Am Mittwoch, 17. Oktober, war Stefan Niggemeier, Diplom-Journalist und Mitbegründer des BILDblog, zu Gast im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de. Er erklärte, ob der Deutsche Pressrat noch wirkungsvoll ist und wie Weblogs Massenmedien beeinflussen können.

 

Moderator: Guten Tag und herzlich willkommen im
tagesschau-Chat. Heute zu Gast im ARD-Hauptstadtstudio ist Stefan
Niggemeier, freier Medienjournalist und Bildblogger – jenes
Blog, das durch seine kritischen "Notizen über eine große
deutschen Boulevardzeitung" zum meistgelesenen Weblog in Deutschland
avancierte. Wir wollen im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital
heute über Missstände im Journalismus chatten, Kontrollinstanzen
wie den Deutschen Presserat hinterfragen und über die Möglichkeiten
von kleinen Weblogs diskutieren, im großen Medienkonzert mitzuspielen.
Herr Niggemeier, können wir loslegen?

Stefan Niggemeier: Ich bin bereit und gespannt.
Hallo zusammen!

Stefan Niggemeier
Stefan Niggemeier,
Medienjournalist

Maddin: Warum gibt es zu wenig richtig investigativen
Journalismus in Deutschland, warum werden nur Agenturmeldungen als
Neuigkeiten verbreitet?

Stefan Niggemeier: Vor allem natürlich, weil
es billiger ist. Es kostet viel mehr Geld, selbst zu recherchieren,
als Agenturmeldungen einzukaufen. Erschwerend kommt aber auch eine
gewisse Bequemlichkeit hinzu. Manchmal habe ich schon auch das Gefühl,
dass deutsche Journalisten nicht einmal fünf Minuten investieren,
selbst etwas nachzugucken.

mr_raspberry: Fehlt es den Medien an Fachjournalisten?
Gerade wenn man in einem Bereich arbeitet (z.B. IT) fällt oft
auf, dass ein Umstand nur unzureichend oder manchmal sogar falsch
wiedergegeben wird. Und wie soll eine Kontrolle solch spezifischer
Artikel durch den Presserat überhaupt möglich sein, denn
eventuell wirkt durch die falsche Aussage ein Artikel sogar geschäftsschädigend.

Stefan Niggemeier: Ja, bestimmt täte es den
Medien gut, wenn es nicht nur Generalisten unter den Journalisten
gäbe, die sich mit allem ein bisschen auskennen und mit nichts
wirklich. Ich glaube, das ist schon deshalb wichtig, weil es auf
Seiten von Lobbyorganisationen solche Spezialisierungen gibt. Da
gibt es sicher ein ungutes Ungleichgewicht. Aber der Presserat ist
bestimmt überfordert damit. Aber der ist ja schon mit kleineren
Problemen überfordert 😉

Wolf: Der Deutsche Presserat beschäftigt
sich ausschließlich mit Printmedien und verfügt über
keine echten Sanktionsmittel. Für TV, Hörfunk und Internet
gibt es sogar gar keine aktiven Kontrollinstanzen. Dabei sind Verstöße
gegen Pressekodex und Presserecht in allen Medienformen an der Tagesordnung.
Sollte man Medieninhalte nicht intensiver kontrollieren und Verstöße
gegen Kodex und Recht härter sanktionieren, um ein Mindestmaß
an Qualität zu sichern?

Stefan Niggemeier: Klare Antwort: Ja. Aber sobald
es dann an die Frage geht, wie genau das geschehen soll, wer kontrolliert
und was die Sanktionen wären, wird es natürlich knifflig.
Das System der freiwilligen Selbstkontrolle haben wir ja auch deshalb
in Deutschland, weil es gute Gründe gibt, den Staat aus der
Kontrolle der Medien herauszuhalten. Für TV und Radio gibt
es Kontrollinstanzen; am größten ist der Bedarf wohl
im Online-Bereich, wo man zum Beispiel sieht, dass die Trennung
von Werbung und Redaktion fast gar nicht existiert.

Plümmo: Sind Blogs eine wirksamere Kontrollinstanz
als der Presserat?

Stefan Niggemeier: Alles ist eine wirksamere Kontrolle
als der Presserat. Im Ernst: Ich glaube, die schärfste Waffe
ist die Öffentlichkeit. Davon macht der Presserat kaum Gebrauch.
Insofern können Blogs schon sehr wirksam sein, weil sie dafür
sorgen, dass Fehler und Missstände von vielen Leuten wahrgenommen
werden.

jjev: Braucht der Presserat ein eigenes Watchblog
(wie Bildblog)?

Stefan Niggemeier: Sehr gute Idee. Bei Bildblog
dokumentieren wir (quasi nebenbei) ja schon häufiger die Schwächen
und Probleme des Presserates. Aber das wäre wunderbar, wenn
sich jemand darauf spezialisieren würde. Und, jede Wette: Es
hätte Wirkung!

Gregor: Wenn Sie beschreiben, dass richtige Recherche
selbst für Massenmedien zu teuer ist, glauben Sie dann an die
Möglichkeit, dass (private) Blogs eine Besserung bringen können?

Stefan Niggemeier: Gute Frage. Ersetzen können
Blogs die Massenmedien nicht, und gerade die aufwändige Recherche
ist zumindest theoretisch etwas, wo sie nicht mithalten können.
Ich glaube aber, dass Blogs Massenmedien antreiben können,
besser zu werden. Und wenn es darum geht, tatsächlich vor Ort
zu sein, als Betroffener zu berichten oder in einem Spezialgebiet
in die Tiefe zu gehen, da können Blogs schon eine Bereicherung
sein. Und auch ein Ansporn für Massenmedien, sich nicht die
Butter vom Brot nehmen zu lassen.

weltbuehner: Kann wirklich Kontroverses in den
führenden Printmedien überhaupt thematisiert werden? Oder
gibt es hier eine Art "verordnete Selbstzensur", die dem
einzelnen Journalisten vergleichsweise wenig Freiräume lässt?

Stefan Niggemeier: Eine "verordnete Selbstzensur"
würde ich nicht sagen, aber es gibt schon die Schere im Kopf.
Am gefährlichsten ist wohl so eine Art Seilschaft unter den
führenden Medien im Land, wo die Chefredakteure gegenseitig
eine Art Nichtangriffspakt geschlossen haben. Medienkritik hat es
seit ein paar Jahren – seit der großen Zeitungskrise mit vielen
Entlassungen – besonders schwer. Die Überzeugung, dass es gut
ist, wenn Medien sich gegenseitig kritisieren, hat es seitdem schwer.

Michael: Reagiert der Presserat eigentlich noch
auf Kritik? Oder ist das eher eine eingefahrene Maschinerie, wo
keiner dem anderen die Hand abhackt?

Stefan Niggemeier: Nach meiner Erfahrung reagiert
der Presserat auf Kritik nur genervt. Seine Mittel sind sehr begrenzt,
und irgendwie hat er sich in dem Gefühl eingekuschelt, dass
es gut und wichtig ist, dass es ihn gibt, und dass er lieber niemandem
wirklich wehtut.

herbaliser: Wenn man dem Presserat "Zahnlosigkeit"
bescheinigt, auf welche Weise sollte er denn Ihrer Meinung nach
zubeißen können, damit es dem Gebissenen auch wehtut?

Stefan Niggemeier: Wie gesagt: Vor allem schon
durch Öffentlichkeit. Dadurch, dass die eigenen Entscheidungen
viel detaillierter öffentlich gemacht werden, auch die vielen
"Hinweise" und "Missbilligungen", die ausgesprochen
werden und die im Gegensatz zu "Rügen" nicht abgedruckt
werden müssen. Wenn man im Detail zum Beispiel dokumentieren
könnte, wie oft "Bild" gegen das Gebot verstößt,
bei Selbstmorden extrem zurückhaltend zu berichten, hätte
das schon eine Wirkung. Dafür bräuchte man noch nicht
einmal über Geldstrafen o.ä. nachdenken.

Janus: Bild-Zeitung lesen, ja oder nein? Auf der
einen Seite erfährt man so etwas, darüber, was ein Großteil
der Bundesbürger liest und damit denkt; auf der anderen Seite
unterstützt man mit dem Lesen (auch wenn es nur online ist)
das System Bild-Zeitung.

Stefan Niggemeier: Lesen als Journalist: unbedingt
ja! "Bild" hat immer noch über elf Millionen Leser
täglich – das ist eine Größe, die sonst nur noch
"Wetten dass" und Fußball erreichen. Man muss "Bild"
als Journalist, Politiker, Unternehmer etc. lesen, um zu wissen,
was diese Leute bewegt, welche Themen "Bild" setzt usw.
Wenn man aber nicht beruflich davon betroffen ist: Finger weg von
dem Blatt 🙂

oportugues: Machen Sie mit Ihrem gut gemeinten
Bildblog nicht auch indirekt Werbung für die Bild-Zeitung?

Stefan Niggemeier: Nein. In einem Punkt allerdings
sind wir der Meinung von "Bild": "Bild" ist
wichtig, hat Macht und Einfluss. Diesen Eindruck verstärken
wir vielleicht noch durch unsere Beschäftigung mit "Bild".
Nur insofern ist es vielleicht "Werbung". Aber im übrigen
würde ich es "Aufklärung" nennen: Weil wir doch
zeigen, wie fehlerhaft, irreführend und verantwortungslos diese
Zeitung ist.

tomtom: Haben Sie das Gefühl, dass sie bei
der Bild-Zeitung eine Veränderung der journalistischen Arbeit
erreicht haben. Falls nein, hoffen Sie auf längere Sicht diese
Wirkung zu erzielen?

Stefan Niggemeier: Ich glaube nicht, dass wir
da eine große Wirkung erreicht haben. Das ist aber auch nicht
unser Ziel. "Bild" ist, wie sie ist, weil sie so sein
will. Weil ihr die Wahrheit im Zweifelsfall egal ist. Wir zielen
mit Bildblog nicht auf "Bild", sondern die Leser, die
Öffentlichkeit. Wollen deren Wahrnehmung von "Bild"
verändern. Eine Ausnahme gibt es vielleicht doch: Wenn man
sich Bild.de anguckt, gibt es da viel weniger Schleichwerbung als
vor ein, zwei Jahren. Vielleicht haben wir daran mit unserer ausführlichen
Berichterstattung zu dem Thema, doch auch einen Anteil .

enigma: Beim Studentenjob letzten Sommer am Fließband
einer großen Firma lasen die Arbeiter um mich herum allesamt
ernsthaft die Bild. Keiner würde die Zeitung anzweifeln oder
hatte gar von Bildblog gehört. Wie kann man diese Hauptzielgruppe
der Zeitung erreichen, um Bild zu schwächen? Für den Blog
ist eine gewisse Grundbildung vonnöten, aber wer diese hat,
wird sowieso keine Bild lesen…

Stefan Niggemeier: Das glaube ich nicht. "Bild"
wird nicht nur von den Dummen gelesen. Heerscharen von Journalisten
z.B. glauben, was in "Bild" steht, und schreiben es ab.
Wie man die Masse der Leute erreichen kann, die vielleicht auch
nicht im Internet unterwegs sind? Ich weiß es nicht. Aber
es gibt Bildblog-Leser, die uns erzählen, wie sie einzelne
Einträge ausdrucken und ihren Kollegen in der Mittagspause
hinlegen. Es ist nicht völlig hoffnungslos.

Michael: Ich habe früher die Bücher
von Günter Walraff in Bezug auf die Bildzeitung gelesen. Vergleicht
man diese sehr alten Artikel und ihre Machart mit den Blogs von
Ihnen, habe ich das Gefühl, dass Bild sich in seiner Berichterstattung
nicht verändert hat. Sehen Sie das auch so?

Stefan Niggemeier: Ja. Ich glaube, "Bild"
ist weniger ideologisch als früher, etwas mehr pragmatisch.
Aber was die Methoden angeht, die Art, wie "Bild" Tatsachen
verdreht, da wundert es mich auch immer wieder, wie wenig sich anscheinend
verändert hat. Was den Umgang mit Personen angeht, mit Persönlichkeitsrechten,
mit Prominenten und Nicht-Prominenten, die Opfer von "Bild"
werden, da hat sich wenig verändert.

montagsmaler: Was halten Sie vom Leserbeirat der
Bildzeitung?

Stefan Niggemeier: Ein schöner PR-Gag.

hemabe: Warum werden auf Bildblog aber auch manchmal
im privaten Blog keine Kommentare erlaubt?

Stefan Niggemeier: Ich sehe in meinem Blog, was
nur ungefähr ein Zehntel so viel Leser hat wie Bildblog, wie
viel Arbeit das macht, die Kommentare zu moderieren. Ich habe mehrere
Verfahren, wo eine Firma gegen mich vorgeht, wegen Kommentaren,
die Leute bei mir abgegeben haben. Das wäre extrem wichtig
bei Bildblog, wo es ja auch fast immer um heikle Themen gibt, und
extrem mühsam. Und am Ende weiß ich gar nicht, ob die
Leser so viel davon hätten: Wer liest sich das wirklich durch,
die Hunderte Kommentare, die oft unter Artikeln bei großen
Medien stehen? Entsteht da wirklich eine fruchtbare Diskussion?
Ich bin mir nicht sicher.

John: Finden Sie es problematisch, dass durch
den Bildblog der Eindruck erweckt wird, dass all das was im Bildblog
nicht erwähnt wird, seine Richtigkeit hat – obwohl es auch
nur daran liegen kann, dass dem Bildblog für Recherchen Kapazitäten
fehlten?

Stefan Niggemeier: Ja, wenn Leute das so wahrnehmen,
ist das ein Problem. Ich zucke auch immer zusammen, wenn ich irgendwo
lese "Da werden alle Fehler von "Bild" aufgelistet"
oder so. Wir werden oft gefragt, was denn der schlimmste "Bild"-Fehler
war. Und wir antworten immer: Im Zweifelsfall der, den wir gar nicht
entdeckt haben. Gerade von den wirklich schlimmen Geschichten, wo
irgendeinem Nicht-Prominenten unrecht geschieht, der sich aber nicht
wehrt, erfahren wir ja oft nicht.

guest: Glauben Sie wirklich, dass Bildleser glauben,
was in der Bild steht? Ist es nicht eher so, dass die Leute die
Zeitung nur als Unterhaltung sehen?

Stefan Niggemeier: Ich bin sicher, dass "Bild"-Leser
glauben, was in "Bild" steht. Wie gesagt: Journalisten
glauben es. Politiker glauben es, und ändern sogar Gesetze
deswegen. An der Leserbriefspalte in "Bild" sieht man,
wie Leute es glauben. Bestimmt gibt es auch das Unterhaltungsbedürfnis,
und ich glaube, dass "Bild"-Artikel über die bevorstehende
Apokalypse durch Marsmenschen auch keine Massenpanik auslösen
würde, sondern eher Massenschmunzeln. Aber auch da gibt es
sicher Leute, die sagen: Gut, dass es eine Zeitung gibt, die uns
die Wahrheit sagt über die Bedrohung durch Außerirdische.

Philipp: Könnten Sie sich vorstellen, sich
mit BILD-Chef Kai Diekmann mal "auf ein Bier" zu treffen?

Stefan Niggemeier: Klar. Ich kann mir nur nicht
vorstellen, dass das irgendetwas ändern würde.

mikethebike: Oma sagt: Wenn das nicht stimmt,
was in der Bild steht, wieso stand das dann auch in Tageszeitung
xy? Womit sie nicht ganz unrecht hat. Ist das Problem nicht primär
die Bild, sondern die anderen Medien, die dauernd ungeprüft
abschreiben und Bild ständig zitieren?

Stefan Niggemeier: Absolut. Wir schreiben das
auch inzwischen häufig dazu, wenn andere Medien irgendwelchen
Unsinn von "Bild" weiter tragen oder sogar noch weiter
verdrehen.

Rudi: Wovon lebt eigentlich ein Blogger?

Stefan Niggemeier: In den meisten Fällen
vermutlich von einem Beruf, der mit dem Bloggen nichts zu tun hat.
Bei Bildblog leben wir inzwischen von Werbung. Das ist nicht üppig,
aber es reicht. Und sogar mein privates Blog wirft inzwischen etwas
Einnahmen durch Anzeigen ab.

scp: Wie schätzen Sie im Hinblick auf zahlreiche
Abmahnungen und der Rechtsprechung des Hamburger Landgerichtes (insbesondere
im Bezug auf die Call-In-TV Debatte), die Zukunft der Pressefreiheit
in Deutschland ein? Darf man wirklich über alles berichten
oder gilt das nur so lange, wie man sich einen guten Anwalt leisten
kann?

Stefan Niggemeier: Schwierig. Im Moment habe ich
eher das Gefühl, dass man ohne Geld für den Anwalt sich
sehr zurückhalten muss. Ich habe aber die Hoffnung, dass sich
die Rechtsprechung da noch ausdifferenziert. Natürlich ist
es richtig, dass in Blogs nicht andere Gesetze gelten als sonst.
Natürlich darf ich niemanden beleidigen oder Unwahres über
ihn berichten. Aber ich habe auch das Gefühl, dass es im Moment
in Deutschland zu leicht ist, auch nur unliebsame Berichte im Internet
durch Abmahnungen zu unterdrücken.

Mimi: Wie fanden Sie die Reaktion der deutschen
Print- und Online-Medien auf den "Eva-Herman-Skandal"?
Hat sich hier nicht so etwas wie eine öffentliche Kontrollinstanz
entwickelt (in Internetforen, Blogs, Leserkommentaren et cetera)?

Stefan Niggemeier: Das ist schwierig in ein paar
Sätzen zu beantworten. Aber tatsächlich ist es frappierend,
wie massiv sich die Verteidiger von Eva Herman in Kommentaren, Foren
etc. zu Wort gemeldet haben. Ich gebe zu, mir ist das in diesem
Fall eher unheimlich, weil ich glaube, dass der Eindruck falsch
ist, dass man in Deutschland einfach nichts über das Dritte
Reich sagen darf. Aber es ist sicher gut, wenn Journalisten, die
oft in einer eigenen Medienwelt leben, merken, wenn sich die Sicht
in dieser Welt drastisch von der außerhalb unterscheidet.

Gregor Keuschnig: Gestern hat eine Politikerin
(Frau von der Leyen) eine Laudatio auf eine noch aktive Journalistin
(Frau Will) gehalten. Geht so was nicht schon zu weit?

Stefan Niggemeier: Weiß ich nicht. Ist sicher
nicht ideal. Andererseits passiert es ja in aller Öffentlichkeit.
Da finde ich den Gedanken bedrohlicher, was Journalisten und Politiker
im Verborgenen miteinander auskungeln.

satyricon: Hat das Bild des unabhängigen
Journalisten noch viel mit der Realität zu tun – angesichts
der zunehmenden Konzentration des Medienmarktes und der Gebundenheit
von Medien an wirtschaftliche und politische Interessen?

Stefan Niggemeier: Viel mit der Realität
zu tun hatte das Bild des unabhängigen Journalisten vermutlich
noch nie. Wirtschaftliche Zwänge, politische Einflüsse
etc. gab es schon immer. Ja: Ich habe auch das Gefühl, dass
das gerade eher schlechter als besser wird. Aber da bietet das Internet
mit seinen Publikationsmöglichkeiten ja wirklich Alternativen.
Früher hätten wir mit so was wie Bildblog nie 50.000 Leute
täglich erreichen können. Die Chance, dass Dinge an die
Öffentlichkeit kommen, die die klassischen Medien mehr oder
weniger bewusst nicht veröffentlichen, steigt dadurch. Sowohl
was die großen Skandale angeht, als auch "kleine"
Dinge irgendwo vor Ort, die die Lokalzeitung lieber verschweigen
würde.

Lotus: Viele PR-Agenturen haben längst erkannt,
dass Redakteure aufwändige Recherchen aus unterschiedlichen
Gründen vermeiden. Wie groß bewerten Sie die Gefahr,
dass Berichterstattung zukünftig von dem Geschick bezahlter
Öffentlichkeitsarbeit abhängt? Reicht es aus, an die Eigenverantwortlichkeit
der Journalisten zu appellieren?

Stefan Niggemeier: Die Gefahr ist sicherlich groß.
Und natürlich reicht ein Appell an die Journalisten nicht aus.
Sie müssen auch die Mittel bekommen, sich dem zu entziehen:
Durch eine gute Ausbildung, gute Bezahlung, Zeit, Dinge nachzurecherchieren.

Christoph B: Halten Sie den Ansatz von Google
für Richtig, eine Kombination von Blog und Nachrichtenübermittlung
anzubieten, bei der Blogger, aber auch Betroffene selbst die News
kommentieren können?

Stefan Niggemeier: Das ist zwiespältig, das
müsste man sehen, wie das in der Praxis funktioniert. Ich finde
grundsätzlich die Idee nicht schlecht, dass Betroffene widersprechen
können, wenn über sie in den Medien berichtet wird. Aber
natürlich vergrößert das auch die Gefahr, dass die
Leute desinformiert werden. Ich glaube, die beste Antwort darauf
wäre, dass Medien selbst den Betroffenen die Möglichkeit
zur Widerrede einräumen. Korrekturspalten einführen usw.

mr_raspberry: Haben die Nachrichtenagenturen zu
viel Macht in der Medienlandschaft bekommen?

metroskop: Die Themen liegen doch massenweise
auf der Straße – warum gibt es trotzdem in allen Medien so
eine ungeheure dpa- und Bild-Hörigkeit?

Stefan Niggemeier: Ja, ich glaube, die Abhängigkeit
von Nachrichtenagenturen ist viel zu groß, und Online wird
das alles gerade noch schlimmer. Weil es so bequem ist: Man kauft
sich die Inhalte ein, und kann ohne eigene journalistische Kompetenz
ein Portal aufbauen, das aussieht wie eine eigene Nachrichtenseite.
Noch schlimmer wird es, wenn sich da nicht nur Agentur- und schnell
umstrickte "Bild"-Meldungen, sondern auch noch PR-Berichte
mischen.

Abul ben Bulatsch: Haben anspruchsvolle Tageszeitungen
in Deutschland eine Zukunft oder wird sich der Markt hier zum Nachteil
der Pressefreiheit stark konzentrieren?

Stefan Niggemeier: Ich bin sicher, dass anspruchsvolle
Tageszeitungen eine Zukunft haben (wobei es fast egal ist, ob die
dann auf Papier erscheinen oder in irgendeiner Form digital). Ich
glaube, dass genau das die Chance ist für die etablierten Medien:
Dass sie dadurch, dass sie Leute beschäftigen, die sich auskennen,
ihnen die Zeit geben, gründlich zu recherchieren, das ganze
so redigieren, dass es verständlich und gut zu lesen ist, und
das alles mit Inhalten, die relevant sind, dass sie dadurch ihre
Existenzberechtigung beweisen.

yingyang: Wenn man die Meinungs- und Kommentarseiten
in den großen Tageszeitungen liest, bekommt man oft den Eindruck
von uniformer "Urteilsbildung", speziell zu brisanten
Themen, die an deutsch-historisch bedingte Tabus rühren (Rechtsextremismus,
Israelfeindlichkeit et cetera). Auf einer Blog-Seite eines "Welt"-Journalisten
las ich kürzlich, dass man empfindlichen Karriereeinbußen
rechnen muss, schreibt man abseits des politisch korrekten Mainstreams.
Teilen Sie diese Ansicht? Ist die freie Meinungsäußerung
in Gefahr, gegen andere (geringere) Rechtsgüter, wenn sie der
Meinungsfreiheit im Wege stehen, aufgewogen zu werden?

Stefan Niggemeier: Ich weiß nicht, ob das
wirklich so ist. Sicher gibt es viele Leute, die offenbar glauben,
sie müssten sich anpassen, um erfolgreich zu sein. Aber ich
habe auch das Gefühl, dass es viele Leute gibt, die gerade
dadurch prominent sind und beachtet werden, dass sie sich darauf
spezialisiert haben, gegen den Strom zu schwimmen. Henryk M. Broder
ist ein Beispiel dafür. Ich bin oft anderer Meinung als er.
Aber er ist auch ein Beleg dafür, dass es sich auszahlt, zu
provozieren, Leute aus ihrer bequemen Haltung zu reißen. Das
ist gut.

Schabroenkel: Sie haben in Ihrem Blog schon oft
über Call-in-TV-Anbieter berichtet. Die augenfälligen
Verstöße der Anbieter bestehen aber nach wie vor mit
unveränderter Häufigkeit. Werden Sie sich weiter um dieses
Thema kümmern, oder lassen Sie sich durch Abmahnungen etc.
einschüchtern? Sehen Sie überhaupt eine Chance auf "Besserung"?

Stefan Niggemeier: Ich bin auch bei dem Thema
jemand, der unerschütterlich daran glaubt, dass es hilft, Dinge
öffentlich zu machen. Das ist mühsam, insbesondere wenn
die Kontrollinstanzen so träge verkrustete Bürokratien
sind wie die Landesmedienanstalten. Also, einschüchtern lasse
ich mich nicht. Im Gegenteil: Jede Abmahnung weckt bei mir auch
die Lust, der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Aber richtig
ist auch: Wenn man mal sieht, wie teuer und zeitaufwändig es
ist, sich mit solchen Rechtsstreitigkeiten rumzuschlagen, ist das
schon ernüchternd.

mikethebike: Wissen Sie, ob auch andere (Boulevard-)Medien
und Journalisten Bildblog nutzen, sozusagen als Vorinstanz, die
aufzeigt, welche "Fakten" gleich aus einer Geschichte
aussortiert werden kann? Oder besteht da eher kein Interesse, da
eine Geschichte dadurch "totrecherchiert" werden könnte?

Stefan Niggemeier: Das weiß ich nicht. Ich
glaube, wir werden von sehr, sehr vielen Journalisten gelesen, gerade
von denen, die viel mit Boulevardthemen zu tun haben. Es gibt auch
einzelne Beispiele, wo die gerade daraus ein Thema gemacht haben,
dass "Bild" falsch lag. Aber ob wir wirklich die Vorrecherche
ersetzen können, wage ich zu bezweifeln.

Moderator: Unsere Zeit ist gleich um. Zeit für
eine letzte Frage:

rosid: Warum hat Ihr Blog keine Katzenbilder?

Stefan Niggemeier: Die Kollegen hier sagen, ich
muss erstmal die Frage erklären. "Katzenbilder" sind
(oder waren) so der klassische Blog-Inhalt. Oder jedenfalls das,
was Blog-Gegner glauben, woraus Blogs im Allgemeinen bestehen (von
wegen: total irrelevanter privater Mist). Also: Ich hab Schafbilder
im Blog! Schafbilder sind viel toller als Katzenbilder, weil Schafe
viel toller sind als Katzen. Punkt.

Moderator: Eine Stunde tagesschau-Chat ist leider
schon wieder um. Wir bedanken uns bei unseren Usern für die
zahlreichen Fragen und freuen uns, Sie beim nächsten Chat wieder
begrüßen zu dürfen. Unser besonderer Dank gilt Stefan
Niggemeier, der sich die Zeit genommen hat.