Christian Ströbele tacheles.02:
Chat mit

Hans-Christian Ströbele, Fraktionsvize B`90/Grüne, am 4. Februar
2003

Moderator:
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Ströbele! Herzlich
willkommen im tacheles.02 Live-Chat. Unser heutiger Gast in Berlin ist
Hans-Christian Ströbele, stellvertretender Fraktionsvorsitzender
von Bündnis 90 / Die Grünen. Herr Ströbele, sind Sie bereit
für sechzig Minuten Diskussion mit unseren Nutzern?

Hans-Christian
Ströbele:
Ja, ich bin bereit, danke.

Moderator:
Eine Frage vorab: Die amtlichen Endergebnisse der Wahlen liegen jetzt
vor. Was natürlich derzeit alle beschäftigt, ist der rasante
Verlust der SPD. Woran liegt das und inwieweit hat dies auch Auswirkungen
auf Rot-Grün im Bund? Kommt jetzt die heimliche Große Koalition?

Hans-Christian
Ströbele:
Eine Große Koalition ist nicht in Sicht.
Richtig ist, dass die Wählerinnen und Wähler offensichtlich
der Bundesregierung einen Denkzettel verpassen wollten. Aber die Konsequenz
kann nicht sein, dass die Bundesregierung jetzt von einer Großen
Koalition ersetzt wird. Dass wäre erst das große Desaster,
und sicher nicht gut für die Bundesrepublik.

girf3:
Steht die Regierung und damit ja auch die Grünen nach der Wahlschlappe
vor einem Richtungsstreit?.

Hans-Christian
Ströbele:
Die Bundregierung muss jetzt ganz klar die Richtung
bestimmen, in der die notwendigen Reformen umgesetzt werden. Daran hat
es gefehlt. Für mich heißt das, es darf keinen signifikanten
Sozialabbau geben, d.h. die Leute mit geringem Einkommen dürfen nicht
schon wieder die Kosten der Reform allein tragen müssen.

Damian2k+:
Befürchten Sie, dass die Union jetzt erst recht alle Vorhaben
der Koalition im Bundesrat blockiert ?

Hans-Christian
Ströbele:
Das steht zu befürchten, allen gegenteiligen
Beteuerungen zum Trotz. Das Zuwanderungsgesetz wird die Nagelprobe. Wenn
die Union hier nicht vernünftig ist, fürchte ich, wird auch
für zukünftige Reformen des Arbeitsmarktes und der Sozialversicherung
keine Zustimmung zu erreichen sein.

Cassandra:
Wie bewerten sie den Sieg des rechtslastigen Roland Koch in Hessen? Ist
das der neue F.J. Strauß?!

Hans-Christian
Ströbele:
Das wäre zuviel Ehre für den in den
Untersuchungsausschüssen unangenehm aufgefallenen hessischen Ministerpräsidenten.
Er wird, wie sein Vorbild Stoiber, wahrscheinlich jetzt erst mal Kreide
essen, um sich als Kanzlerkandidat der Union zu empfehlen.

Berich: Sind
sie der Meinung, der Kanzler sollte die Verantwortung für das Wahlergebnis
voll übernehmen und hieraus die persönlichen Konsequenzen ziehen?

Hans-Christian
Ströbele:
Das Wahlergebnis ist nicht nur dem Kanzler anzulasten,
sondern dem unsicheren Bild mehrerer Mitglieder der Bundesregierung, das
nicht erkennen lässt, wie die wirtschaftlichen Probleme in der Bundesrepublik
jetzt angepackt werden sollen. Da müssen sich alle an die Nase fassen,
ein schlüssiges Konzept vorlegen und die Umsetzung zügig betreiben.

Moderator:
Bei der folgenden Frage interessiert vor allem der zweite Teil
der Frage, denke ich:

girf3:
Wie bewerten Sie das Abschneiden der Grünen bei den Wahlen? Sie haben
ja nicht die Verluste der SPD für sich vereinnahmen können?

Hans-Christian
Ströbele:
Die Grünen haben dazu gewonnen. Ich will
das nicht überbewerten, aber sie konnten ein Teil der Verluste in
früheren Wahlen jetzt wieder ausbessern. Offensichtlich war ihr Profil
vielen Wählern einleuchtender als das der SPD. Jetzt aber sind beide
Fraktionen gefragt, dass sie die Regierung auf Reformkurs bringen und
erste Erfolge vorweisen, sonst wird es mit zukünftigen Wahlergebnissen
für die Grünen auch nicht mehr so gut aussehen.

Moderator:
Aus Ihrer Sicht haben wir es also mit einem reinen SPD-Problem zu tun?
Immerhin wollten die Wähler offensichtlich keine weitere rot-grüne
Koalition. Zudem profitiert eine kleine Partei normalerweise von niedriger
Wahlbeteiligung, nicht wahr?

Hans-Christian
Ströbele:
Die Wahlbeteiligung unterscheidet sich nicht besonders
von der früherer Wahlen. Die Wählerinnen und Wähler wussten,
dass sie diesmal mit ihrer Stimme die rot-grüne Regierung nicht abwählen
konnten. Das wollten sie wohl auch nicht. Sie wollten einen Denkzettel,
mehr wohl nicht.

Damian2k+:
Meinen Sie, die Bundesregierung sollte ihren Kurs trotz der Wahlergebnisse
beibehalten ?

Hans-Christian
Ströbele:
Das Problem ist, dass der Kurs der Bundesregierung
nicht eindeutig und klar genug ist. Und mir fehlt auch die soziale Komponente
sehr weitgehend. Ich will Reformen, aber ich will auch ein bisschen mehr
Umverteilung von oben nach unten. Das heißt: Nicht nur die Arbeitslosen
und Rentner und die geringverdienenden Verbraucher müssen die notwendigen
Einsparungen erbringen, sondern alle, und vor allem die, die mehr haben
und mehr verdienen.

Moderator:
Eine Nachfrage zu Ihrem Statement, dass einige Mitglieder der Regierung
ein "unsicheres Bild" abgeben würden:

walter-rotgrün:
Welche Mitglieder der Bundesregierung sorgen denn Ihrer Ansicht
nach für ein unsicheres Bild?

Hans-Christian
Ströbele:
Das sind die Minister, die die Schwankungen im
Kurs der Bundesregierung nach außen zu vertreten haben, also etwa
der Finanzminister oder auch die Gesundheitsministerin, die zunächst
von wesentlich geringeren Einsparnotwendigkeiten ausgegangen sind. Und
etwa die Rentenbeiträge halbwegs stabil lassen wollten, sich dann
aber immer wieder korrigieren mussten.

Rudi: Sollte
Eichel nicht wenigstens z.B. durch Gabriel ersetzt werden? Der arme Kerl
kann doch nun wirklich nichts für die verlorene Wahl.

Hans-Christian
Ströbele:
Sicher lagen die Gründe für die Wahlniederlage
in Niedersachsen nicht nur auf Bundesebene. Ich will jetzt niemanden aus
der Verantwortung entlassen, aber Personalentscheidungen für die
Bundesregierung stehen nicht an.

z43:
Die rot-grüne Koalition will das Reformtempo erhöhen. Geht das
zulasten linker Positionen und wieweit wollen sie dem folgen z.B. beim
Kündigungsschutz?

Hans-Christian
Ströbele:
Beim Kündigungsschutz kann man viel diskutieren,
auch die Frage, ob er ab fünf Arbeitnehmern so wie bisher immer zwingend
bleiben muss. Aber jetzt am Kündigungsschutz rumlaborieren, wäre
ganz falsch, weil gerade die SPD vor der Bundestagswahl sich zu diesem
Punkt festgelegt hat, und im Gegensatz zur Union immer wieder darauf gepocht
hat, den Kündigungsschutz nicht anzutasten. Wenn wir Glaubwürdigkeit
behalten und wiederherstellen wollen, müssen wir vor allem solche
festen Wahlversprechen halten.

Plippy:
Größtenteils sind die Stimmen von Arbeitern, Angestellten und
Arbeitslosen der SPD an die CDU verloren gegangen. Warum nicht an die
Grünen, denen die Interessen dieser Gruppe (soziale Gerechtigkeit
und Umverteilung von oben nach unten) eher als der CDU am Herzen liegt?

Hans-Christian
Ströbele:
Die Wahlentscheidung war wohl sehr stark bestimmt
von der Überlegung, einen Denkzettel zu geben und weniger davon,
dass nun Koch oder Westerwelle die Herzen zufliegen.

Hugo: Glauben
Sie, die neoliberalen Ideen (Kündigungsschutz, Arbeitszwang für
unter 25jährige) eines Herrn Clement haben die SPD-Stammwähler
abgeschreckt? Muss der Kanzler für solche Fehlgriffe nicht Verantwortung
tragen?

Hans-Christian
Ströbele:
Nicht alles was aus dem Wirtschaftsministerium
kommt oder was dort gedacht wird, kann gleich dem Minister zugeschrieben
werden. Bisher geht es um Überlegungen, und das, was etwa zu den
Hartz-Vorschlägen umgesetzt wurde, kann nicht als neo-liberal verschrien
werden.

walter-rotgrün:
Trotz guter Werte für die Grünen – war das nicht auch ein Denkzettel
für Sie?

Hans-Christian
Ströbele:
Natürlich, die Grünen sind Teil der
Koalition und der Regierung und haben auch Grund darüber nachzudenken,
wie es jetzt mit den wichtigen innenpolitischen Themen weitergehen soll,
um rasch zu konkreten Ergebnissen zu kommen.

Moderator:
Wir kommen nun zum zweiten aktuellen Thema, der Irak-Krise. Hier die erste
Frage dazu:

limo:
Sollte man den Irak nicht notfalls doch militärisch entwaffnen und
das irakische Volk von diesem Diktator befreien?

Hans-Christian
Ströbele:
Der Sturz eines Diktators – wie Saddam Hussein
im Zweifel einer ist – muss durch die eigene Bevölkerung erfolgen.
Die Entwaffnung des Regimes kann am besten und schnellsten durch die UN-Inspektoren
erfolgen. Diese waren schon sehr erfolgreich. Sie können sich im
Irak völlig frei bewegen und die Waffen zerstören, die sie auffinden.
Vor allem aber ist die Entwaffnung durch sie nicht mit dem Tod von möglicherweise
100.000 Menschen, der Zerstörung des Landes und unendlichem Leid
für viele Familien verbunden.

walter-rotgrün:
Was ist mit einem Einsatz der Awacs-Flugzeuge in der Türkei bei einem
möglichen Irak-Krieg? Ist eine Zustimmung des Bundestags notwendig?
Da gibt’s auch keine eindeutigen Signale von Rot-Grün.

Hans-Christian Ströbele: So lange die AWACS Flugzeuge
ihre Arbeit auf das NATO-Gebiet wie etwa die Türkei beschränken
ist eine Zustimmung des Bundestages nicht erforderlich. Erst wenn sie
über die Grenzen hinaus, etwa im Irak, den USA für einen Krieg
Ziele ausmachen oder andere Unterstützung leisten, müsste der
Bundestag zustimmen. Eine solche Grenzüberschreitung will aber weder
die Bundesregierung noch die Koalition.

z43: Hat
die rot-grüne Regierung Beweise und Informationen über den Irak
zurückgehalten?

Hans-Christian
Ströbele:
Nein, alle Informationen die der Bundesregierung
zur Verfügung stehen, wurden an die Inspektoren im Irak weitergegeben
und von diesen vor Ort überprüft. Selbstverständlich gibt
es immer auch Informationen, die nicht an die große Glocke gehängt
werden können, aber diese wurden den Abgeordneten aller Fraktionen
zugänglich gemacht.

Moderator:
Erwarten Sie, dass am Mittwoch wirklich neue Beweise vorgelegt
werden?

Hans-Christian
Ströbele:
Das erwarte ich nicht. Es wäre völlig
unverantwortlich von der US-Regierung, wenn sie von Massenvernichtungswaffen
und Raketen im Irak gewusst hätte oder weiß und wenn sie diese
Information nicht unverzüglich an die Inspektoren im Irak weitergibt,
damit diese die Angaben überprüfen und gegebenenfalls solche
Waffen entsprechend ihrem Auftrag sofort vernichten können. Deshalb
gehe ich davon aus, dass neues, bisher den Inspektoren nicht bekanntes
nicht mitgeteilt und nicht bewiesen werden kann.

Moderator:
War der Termin eine Brüskierung Außenminister Fischers,
da er eigentlich am gleichen Tag mit Blix verabredet war?

Hans-Christian
Ströbele:
Ich glaube nicht, dass Präsident Bush so
genau über die Besuchstermine des deutschen Außenministers
informiert ist und seine Terminplanung auf eine Störung des deutschen
Terminkalenders ausrichtet.

peacecorp:
Warum dreht sich die Frage nur um Krieg oder nicht Krieg? Es gibt doch
weitere Mittel zur Konfliktbearbeitung, aber von den Grünen höre
ich auch leider nicht viel dazu?

Hans-Christian
Ströbele:
Es gibt sicher sehr wirksame Mittel, auch zur
Lösung des Irakkonfliktes. Einige, wie der Einsatz der UN-Inspektoren,
sind mitten in der Anwendung. Nur scheint das die US-Administration wenig
zu kümmern. Sie ist offenbar entschlossen, diesen Krieg zu führen,
unabhängig davon, was die Inspektoren mit ihrer Arbeit erreichen
können. Deshalb ist derzeit die Verhinderung des Krieges eine sehr
zentrale Aufgabe geworden.

lutzs: Was
ist mit der Unterstützung durch Überlassung von Stützpunkten,
Überflugrechten etc. Gutachten des Bundestags sagen, dass diese bei
einem Angriff der USA ohne UNO-Mandat nicht gewährt werden dürften?

Hans-Christian
Ströbele:
Ein Angriff der USA auf den Irak ohne UNO Mandat
wäre ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg und deshalb nach
dem Grundgesetz verfassungswidrig. Dieser Auffassung bin ich schon lange.
Die juristischen Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes haben mich
bestätigt, ein solcher Krieg dürfte in Deutschland auch nicht
dadurch unterstützt werden, dass Luftbasen zur Verfügung gestellt
werden. Ich nehme aber zur Kenntnis, dass das Auswärtige Amt zur
der Rechtsfrage eine andere Auffassung vertritt. Und die letzte Resolution
des Weltsicherheitsrats Nr. 1441 als ausreichende Legitimation für
einen Krieg gegen den Irak in Betracht zieht.

Klaus-Jürgen:
Wenn es ein zweites, eindeutiges UNO-Mandat gibt, würden
Sie dann einen Militärschlag gegen den Irak mittragen?

Hans-Christian
Ströbele:
Nein, ich halte einen solchen Krieg für falsch
und die Folgen für nicht verantwortbar. Ich weiß, dass die
Zustimmung von Mitgliedern des Weltsicherheitsrats zu solchen Resolutionen
häufig auch aus wirtschaftlichen und anderen Interessen heraus erfolgt.
So möchte Russland den unmenschlichen Krieg in Tschetschenien ungehindert
weiterführen und könnte deshalb zum Einlenken bereit sein.

lutzs: Werden
Sie in Sachen Awacs – wenn es zu einer Bundestagsabstimmung kommt – mit
Nein stimmen?

Moderator:…oder
sich einer Fraktionsdisziplin beugen?

Hans-Christian
Ströbele:
Fraktionsdisziplin muss sein. Ohne sie wird es
jede Regierung schwer haben, aber Fraktionsdisziplin hat Grenzen. Für
die Frage einer Zustimmung zu Krieg und Frieden kann dies kein entscheidender
Gesichtspunkt sein. Davon werde ich mich bei einer Entscheidung im Bundestag
leiten lassen. Zu dem AWACS Einsatz plant die Bundesregierung keine Entscheidung
des Bundestages herbeizuführen.
Deshalb stellt sich hierzu die Frage nicht.

Klaus-Jürgen:
Sie sagen, wenn Angriff ohne Uno-Mandat – keine Unterstützung Deutschlands.
Dann wäre doch einen Klage vor dem Verfassungsgericht zur Klärung
dieser Streitfrage angemessen. Werden Sie klagen?

Hans-Christian
Ströbele:
Die Klagemöglichkeiten beim Bundesverfassungsgericht
sind sehr eingeschränkt. Nicht jeder kann so einfach das Bundesverfassungsbericht
anrufen. Ob das Bundesverfassungsgericht zu einer solchen Frage angerufen
wird, ist überhaupt nicht vorauszusagen, weil wir nicht wissen, welche
Situationen konkret werden.

nasa:
Glauben sie, dass es lediglich um Öl geht? Auch "Kriegsgegner"
wie Frankreich haben ihre Interessen?

Hans-Christian
Ströbele:
Ganz sicher haben viel Länder und Industrien
im Irak ihre Interessen. Dazu gehören auch Frankreich und Russland.
Die Frage des Öls ist eine der wesentlichen Interessen der USA, die
zu diesem Krieg führen können. Das wird von Ministern in der
US-Administration – wie dem Verteidigungsminister Rumsfeld – gar nicht
bestritten, sondern bestätigt und für viele US-Journalisten
scheint ein solcher Kriegsgrund auch kein Problem zu sein. Für mich
dürfen nationale ökonomische Interessen aber niemals ein Grund
sein, Krieg gegen ein Land zu führen. Das Ist Imperialismus, dem
ich mich immer widersetzen werde.

nasa:
Wird die Politik dieser Tage militarisiert und Krieg zum Spektakel?

Hans-Christian
Ströbele:
Es besteht die große Gefahr, dass Krieg
als Mittel der Politik nicht nur in den USA, sondern auch in Europa als
ganz normal und normales Mittel der Politik angesehen wird. Der Krieg
gegen den Irak droht zu einem Medienspektakel zu werden, bei dem niemand
mehr daran denkt, welch unendliches Leid, Tod und Zerstörung er für
die betroffene Bevölkerung bringt.

Moderator:
Liebe Gäste! Unsere Zeit ist leider bereits abgelaufen. Im Namen
der Veranstalter tagesschau.de und politik-digital.de sowie des Unterstützers
tagesspiegel.de wünschen wir allen Beteiligten einen schönen
Abend. Vielen Dank besonders an Sie, Herr Ströbele!

Hans-Christian Ströbele:
Danke auch, und schöne Grüße. Wie sehen uns am Brandenburger
Tor bei der Antikriegsdemo!

 

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