitätenfrage und wechseln zu einem Thema,
welches sehr präsent ist: Politikverdrossenheit der Wähler,
Rezession. Überzeugen Sie mich bitte in wenigen Worten, warum ich
Ihre Partei als voraussichtlicher Koalitionspartner der CDU bei der
nächsten Bundestagswahl wählen soll?
Fr. Vogt: Mit welcher Koalitionsaussage gehen Sie
in die Bundestagswahl 2009? Ich gehe nämlich davon aus, dass, wenn
Sie sich mit der Union zusammentun würden, immer weniger Bürger die
Grünen wählen würden. Auch in Hamburg haben Sie damit viele
Stimmen verloren. Sehr viele ehemals links-alternative Wählerinnen
und Wähler wandern ab zur Linkspartei. Was sagen Sie dazu?
Cem Özdemir: Ich sehe nicht, dass wir
Koalitionspartner der Union werden sollen. So wie Frau Merkel sich
gegenwärtig von ihren hehren Zielen des Klimaschutzes verabschiedet
hat und bedauerlicherweise mit Umweltminister Gabriel zusammen in
Brüssel jede Art von Fortschritt in Sachen "Reduzierung des
CO2-Ausstoßes im Automobilverkehr" verhindert, geht da nicht
sehr viel mit uns. Wer sich gegen ein Tempolimit wendet und eine
CO2-basierte-Kfz-Steuer nicht einführt, meint es nicht ernst mit dem
Klimaschutz. Ich hoffe, dies war klar genug. In Hamburg geht es um
eine Landeskoalition und Landeskoalitionen werden bei uns von den
Landesverbänden entschieden und die grüne Handschrift ist dort klar
zu erkennen.
Sealand: Sehr geehrter Herr Özdemir, wie
beurteilen Sie die Situation der Grünen in Hessen in Hinblick auf
die anstehenden Neuwahlen?
Spiegelturm: Welche Lehren ziehen Sie aus den
Vorgängen in Hessen?
Cem Özdemir: Ich ärgere mich über den
Ypsilanti-Walter-Chaosladen, der das Projekt "Eine Mehrheit
jenseits von Roland Koch" an die Wand gefahren hat. Jetzt ist
aber auch klar, worum es in Hessen geht. Wer möchte, dass derjenige,
der Minderheiten in früheren Wahlkämpfen stigmatisiert hat und
Umweltschutz für einen Standortnachteil für die hessische
Wirtschaft hält, Ministerpräsident bleibt, der muss Roland Koch
wählen. Und wer einen Politikwechsel möchte, dessen Kandidat heißt
Tarik – ach, ich schreib’s türkisch – mit e… Tarek Al-Wazir!
Moderatorin: Nochmal zum Bund:
Pete: Wenn Sie mit der CDU nicht koalieren wollen
oder können, bliebe nur die SPD/FDP als Dreierkoalition. Lehnen Sie
eine Koalition mit der Linkspartei auch ab oder werden Sie sich vor
der Wahl nicht festlegen?
alfredo: Guten Tag Herr Özdemir, wie sehen Sie
persönlich das politische Verhältnis der Grünen zur neuen Partei
"Die Linke"? Übereinstimmungen in den Parteiprogrammen
sehe ich. Aber mich würde interessieren, wie nahe sich die Grünen
und die Linken wirklich kommen wollen, auch gesehen auf die
bevorstehende Bundestagswahl im kommenden Jahr. Ich persönlich würde
es begrüßen!
M_Linke: Können Sie sich vorstellen, mit der
Linken unter einem Lafontaine zu koalieren?
Cem Özdemir: Zur letzten Frage noch ein kurzer
Nachtrag: Die anderen Namen muss man sich nicht merken. Eine
Koalition mit der Union schließt die Union de facto aus durch ihren
klimafeindlichen Kurs. Zur Linken: Mal ganz abgesehen davon, dass sie
selber eine Regierungsbeteiligung 2009 ausschließen, sehe ich nicht,
wie wir mit einer europafeindlichen (sie haben den EU-Vertrag
abgelehnt) und populistischen ("Fremdarbeiter") Partei
zusammen kommen sollen, die allen alles verspricht, so lange die
anderen sich um die Finanzierung kümmern. 2009 sehe ich dafür keine
Möglichkeit. Übrigens schließt dieses auch die SPD ausdrücklich
aus.
Kuehl: Sehen Sie die Grünen eher als eine
Oppositionspartei?
Cem Özdemir: Wir sind in der Opposition,
insofern ist unser Job klar definiert. Wir müssen Alternativen
formulieren zur Großen Koalition. Da ist Manndeckung gefragt und
gegenwärtig deutliche Kritik.
tomkrishan: Sehr geehrter Herr Özdemir, unter
Rot-grün wurde die Agenda 2010 verabschiedet. Denken Sie unter Ihrer
persönlichen Regierungsbeteiligung wird die Entrechtung der
Arbeitslosen weiter ausgebaut bzw. die Niedriglohnpolitik weiter
forciert?
Cem Özdemir: Die Agenda 2010 war im Prinzip
richtig. Allerdings gab es dabei auch handwerkliche Fehler und
wichtige Versäumnisse. Ich denke beispielsweise an die
Altersrückstellungen, da konnten wir uns damals leider gegen die SPD
nicht durchsetzen. Eines ist allerdings auch klar: Wir brauchen
dringend Mindestlöhne, die es ja schließlich in Großbritannien
auch gibt. Es darf nicht weiter auseinander gehen zwischen oben und
unten in dieser Gesellschaft.
vyasa: Möchten Sie den Niedriglohnsektor
bekämpfen? Und wenn ja, wie?
Cem Özdemir: Wir wollen, dass die Friseurin
beispielsweise von ihrer Arbeit menschenwürdig leben kann. Dazu ist
neben dem Mindestlohn auch eine Änderung der Besteuerung notwendig.
Sparro: Sehr geehrter Herr Özdemir, was ist Ihre
Lösung für die bevorstehende Rezession? Wollen Sie weiterhin die
Banken retten und somit den eigentlich Schuldigen weiterhelfen? Oder
doch den Markt seine Arbeit machen und die Guten von den Schlechten
trennen lassen.
Cem Özdemir: Wir haben zur Zeit nicht nur eine
Finanzmarktkrise und Wirtschaftskrise sondern immer noch und vor
allem bleibend eine Klimakrise. Die Lösung kann nur in der
Verknüpfung der beiden Themen bestehen. Das heißt, wir müssen
jetzt Energie sparen und Investitionen in erneuerbare Energien,
Energieeffizienz (Altbausanierung) und intelligente Mobilität
(Autos, die weniger als 120g CO2 ausstoßen) tätigen.
greenworld: Beziehen Sie Ökostrom?
Cem Özdemir: Ja, aus Schönau, schließlich komm
ich ja aus dem Ländle.
Moderatorin: Noch eine Frage aus dem Prechat
dazu:
cem: Aus welcher Stadt der Türkei stammen Sie?
Moderatorin: Apropos "Ländle" 🙂
Cem Özdemir: Die Stadt heißt "Bad Urach"
und liegt zumindest bislang immer noch in Baden-Württemberg.
Moderatorin: Zwei außenpolitische Fragen:
hadi112: Wie stehen Sie zum EU-Beitritt der
Türkei?
Sebastian: Wollen Sie Außenminister einer
schwarz-grünen Koalition werden?
Cem Özdemir: Zu hadi112: Wenn die Türkei die so
genannten Kopenhagener Kriterien erfüllt, also beispielsweise die
Menschenrechte nachprüfbar einhält und die Lebensumstände
innerhalb der Türkei sich angleichen, dann soll die Türkei nicht
anders behandelt werden als andere Länder, die vor der Türkei
Mitglied geworden sind. zu Sebastian: Ich bin Parteivorsitzender und
nicht Spitzenkandidat. Insofern sind unsere Kandidaten für
Ministerämter unsere beiden Spitzenkandidaten Renate Künast und
Jürgen Trittin, die sich allerdings auch nicht für eine
schwarz-grüne Koalition einsetzen, sondern für starke Grüne.
Shrek the Ogger: Eine CDU, die Klimapolitik zur
Chefsache erklärt, eine Linke, die soziale Gerechtigkeit fordert.
Grüne Themen sind nicht mehr (ausschließlich) grün. Welches Thema
bleibt den Grünen noch als Alleinstellungsmerkmal?
Cem Özdemir: Erst einmal ist es ja keine
schlechte Nachricht, wenn die Themen, für die wir früher belächelt
worden sind, mittlerweile immerhin dazu führen, dass die anderen
Parteien ihre Überschriften geändert haben. Wenn es allerdings ums
Handeln geht, dann sehen wir aktuell ja bei der Kanzlerin, wie sie
den Lobbyinteressen der deutschen Automobilindustrie nachgibt. Ich
bin mir sicher, dass das Original im Zweifelsfall den Vorzug erhält.
Aber: Wir Grünen wissen, dass wir klar machen müssen, worin der
Unterschied besteht.
Moderatorin: Wir kommen in die letzte Runde, was
unsere Chat-Zeit angeht. Hier sind noch ein paar Fragen zur Person
gekommen – Spielregel jetzt: Sie haben jeweils einen Satz pro
Antwort! (Dann kriegen wir mehr unter)
Cihat: Herr Özdemir, ich bin 17, Gymnasiast
türkischer Abstammung. Und ich frage mich, was Sie bewegt hat,
gerade bei den Grünen aktiv zu werden?
Cem Özdemir: Ich bin in der Schule aktiv
geworden und über die Umwelt und Friedenspolitik zu den Grünen
gekommen.
Schwabe: Warum nennen Sie sich anatolischer
Schwabe, wenn sie doch in Bad Urach geboren sind? Sollte es nicht
selbstverständlich sein, dass Sie Schwabe sind wie die anderen Bad
Uracher auch?
Cem Özdemir: Als ich 1994 in den Bundestag
gewählt worden bin, wurde ich mal Spätzle-Türke genannt, dann
wieder Deutsch-Türke und so weiter und irgendwann habe ich dann eben
gedacht, ich kreiere selber einen Begriff, bevor es andere tun.
JaneJones: Sie sagen, dass deutsche
Arbeiterkinder keine anderen Probleme als türkischstämmige
Arbeiterkinder haben. Viele Freunde von mir mit Migrationshintergrund
haben große Probleme damit, sich selbst innerhalb der verschiedenen
Kulturen zu verorten. Obwohl Sie in Deutschland geboren sind, sehen
Sie sich nicht als Deutscher und wenn Sie es doch versuchen, werden
Sie sehr schnell in Ihre Schranken verwiesen. Wie kann dies Ihrer
Meinung nach geändert werden und wäre das Ihrer Ansicht nach
überhaupt sinnvoll?
Cem Özdemir: Wichtig ist, dass man trotz aller
Hindernisse sich selbst als Inländer sieht und sich nicht selbst zum
Ausländer macht bzw. machen lässt.
Salim Spohr: Lieber Cem, bist du eigentlich
Muslim?
Cem Özdemir: Ich komme aus einer muslimischen
Familie.
MadMax: Herr Özdemir, könnten Sie sich
vorstellen, Bundeskanzler der BRD zu sein?
Cem Özdemir: Es dürfte etwas dauern, bis meine
Partei die Mehrheit in Deutschland stellt und sich daraus auch der
Anspruch ergibt, den Bundeskanzler zu stellen – wenn es soweit ist
und ich noch lebe, werde ich sehen, was dann wird.
Moderatorin: Das Ergebnis unserer Chat-Umfrage
ist da: ("Können Sie sich eine schwarz-grüne Koalition auf
Bundesebene vorstellen, wenn der Atomausstieg beibehalten wird?")
43 Prozent haben ja gesagt, 57 Prozent nein – Wollen Sie kurz darauf
reagieren?
Cem Özdemir: Der Atomausstieg alleine würde mir
auch nicht genügen. Schließlich geht es auch um die anderen
Politikfelder, wo wir uns verständigen müssten.
pp: Cem, ist die Spaltung der Grünen in Fundis
und Realos noch zeitgemäß und wie möchtest Du die Lager innerhalb
der Partei näher zusammen bringen?
Cem Özdemir: Eines ist jedenfalls klar: Die
beiden Bundesvorsitzenden sind grüne Bundesvorsitzende und nicht
Flügelvorsitzende. Ich bekomme auch mit, wie immer mehr jüngere
Mitglieder bei uns mit den klassischen Flügeln nicht mehr viel
anfangen können. Dies muss kein Schaden sein.
werner: Wer ist politisch Dein Vorbild und warum?
Cem Özdemir: Aktuell war und ist es mein
ermordeter Freund Hrant Dink, der türkisch-armenischer Journalist
war.
Moderatorin: Eine persönliche Frage unsererseits
zum Schluss: Berufspolitiker werden ja oft kritisiert als zu
unerfahren in anderen Bereichen. Sie sind jung in die Politik
gekommen. Wollen Sie in diesem Beruf auch auch alt werden, also
Berufspolitiker bleiben?
Cem Özdemir: Ich hatte mich ja schon einmal
verabschiedet von der Berufspolitik. Diese Erfahrung, sich in einem
Land mit einer anderen Sprache zurecht finden zu müssen, war für
mich spannend und hat mir gezeigt, dass ich meine Brötchen auch
außerhalb der Parteipolitik verdienen kann. Ansonsten habe ich ja
auch noch einen bürgerlichen Beruf. Ich bin Erzieher und
Sozialpädagoge.
Moderatorin: Das war bereits eine gute Stunde
hier im tagesschau-Chat. Herzlichen Dank, Cem Özdemir, dass Sie sich
Zeit für die Diskussion mit den Lesern von tagesschau.de und
politik-digital.de genommen haben. Ein Dankeschön auch an unsere
User für die vielen Fragen, die wir leider nicht alle stellen
konnten. In kurzer Zeit finden Sie das Protokoll dieses Chats auf
unserer Homepage. Das tagesschau.de-Team wünscht allen noch einen
schönen Tag.
Cem Özdemir: Ich danke allen die sich am Chat
beteiligt haben – Keep it real!
Der Chat wurde moderiert von Corinna Emundts, tagesschau.de.