Am Donnerstag, 24. Februar, war Carl Ludwig Thiele, FDP, stellv.
Vorsitzender des Finanzauschusses des Bundestages, von 13.00 bis
14.00 Uhr zu Gast im tacheles.02 Live-Chat von tagesschau.de und
politik-digital.de."Die Regierung will durch eine Neuinterpretation
die Kriterien des Stabilitätspaktes aushebeln", erklärte
er im Gespräch mit den Teilnehmern.

Moderatorin: Liebe Chatter
und Chatterinnen, unser heutiger Gast wird sich vermutlich um einige
Minuten verspäten, so dass wir diesen Chat nicht ganz pünktlich
beginnen werden können. Wir erwarten Herr Thiele aber in den
nächsten Minuten… Über die zugeschaltete Webcam können
Sie verfolgen, ob er bereits Platz genommen hat. Sie können
auch bereits Ihre Fragen formulieren und an die Moderatoren schicken.

Moderatorin: So, jetzt sehe ich
ein Taxi vor dem Hauptstadtstudio vorfahren. Ich hoffe mal, dass
unser Gast darin saß. Leider war das Taxi doch noch nicht
das richtige, vermutlich ist er in ein unvorhergesehenes Gespräch
verwickelt worden. Das ARD-Hauptstadtstudio, von wo aus wir diesen
Chat durchführen, ist ihm sicherlich bekannt und allzu weit
vom Reichstag ist es auch nicht entfernt, hier ist alles fußläufig
zu erreichen.
Wir hören gerade, dass Herr Thiele in den nächsten zwei
Minuten eintreffen wird. Also hat das Warten Sinn gehabt er ist
jetzt auf dem Weg hierher und kommt zu Fuß. Der Referent wird
ihn schnurstracks hier in den Konferenzraum 4 des ARD-Hauptstadtstudios
geleiten. Jetzt hoffe ich nur, dass der Gehweg nicht ganz so glatt
ist wie vorhin das bremst die Schritte nämlich noch ein wenig.

Moderatorin: Überraschung, Herr Thiele
ist gerade eingetroffen: Wir können also anfangen. Herr Thiele,
herzlich willkommen. Warum haben Sie denn so lange auf sich warten
lassen?

Carl-Ludwig Thiele: Es war gerade eine
Debatte im deutschen Bundestag über das Wachstums- und Stabilitätsprogramm.
Deutschland hatte durchgesetzt, dass der Euro so stabil sein soll
wie die D-Mark. Deshalb ist international vereinbart worden, dass
die Staaten sich nicht höher als 3% dessen was erwirtschaftet
wird, neu verschulden dürfen und der Schuldenstand soll nicht
höher als 60% des BIP sein. In den letzten Jahren ist das 3%-Kriterium
dauernd überschritten worden, der Schuldenstand ist von 58
auf 66 % gestiegen. Die Bundesregierung will durch eine Neuinterpretation
diese Kriterien aushebeln.

feitstanz: Herr Thiele, sie wollen die
Unternehmenssteuern weiter senken. Aber zeigt die Deutsche Bank
nicht gerade, dass damit nicht Arbeitsplätze sondern höchstens
Aktionärsvillen geschaffen werden?

Carl-Ludwig Thiele: Wir befinden uns
bezüglich Investitionen und Arbeitsplätzen im internationalen
Wettbewerb. Andere europäische Mitbewerberländer haben
die Unternehmenssteuer in den vergangenen Jahren gesenkt. Österreich
auf 25%. Wenn wir dem tatenlos zusehen, werden weitere Arbeitsplätze
durch Investitionen in andere Länder abwandern. Täglich
verlieren wir in Deutschland mehr als 1000 Arbeitsplätze. Das
Verhalten der Deutschen Bank war auch kommunikativ nicht nachvollziehbar.

Manni: Hallo Hr. Thiele, sind Sie / die
FDP für eine Reform der Einkommensbesteuerung von Gewinnen
aus Personengesellschaften?

Carl-Ludwig Thiele: Ja. Wir sind die
einzige Partei, die ein ausformulierten Gesetzesentwurf vorliegen
hat. Ausnahmen müssen gestrichen, das Steuerrecht muss vereinfacht
und die Steuersätze gesenkt werden.

Newcomer: Sind sie für die Beibehaltung
der 3% Grenze bei der Neuverschuldung?

Carl-Ludwig Thiele: Ja. Es ist nicht
zu akzeptieren, wenn man Reformbedarf in der Gegenwart ausweicht,
und sich über 3% neu verschuldet, wie dieses in den letzten
3 Jahren erfolgt ist. Die Schulden von heute sind die Steuererhöhungen
von morgen. Eine nachhaltige Finanzpolitik setzt voraus, dass die
Probleme in der Gegenwart gelöst und nicht auf die Zukunft
verschoben werden.

demos: Die Steuerpläne der FDP beruhen
auf der Einsicht, dass wir Bürger mit unserem Geld besser umgehen
können, als dies der Staat kann. Dennoch gibt es großen
Widerstand. Sind die Deutschen nicht zur Eigenverantwortlichkeit
fähig?

Carl-Ludwig Thiele: Ich wünsche
mir mehr Eigenverantwortlichkeit. Auch die Bürger haben zu
Beginn des Jahres in einer beispiellosen Spendenaktion gezeigt,
dass auch sie eigenverantwortlich dazu beitragen, Not zu lindern
und anderen Menschen zu helfen. Die Staaten, die Hilfe geben, haben
vorher ihren Bürgern das Geld abgenommen damit die Staaten
helfen können. Bürgersinn und Engagement des Einzelnen
sind aber auch durch den Staat nicht zu ersetzen.

Moderatorin: Kommen wir zur aktuellen
Diskussion: Es gibt einen deftigen Streit zwischen Wirtschaftsminister
Clement und Finanzminister Eichel über den richtigen Kurs in
der Steuerpolitik. Clement hat Eichel eine falsche Strategie vorgeworfen
und erklärt: "Wir machen eine fiskalische Steuerpolitik
und keine wirtschaftpolitische." Die Frage an den Finanzexperten:
Was wäre denn nun besser für unser Land?

Carl-Ludwig Thiele: Erst mal ist es besser,
wenn eine Regierung Konzepte vorlegt, anstatt Diskussionen zu verhindern.
Insofern stimmen wir der Forderung von Minister Clement für
die FDP ausdrücklich zu. Die Wirklichkeit besteht allerdings
darin, dass der zuständige Finanzminister Eichel hiervon nichts
wissen will. Deshalb ist die Aufforderung von Clement lediglich
ein Sturm im Wasserglas der öffentlichen Meinung.

Mak80: In der Vergangenheit war ein Grundsatz
der Vorschläge der FDP, dass Steuersenkungen durch ein höheren
Wirtschaftswachstum in der Zukunft finanziert werden sollten. Nur
ist dieses Wachstum auch unter CDU/FDP ja nie groß genug gewesen.
Bleiben Sie dennoch bei diesem Ansatz?

Carl-Ludwig Thiele: Der Ansatz ist prinzipiell
richtig, muss aber konkret nach sechs Jahren rot-grüner Stagnationspolitik
überprüft werden. Alles Sachverständige sind sich
aber darüber einig, dass wir Wachstum in Deutschland benötigen.
Stabilität ist wichtig, aber ohne Wachstum nicht in der Lage,
unsere Probleme zu lösen.

Minor: Eine Frage bezüglich der
Bedeutung Deutschlands als Absatzmarkt, die in Bezug auf die Versteuerung
nicht unwichtig ist: Welche Bedeutung bemessen Sie dem "Binnenmarkt
Deutschland" bei?

Carl-Ludwig Thiele: Ich messe ihm eine
große Bedeutung bei. Deshalb ist es verheerend, dass durch
die allgemeine Verunsicherung, die gestiegene Arbeitslosigkeit,
Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes und Angst vor der Entwicklung
unseres Landes dazu führt, dass die Binnennachfrage niedrig
ist. Wir brauchen einen grundlegenden Politikwechsel, damit die
Bürger Vertrauen in die Zukunft haben und wieder investieren
und nachfragen.

tymmz: Guten Tag Herr Thiele, viele Experten
sind sich darüber einig, dass es unausweichlich ist, den Mehrwertssteuersatz
anzuheben. Wieso blendet jede Partei dieses Thema aus, da laut den
Parteien Reformen jetzt stattfinden müssen und nicht erst in
ferner Zukunft?

Carl-Ludwig Thiele: Jede Steuererhöhung
senkt den Druck auf die Finanzierung der öffentlichen Haushalte.
Erst müssen Strukturreformen durchgeführt werden. Wer
nur über die Erhöhung der Einnahmenseite des Staates nachdenkt
übersieht, dass jede Steuererhöhung die Nachfragemöglichkeit
der Bürger reduziert.

Moderatorin: Ich glaube, die nächste
Frage betrifft das Thema Nebentätigkeit:

t. bertram: Herr Thiele, sie arbeiten
als Rechtsanwalt, sitzen in 2 Aufsichtsräten, haben eine Familie
mit 5 Kindern und arbeiten dann noch im Bundestag. Das ist eine
beachtliche Leistung und ich freue mich dass sie Zeit für den
Chat finden konnten. Wie bekommen sie das unter einen Hut, was hat
bei ihnen Priorität?

Carl-Ludwig Thiele: Das größte
Problem und die größte Herausforderung stellt die Vereinbarkeit
zwischen Mandat und Familie dar. Bislang ist mir diese Vereinbarkeit
trotz vieler Schwierigkeiten gelungen. Da ich einen Zeitvertrag
mit dem deutschen Volk habe, muss ich mich auch im Interesse meiner
Familie darum kümmern, was passiert, wenn dieser Zeitvertrag
nicht verlängert wird. Da ich keine Arbeitsplatzgarantie im
öffentlichen Dienst, in einer Gewerkschaft oder einem Großunter­nehmen
habe, muss ich dafür Sorge tragen, dass ich auch nach dem Ausscheiden
aus der Politik weiter tätig sein kann. Deshalb ist es wichtig,
dass ich auch als Rechtsanwalt weiter tätig bin. Ich bin ehrenamtlich
in einem Aufsichtsrat tätig. In dem anderen Aufsichtsrat habe
ich drei Sitzungen pro Jahr, mit Informationen und Gesprächen
auch zwischen diesen Terminen. Auch durch diese Tätigkeit erfahre
ich Dinge, die ich dann in der politischen Arbeit nutzen kann.

Moderatorin: Heute treffen sich die parlamentarischen
Geschäftsführer, um das Thema Nebeneinkünfte zu sondieren.
Sind sie für eine Offenlegung?

Carl-Ludwig Thiele: Es gibt bisher schon
eine Regelung über ein Offenlegung. Ich bedaure, dass von einzelnen
gegen diese Regelung verstoßen wurde und dadurch diese Diskussion
ausgelöst wurde.

Moderatorin: Könnten sie mit einer
Verschärfung der jetzigen Regelung leben?

Carl-Ludwig Thiele: Das müsste differenziert
werden. Hierzu müssen Vorschläge auf den Tisch, die dann
überprüft werden. Es ist z. B. in der ganzen Diskussion
auffällig, dass gar nicht darüber diskutiert wird, ob
Minister und Staatssekretäre ihre Tätigkeit als Abgeordnete
entsprechend nachgehen können.

Moderatorin: Wir hängen noch 5-10
Minuten dran:

Minor: Erneut zum Binnenmarkt: Also würde
die FDP dazu tendieren nicht nur Reformen im "Normalen "
Steuerwesen (Gewerbesteuer bzw. Einkommenssteuer), sondern auch
bei Steuern wie der Mehrwertsteuer oder gar Tabaksteuer etc. gut
zu heißen?

demos: Früher wurde Kapital in Deutschland
reinvestiert, heute wandert es ins Ausland ab, sollten daher Kapitalkontrollen
wieder eingeführt werden?

Carl-Ludwig Thiele: Primär geht
es um eine Reduzierung der öffentlichen Ausgabe. Der große
Unterschied zwischen Privatpersonen, dem Staat und öffentlich-rechtlichen
Anstalten besteht darin, dass jeder einzelne Bürger zunächst
prüft, welche Einnahmen er hat. Erst dann plant und tätigt
er seine Ausgaben. Bei der öffentlichen Hand und den öffentlich-rechtlichen
Anstalten ist es genau anders herum. Erst werden die Ausgaben festgelegt
und dann überlegt man sich, wo man die Einnahmen herbekommt.
Dieses ist der falsche Weg. Der Staat muss im Interesse der Bürger
zur Sparsamkeit gezwungen werden. Dieses ist die Voraussetzung dafür,
dass die Steuern- und Sozialabgaben nicht permanent steigen.

Um auf die Frage von Demos einzugehen: Wir brauchen nicht mehr
Kontrollen, sondern mehr Kapital in Deutschland. Dieses Ziel verfolgte
auch die Steueramnestie. Geld, was einmal im Ausland ist, erzielt
Erträge im Ausland und führt zu Steuereinnahmen im Ausland.
Diese Erträge hätten wir gerne im Inland. Die Steuererträge
darauf auch. Deshalb dürfen wir nicht Kapital aus Deutschland
vertreiben, sondern müssen alles daran setzen, dass Kapital
nach Deutschland fließt.

Moderatorin: Aber wie, Eichel ist mit
seinem Modell gescheitert?

Carl-Ludwig Thiele: Das Modell hat einen
gravierenden Nachteil: Wir haben in Deutschland keine Zinsabgeltungssteuer.
Dieses ist leider während des Gesetzgebungsverfahrens an der
Union gescheitert.

Moderatorin: Kommen wir zum Ende noch
zu einer Wahlnachlese zu Schleswig-Holstein:

Graf_Zahl: Ihr Parteichef hat sich bei
der Schleswig-Holstein-Wahl mal wieder blamiert (Stichwort: Nachzählen).
Denken Sie, Guido Westerwelle schadet in seiner Position als Vorsitzender
der FDP?

Carl-Ludwig Thiele: Nein. Noch Fragen?

der grahl: Was halten sie von der Arbeit
ihrer Kollegen in Schleswig-Holstein? Haben die nicht einen grauenhaften
Job gemacht?

Carl-Ludwig Thiele: Wer eine erfolglose
Regierung ablösen will, sollte ein klares Kontrast­programm
dagegen setzen. Dieses haben wir in Niedersachsen – ich bin dort
stellvertretender Landesvorsitzender – gemacht. Die Wähler,
die den Wechsel wollten, haben ihn erreicht und die FDP mit 8,1%
in den Landtag gewählt.

Graf saint Germin: Herr Thiele, was glauben
sie, wer regiert in Zukunft Schleswig-Holstein?

Carl-Ludwig Thiele: Ich habe Angst, dass
die Pattex-Ministerpräsidentin Simonis als Wahlverliererin
weiter die Regierung führt, obwohl sie selbst erklärt
hat, dass sie jetzt erst ein paar Wochen Urlaub braucht und im Sommer
noch mal. Schleswig-Holstein braucht zwar Urlauber aber vor allem
eine neue Regierung für einen Neuanfang.

Moderatorin: Wie fanden Sie den Umgang
von Herrn Kubicki mit Herrn Carstensen?

Carl-Ludwig Thiele: Diese Frage kann
am besten Herr Kubicki beantworten.

Dropp: Wie sehen Sie denn die Kapitalverteilung
in der Bevölkerung in 10 Jahren? Wird sich das Verhältnis
weiter zu Gunsten einer Minderheit verschieben? Halten Sie das für
gerechtfertigt?

Carl-Ludwig Thiele: Hier wünsche
ich mir eine breitere Verteilung des Kapitals. Aber dieses setzt
voraus, dass wir ein höheres Wachstum haben und mehr Arbeitsplätze.
die Menschen brauchen Hoffnung für die Zukunft und nicht Hoffnungslosigkeit.
Dies Versuche ich politisch zu erreichen. Privat versuche ich; meine
Kinder davon zu überzeugen, dass die Perspektive für ihr
Leben Hoffnung und nicht Hoffnungslosigkeit ist.

Moderatorin: Unsere Zeit ist bereits
um. Vielen Dank an alle User für das große Interesse.
Etliche Fragen sind leider unbeantwortet geblieben. Vielen Dank,
Herr Thiele, dass Sie sich Zeit für den Chat genommen haben.
Das Transkript dieses Chats finden Sie auf den Seiten der Veranstalter.
Den nächsten Chat gibt es am Montag, den 7. März, ab 13.00
Uhr mit Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Am 8. März
ist der Grünen-Politiker Rezzo Schlauch im Chat. Das tacheles.02-Team
wünscht allen noch einen angenehmen Tag!

Carl-Ludwig Thiele: Auch ich wünsche
einen angenehmen Tag und weiter viel Interesse an der Politik. Politik
kann sich nur ändern, wenn die Bürger sich engagieren.
Hierum bitte ich Sie.