Am Dienstag, den 19.02.2008, war der Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowksy, im tagesschau-Chat in Zusammenarbeit mit politik-digital.de zu Gast. Er beschrieb die Schwierigkeiten und Chancen von Integrationspolitik und nannte Lösungsansätze, die in seinem Bezirk erprobt werden.
Moderator: Herzlich willkommen zum tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital. Mein Name ist Ulrich Bentele, ich begrüße Sie aus dem ARD-Hauptstadtstudio Berlin. Unser Gast ist heute Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln. Von dort ist er uns auch zugeschaltet. Mit ihm wollen wir eine Stunde lang über eines der drängendsten gesellschaftspolitischen Themen diskutieren, die Integration von Ausländern. Herr Buschkowsky, sind Sie bereit?
Heinz Buschkowsky: Ja!
Moderator: Neukölln gilt Vielen in Berlin als der Problembezirk schlechthin: hohe Arbeitslosigkeit, viel Jugendgewalt, fortschreitende Ghettoisierung. Herr Buschkowsky, können Sie all das überhaupt noch hören? Oder andersherum gefragt: Sie sind in Neukölln geboren, was macht den Bezirk trotz der vielen Probleme für Sie persönlich liebens- und lebenswert?
Heinz Buschkowsky: Neukölln ist mehr als die Summe seiner Probleme. Es ist die Heimat von 300.000 Menschen. Wir haben ein eigenes Schloss, eine eigene Oper, die beste und größte Las-Vegas-Show außerhalb der USA, den schönsten modernen Park Deutschlands mit einer Million zahlenden Besucher im Jahr und und und. Den Werbeblock könnte ich bis 13:30 Uhr verlängern.
ischep: Denken Sie, dass Neukölln nach all den Negativschlagzeilen in einigen Jahren als positives Beispiel für Integration wieder durch die Medien gehen kann? Welche Anstrengungen gibt es dafür?
Heinz Buschkowsky: Ich denke schon. Wir arbeiten an vielen innovativen Vorhaben zum Thema Integration: Stadtteilmitte, Bürger helfen Bürgern, Mitmachzirkus, Campus Rütli.
Wir haben uns in Neukölln entschlossen, eine erlebbare und an den Situationen des Alltags orientierte Integrationspolitik zu betreiben. Der philosophische Ansatz steht bei uns nicht im Vordergrund.
Gründe für Neuköllns Probleme
ischep: Führen Sie die sozialen Probleme Neuköllns primär auf den hohen Migrantenanteil zurück?
Heinz Buschkowsky: Es ist sicherlich die Kombination aus hohem Migrantenanteil, insbesondere niedrig qualifizierter ehemaliger „Gastarbeiter" und dem Rückgang der Wirtschaft nach der Abschaffung des "Berlinförderungsgesetzes". Neukölln war als Standort der Nahrungsmittelindustrie hoch subventioniert. Hier sind zehntausende von Arbeitsplätzen verloren gegangen. Deshalb auch ein wirtschaftlicher Absturz, gerade bei den Migrantenfamilien.
MM: Warum fällt es jungen Arabern und Türken so schwer, sich – im Gegensatz zu anderen Ethnien – mit einem Minimum unserer Kultur anzupassen? Gleichzeitig kritisieren sie unsere Gesellschaft hart und mit wenig Verständnis (Sprache, Gesetze, Schwule, Glauben). Wo liegt die Wurzel des Übels?
Heinz Buschkowsky: Ich glaube, dass viele Elternhäuser nicht wirklich im Wertesystem Mitteleuropas angekommen sind. In vielen Familien werden die tradierten Rollenmuster aus dem heimatlichen Dorf weitergelebt. Die Familien kommen häufig aus Gegenden ohne zentrale Instanzen, wie staatliche Ordnung, Schulpflicht, Polizei, Gerichte. Und dort ist auch heute noch das "Faustrecht" ein Überlebensgesetz.
Bürknerstraße: Wie wollen Sie es verhindern, dass sich Neuköllner deutscher Abstammung immer fremder in ihrem Bezirk fühlen?
Heinz Buschkowsky: Die Zukunft Neuköllns – aber auch aller anderen gleich strukturierten Ballungsgebiete – wird multiethnisch sein. Das ist Biologie und nicht Politik. In Neukölln-Nord leben heute ca. 50% Menschen mit Migrationshintergrund. In unseren Schulen sind es 80% bis 100%. Die Bevölkerungszusammensetzung in zehn Jahren ist also völlig klar und wir müssen heute organisieren, dass alle diese Menschen sich auch in zehn Jahren als Nachbarn fühlen – in Neukölln Menschen aus 163 Nationen.
spürpilot: Hallo Herr Buschkowsky, vielen Dank, dass Sie sich online einzelnen Fragen stellen. Die Vorfälle an der Rütli-Hauptschule haben ganz Deutschland aufhorchen lassen. Wie sieht die Situation an diesem Brennpunkt heute aus und wurden Maßnahmen ergriffen, ähnliche Situationen in den Griff zu bekommen?
Heinz Buschkowsky: Gerade mit dem Projekt "Campus Rütli" wollen wir modellhaft eine andere Lebensform in ethnisch und sozial segregierten Gebieten ausprobieren. Wir müssen einfach auf andere Lebensphilosophien – auch im praktischen Leben – eingehen. Wir dürfen nicht alles immer nur mit unserer bürgerlichen deutschen Sicht versuchen wollen zu erklären.
Moderator: Was steckt hinter dem Begriff "Campus Rütli"?
Heinz Buschkowsky: "Campus Rütli" ist ein Gebiet rund um die bisherige Rütli-Schule, ca. 50.000m². Wir wollen dort alle Formen des öffentlichen Lebens auf dem Grundstück vereinigen, also Krippe, Kindergarten, Grundschule, Oberschule, Sekundarstufe II, Freizeitangebot, Jugendclub, Volkshochschule. Es soll also für dieses Wohngebiet von 5.000 Menschen ein zentraler Ort des gemeinschaftlichen Lebens sein. Wir wollen nicht mehr separieren – also der eine geht auf die Hauptschule, der andere ins Gymnasium fünf Straßen weiter – sondern wir wollen, dass alle sozialen Kompetenzen gebündelt im Wohngebiet gemeinsam aufwachsen. Das ist ein Ansatz, der so noch nicht probiert worden ist. Der Ansatz ist sehr ehrgeizig und wird auch Geld kosten. Aber nur Versuch macht klug.
Wachschutz an Schulen
Christoph: Welche Bilanz ziehen Sie aus der Überwachung der Schulen durch den Bielefelder Sicherheitsdienst Germania? War das Unterfangen aus ihrer Sicht bisher sinnvoll, notwendig und sollte fortgeführt werden? Vielleicht sogar als Beispielmodell für andere Schulen?
Heinz Buschkowsky: Bisher ist der Versuch erfolgreich. Es gab keinerlei negative Vorfälle. Es gab auch bisher nicht einen Gewaltvorfall, der von außen in diese Schulen hineingetragen wurde. Das war das Ziel der Maßnahme. Und es ist auch eine Botschaft an diejenigen im Gebiet, die ihre Hände nicht am eigenen Körper lassen können: "Hier an dieser Schultür ist für dich Schluss – hier werden Schwächere geschützt!". Bisher ist die Wirkung so, wie wir sie haben wollen.
ischep: Betrachten sie den privaten Wachschutz an Neuköllner Schulen als eine kurzfristige Notlösung oder kann dieser Zustand Normalität an einigen Schulen werden?
Heinz Buschkowsky: Wenn der Staat nicht das Geld oder die Kapazitäten hat, seine beschützende Aufgabe – zum Beispiel durch die Polizei – wahrzunehmen, werden wir so schnell von Wachschutz in Gebieten, wo von außen Gewalt in den Schulalltag hinein getragen wird, nicht wegkommen – aber warum auch? Auch Bundesbehörden, das Kanzleramt, Polizeidienststellen, die Parteitage der Parteien lassen sich durch Wachschutz schützen. Und da, wo Kinder gefährdet sind, gilt das nicht?
"Gewalt produziert Gewalt"
109nbn: Vielfach wird gerade in Bezug auf Neukölln von einer "Ghettoisierung" gesprochen. Hat diese Problematik schon Ausmaße der französischen "Banlieues" erreicht oder hat der, der von einer Ghetttoisierung in Berlin spricht, einfach keine Ahnung?
Heinz Buschkowsky: Von einem Ghetto zu sprechen, ist Unsinn hoch drei. Wir haben hier Probleme, ja. Aber das man sich nicht auf die Straße trauen kann, ist einfach Quatsch.
rollo: Wie sieht es denn derzeit mit Gewalt in den Schulen aus?
Heinz Buschkowsky: Es gibt gerade bei jungen Männern und natürlich auch bei migrantischen jungen Männern eine zunehmende Gewaltbereitschaft. Warum "natürlich bei migrantischen jungen Männern"? Das hat etwas mit der stärkeren Akzeptanz von Gewalt in Familien und bei der Erziehung in orientalischen Familien zu tun.
Gewalt produziert Gewalt. 85% aller Gewalttäter sind in ihrem bisherigen Leben selbst Opfer von Gewalt gewesen. Und wer gelernt hat, dass man mit der Anwendung von Gewalt nicht mehr diskutieren braucht, der übt diese Form der Durchsetzung auch aus.
Olga: Halten sie es für angemessen, wenn die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries mit einem Bildreporter durch Ihren Stadtteil fährt, um Jugendgewalt live mitzuerleben? Ist so etwas nicht eher kontraproduktiv?
Heinz Buschkowsky: Hat sie das wirklich in Neukölln gemacht? Wenn ja, halte ich das für völlig daneben. Man kann Jugendgewalt nicht "erleben".
Moderator: Eine Anmerkung von Olga:
Olga: Zu Bild / Zypries: Ja, im Januar ist Zypries mit einem Reporter der Bildzeitung vom Herrmannplatz aus in "Berlins gefährlichster U-Bahn", der U8, durch Neukölln gefahren.
Heinz Buschkowsky: Antwort: Das hat offensichtlich nicht viel geholfen.
alexkurtz: Hallo Herr Buschkowsky, der „Campus Rütli" ist kostspielig wie Sie selbst sagen. Ich denke viele Schüler würden sich ein solches Freizeitangebot an ihrer Schule wünschen. Überspitzt könnte man sagen, die „Braven" bleiben weiter in ihren heruntergekommenen Schulen sitzen, während die "Täter" eine beneidenswerte Schule hingestellt bekommen. Wie reagieren sie auf so einen Vorwurf?
Heinz Buschkowsky: Naja, die "Täter", wie Sie sie nennen, werden davon nichts mehr haben. Die sind dann nicht mehr an der Schule. Der Rütli-Vorfall war vor zwei Jahren und "Campus Rütli" wird in drei Jahren fertig sein. Natürlich ist Ihre Frage im Kern nicht ganz unberechtigt. Aber man muss doch Dinge ausprobieren, um zu schauen, ob sie funktionieren und ob das ein neuer Ansatz ist. Alles so lassen wie bisher, führt ins Chaos. Gebiete wie Neukölln müssen gezielt in die Zukunft geführt werden. Alles so laufen lassen, das war ja die Politik der letzten 40 Jahre und das Ergebnis sehen wir.
"Fremdsprachliche Schulen führen zur Separation"
tom: Könnten Sie sich eine türkische Schule, wie sie kürzlich vom türkischen Ministerpräsident Erdogan gefordert wurden, in Neukölln vorstellen? Und glauben Sie, dass solche Schulen einen positiven Beitrag zur Integration junger Türken bieten können?
Chantalle: Was halten sie von Erdogans Vorschlag, in Deutschland Gymnasien einzuführen, in denen der Unterricht auf Türkisch abgehalten wird?
Heinz Buschkowsky: Ich halte von diesem Vorschlag gar nichts. Schulen sind Stätten der Sozialisation und Integration. Rein fremdsprachliche Schulen führen aber zum Abtrennen, zur Separation, worin soll der Sinn liegen? Und das Beispiel der deutschen Schule in Istanbul geht völlig fehl, das ist eine Schule, auf der die Kinder der türkischen Oberschicht unterrichtet werden. Das ist kein Ansatz für die Basisbeschulung der Bevölkerung. In Neukölln leben 35.000 Menschen türkischer Abstammung. Wie viel türkische Schulen sollten es dann wohl sein? Das ist nicht die Zukunft Neuköllns.
kriminologe: Wie stehen Sie zu Vorschlägen einer Quotierung der Schülerschaft nach der familiären Herkunft, verbunden mit dem "Verschicken" von Schülern in andere Stadtteile? Ist so etwas eine erfolgversprechende und realistische Perspektive?
Heinz Buschkowsky: Das so genannte "Bussing" wird in anderen Ländern praktiziert. Es ist aber nie eine Einbahnstraße. Können Sie sich die Akzeptanz bei Eltern aus bürgerlichen Gebieten vorstellen, dass ihre Kinder in segregierte Gebiete gefahren werden? Wohl kaum.
Ich denke auch, Kinder sollten in sozialen Zusammenhängen beschult werden. In Deutschland ist "Bussing" nicht praktikabel und nicht durchsetzbar.
Radi: Sind Sie der Meinung, dass man sich in Deutschland frei und kritisch zu Zuwanderung äußern darf oder ist zumindest bei diesem Thema die Freiheit in Deutschland in der Praxis beschränkt? Sie haben ja selbst eigene Erfahrungen sammeln müssen.
Heinz Buschkowsky: „Freiheit beschränkt" ist zu stark formuliert. Man muss schon aufpassen, möglichst nicht "missverständlich" zu formulieren. Der Verstoß gegen die Political Correctness wird liebend gern benutzt, um von der Sache abzulenken. Bei uns gibt es durchaus noch eine Kultur des "Es kann nicht sein, was nicht sein darf".
Zippo: Was halten Sie von einer Politik der "harten Hand", wie Roland Koch sie in seinem Wahlkampf gefordert hat?
Heinz Buschkowsky: Ich kann mit solchen martialischen Begriffen wenig anfangen. Klar ist, dass wir auf Fehlentwicklungen klar und deutlich reagieren müssen. Das heißt, Serienstraftäter gehören hinter Schloss und Riegel. Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, müssen eine Reaktion der Gesellschaft spüren. Es sind nun einmal nicht alle Menschen gut und nicht alle Bürger mündig. Der Mensch ist, wie er ist. Gleichwohl ist Differenzierung noch immer das beste Mittel der Politik. Es kann nicht sein, dass zwei Schläger in München einen alten Mann traktieren und Deutschland diskutiert über sechzehn Millionen Mitbürger. Da stimmen die Gewichte nicht.
Walross: Fühlen Sie sich selber manchmal unwohl oder bedroht in Ihrem Bezirk? Nachts zum Beispiel?
Pingu1n: Ich komme selber aus Berlin und fühle mich selbst nachts in Neukölln nicht sicher – gerade an den Bahnhöfen und Nebenstraßen. Nehmen Sie da keine bedrohliche Atmosphäre wahr?
Heinz Buschkowsky: Nachts ist es auf Bahnhöfen, in dunklen Nebenstraßen und in Parks selten sicher. Hat mir schon meine Oma beigebracht. Aber Spaß beiseite: Natürlich gibt es die Situation, wo man lieber auf die andere Straßenseite geht oder den U-Bahnwagen wechselt. Auf diese Erscheinungen der Verwahrlosung haben wir bisher noch nicht wirklich eine Antwort gefunden.
Parallelgesellschaften in Deutschland
S aus L: Herr Buschkowsky, "Parallelgesellschaften" sind die große Angstvision deutscher Politiker. Trotzdem ist es eine Frage der Menschenwürde und Freiheit, sein Leben individuell zu gestalten. Wo sehen sie den notwendigen Kompromiss von staatlicher Seite?
Heinz Buschkowsky: Jeder mag nach seiner Fasson selig werden, hat schon der alte Fritz gesagt. Heute nennen wir das Toleranz. Aber muss der eigene Lebensentwurf auch eine abweichende Kultur von der der Mehrheitsgesellschaft wirklich zu einer Parallelgesellschaft führen? Parallelgesellschaften sind die, wo eigene Gesetze und eigene Regelwerke stärkere Beachtung finden als die Normen der gesamten Gesellschaft – und das dürfen wir nicht zulassen. Schulpflicht gilt zum Beispiel für alle.
Ralph: Welche Möglichkeiten sehen Sie denn bei offensichtlichen Bildungsverweigerern, also den "Schulschwänzern"?
Heinz Buschkowsky: Wenn Grundschulkinder nicht zur Schule kommen, stecken meist die Eltern dahinter, denn Kinder sind wissbegierig. Oft ist es so, dass andere Dinge den Erwachsenen wichtiger erscheinen: Die Flugtickets sind außerhalb der Ferien billiger, die Kinder sind Begleitung beim Einkauf, helfen in einer Behörde beim Übersetzen oder sie helfen bei der Pflege eines kranken Familienangehörigen. Aus anderer Sicht ist das vielleicht alles bedeutsamer als die Schule. Aber eben nicht in unserem System. Das heißt, es müssen Reaktionen erfolgen. Ich habe da eine ganz simple wahrscheinlich zu einfache Formel: "Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht auf das Konto". Das empfindlichste Körperteil des Menschen ist der Geldbeutel.
alexkurtz: In der öffentlichen Diskussion wird meinem Empfinden nach überwiegend über das angebliche Versagen der Gesellschaft geredet. Mittlerweile gilt es quasi als Fakt, dass wir keine Chancengleichheit haben. Für praktischen jeden Misserfolg eines Migranten wird zugleich die Gesellschaft verantwortlich gemacht. Müssten wir in der öffentlichen Diskussion nicht verstärkt auf die Selbstverantwortung des Einzelnen pochen (ohne dass dies bedeuten sollte, staatliche Anstrengungen zu verringern)?
Heinz Buschkowsky: Das ist richtig. Pauschale Schuldzuweisungen immer nur an die eine Seite sind falsch. Es ist ein Allgemeinplatz, dass die Gesellschaft integrationsbereit und aufnahmewillig sein muss, aber auch die Migranten sich wirklich als Teil der Gesellschaft verstehen.
Sie haben sich mit dem Gang in ein anderes Land auch für eine neue Heimat entschieden. Das sage ich jeden Monat zwei Mal bei den Einbürgerungsveranstaltungen hier im Rathaus. Irgendwann muss das Heimatdorf in den Koffer gepackt und nach Hause geschickt werden.
"Vorschulische Erziehung für viele Kinder zwingend erforderlich"
Watcher: Halten Sie es für sinnvoll, vor der Schule neben Sprachunterricht bereits eine Art "Werteunterricht" für Migrantenkinder einzuführen?
Heinz Buschkowsky: Im Bereich der Vorschule ist es schwierig, "Wissen" zu vermitteln. Die Aufnahmefähigkeit der Kinder ist begrenzt. Gleichwohl halte ich die vorschulische Erziehung im Kindergarten für viele Kinder für zwingend erforderlich. Ich bin für Kindergartenpflicht.
Ein Kind aus einer bildungsorientierten Familie kommt etwa mit 4.000 Stunden Vorlesezeit zur Schule, manche Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern mit 0. Ich glaube, das macht meinen Gedankenansatz klar: Wir müssen Defizite der Elternhäuser gesellschaftlich auffangen. Kinder sind das Produkt ihrer Umwelt.
Sonne: Welche Rolle spielen die Kirchen, um Probleme in Neukölln zu lösen. Sind sie hilfreich? Was würden sie sich wünschen?
Heinz Buschkowsky: Natürlich sind Kirchen hilfreich. Karitative und diakonische Arbeit ist Gemeinwesenarbeit. Aber: Es hilft auch nicht, die Augen davor zu verschließen, dass in einigen Gebieten mit starker migrantischer Bevölkerung die christlichen Kirchen die Minderheit unter den Gläubigen darstellen. Bei den Moschee-Vereinen haben wir häufig das Problem, dass sie eine sehr abgekapselte Rolle spielen und den Kontakt ins gesellschaftliche Leben der Mehrheitsgesellschaft nicht suchen.
109nbn: Denken Sie, dass unter türkischen Migranten die erste Generation integrierter ist als die nachfolgenden? Oder sind es gerade die Alten, die – bedingt durch ihre herrschende Rolle in der Familie – Integration blockieren?
Heinz Buschkowsky: Auch hier sind Pauschalisierungen ein dünnes Eis. Richtig ist aber, dass die erste Generation der "Gastarbeiter" sehr strebsam war – auch um einen gesellschaftlichen Aufstieg zu erreichen – und sie haben zumeist sehr darauf geachtet, dass ihre Kinder lernen und gute Schulabschlüsse machen. Der Leistungswille war in diesen Familien sehr stark ausgeprägt. Wir haben heute einen deutlichen Rückgang zu verzeichnen. Es ist so: Die dritte und jetzt auch die vierte Generation ist problematischer, einfach von ihrem Willen zum Einbringen in die Gesellschaft her.
109nbn: Die demografische Entwicklung könnte langfristig zu einer Verschiebung der kulturellen Gewichte in Deutschland führen (hohe Geburtenraten bei Migranten, niedrige bei Deutschen). Sollte Integration sich auch die Erhaltung der christlich-abendländischen Substanz Deutschlands und Europas zum Ziel setzen?
Heinz Buschkowsky: Ich glaube nicht, dass die christliche Substanz in Mitteleuropa gefährdet ist. Ich neige nicht zu den Horror-Meldungen der Islamisierung Europas oder des späten Siegs des Osmanischen Reiches. Aber es ist schon so, dass die Welt sich verändert. Die Grenzen haben eine geringere Bedeutung als früher und man kann von jedem Flughafen in wenigen Stunden an jedem Ort der Welt sein. Das wird zu multiethnischen Gesellschaften führen. Ich halte das auch nicht für ein Problem. Das Problem kann nur dann entstehen, wenn das Wertegefühl ins Wanken gerät.
Das heißt konkret: Wir müssen aufpassen, dass das, was unsere Vorväter an demokratischen und humanistischen Strukturen erarbeitet haben, nicht in Vergessenheit gerät.
Einfluss der Kommunalpolitik
ABC: Meines Erachtens wird der Einfluss, den Kommunalpolitik für eine verbesserte Integration leisten kann, überschätzt! Handelt es sich nicht vielmehr um eine gesamtpolitsche bzw. gesamtgesellschaftliche Aufgabe? Der Rahmen wird ja vorgegeben! Der Einfluss eines einzelnen Bezirks wird durch die föderalen Strukturen eher auf das lediglich Machbare "der vollendeten Tatsachen" begrenzt! Wie kann dies geändert werden?
Heinz Buschkowsky: Im Prinzip ist das richtig, aber Integration findet im Alltag vor Ort statt.
Das heißt, die Städte und die Gemeinden müssen sich schon einen Kopf machen, welche Atmosphäre des Zusammenlebens bei ihnen herrscht. Sonst stimmen die Menschen mit dem Möbelwagen ab. Und mit jedem Möbelwagen verlässt soziale Kompetenz das Gebiet.
Richtig ist aber, dass Veränderungen im Schulsystem, im Bereich der Justiz oder im Einbürgerungsrecht Aufgaben der Politik sind. Das Problem ist nur, dass die große Politik sehr zu philosophischen Betrachtungen neigt und praktische Fortschritte selten das Ergebnis von Gipfeln sind.
takschau: Was mich interessiert, ist ein bisschen anders: Es sind in Neukölln noch wenige (vielleicht keine) Sachbearbeiter und Beamten mit Migrationshintergrund zu sehen. Woran liegt das? Ich denke schon, dass gerade die Ämter prozentual die Verteillung der Völker darstellen müssen.
Heinz Buschkowsky: Der Anteil von migrantischen Mitarbeitern in der Verwaltung ist eindeutig zu niedrig. aber in meinem engsten Bürobereich arbeiten zwei türkischstämmige Mitarbeiterinnen, und zwar in gehobener Position. Wir haben bei uns 28 migrantische Auszubildende und werden in diesem Jahr wieder 15 einstellen. Auch die Verwaltung muss sich auf die Bürgerschaft von morgen einrichten. Und das heißt, sie braucht interkulturelle Kompetenz. Ein Problem ist allerdings, dass die Eignungstests für Auszubildende eine fast unüberwindliche Hürde für migrantische Schulabgänger darstellen. Deswegen haben wir ein Projekt, dass wir mit einem Träger ein sechsmonatiges Training vor den Eignungstests für bestimmte Grundfertigkeiten des Bürolebens schalten. Man muss sich um die jungen Menschen intensiver kümmern als früher. Das gilt aber auch für deutsche Bewerber.
"Mehrsprachigkeit größtes Kapital der jungen Menschen"
Hr. Hameln: Ist für Sie ein Deutschsprachgebot (Verbot anderer Sprachen) an Schulen eine Alternative?
Heinz Buschkowsky: Nein. Gerade die Mehrsprachigkeit ist das größte Kapital der jungen Menschen von heute. Die Wirtschaft wird in Zukunft mit Einsprachigkeit nicht mehr funktionieren. Für mich müssen junge Menschen fit gemacht werden, dass sie Deutsch, Englisch und mindestens eine weitere Sprache beherrschen, wenn sie ihren Platz in der Gesellschaft finden wollen.
Im Übrigen boomt der deutsch-türkische Wirtschaftsraum. Gut ausgebildete Absolventen deutscher Schulen mit türkischem Hintergrund werden gesuchte Leute sein.
Moderator: Stellt die Integration junger muslimischer Frauen eine besondere Herausforderung für die Gesellschaft dar, Stichwort Ehrenmorde und teilweise kulturell bedingte Unterdrückung? Haben Sie spezielle Integrationsangebote geschaffen?
Heinz Buschkowsky: Die Rolle der Frau ist in der Tat eine starke Herausforderung und ich persönlich finde, dass wir hier immer noch zu defensiv sind: Schülerinnen, die nach den großen Ferien nach dem Urlaub in der Heimat nicht wieder zurückkommen, oder Mädchen auf weiterführenden Schulen, die plötzlich abgemeldet werden. „Meine Tochter soll eine gute Frau und Mutter werden" ist eine häufige Antwort an Sozialarbeiter, wenn sie Eltern auf Versäumnisse im Schulbesuch von Mädchen hinweisen. Das Rollenverständnis gerade in orientalischen Familien ist eindeutig nicht kompatibel mit unserer Auffassung von Gleichheit der Geschlechter und damit, dass die Würde wirklich jedes Menschen unantastbar ist. Das Thema ist nicht sehr beliebt.
Hr. Hameln: Wie wollen Sie es erreichen, dass man es schafft, auch in die Familien, vor allen Dingen an die Väter, heran zu kommen? Denn wenn wir uns immer nur auf die Jugendlichen mit Migrationshintergrund fixieren und es nicht schaffen, auch ihre Familien mitzunehmen, ist die Integration doch sehr halbherzig.
Heinz Buschkowsky: Hauptansatz muss bei den Kindern und Jugendlichen liegen, weil sie die Zukunft sind und die Gesellschaft von morgen stellen. Unsere Gesprächspartner sind natürlich auch die Eltern. Wir haben in Neukölln das Instrument "Stadtteilmutter" geschaffen; im Moment haben wir 90, weitere 75 sind in der Ausbildung. Das sind migrantische Frauen, die wir qualifizieren und die dann im Rahmen von ABM sozusagen als Beraterin zu Familien gehen, die nach außen kaum Kontakte haben und ein sehr abgekapseltes Leben führen. Sie beraten zu Fragen der Schule, der Ernährung, Gewalt, Sexualität, Sprachkursen für die Eltern oder geben auch allgemeine Lebensberatung. Sie sind eine Art Lotse in die Mehrheitsgesellschaft. Das ist erfolgreich. Wenn der Bürgermeister mit der Amtskette an der Tür klingelt, bleibt die Tür zu. Wenn die Schwester klingelt und fragt, ob man zusammen Tee trinken will, geht sie auf.
Moderator: Kurze Zwischenbemerkung, hier ist das Ergebnis unserer kleinen Umfrage während des Chats. Wir hatten gefragt: Was meinen Sie, funktioniert in Deutschland die Integration von Ausländern im Großen und Ganzen?- 40% haben Ja gesagt, 60% Nein.
"Fordern und fördern"
seba: Müssen sich die zu Integrierenden "besser integrieren lassen", oder muss "besser integriert werden"? Wie sehen Sie das speziell in Neukölln?
Heinz Buschkowsky: Die alte Formel: "Fordern und fördern". Integration muss man aktiv betreiben. Sie geschieht nicht von alleine. Das wird Geld kosten. Ansonsten werden die Reparaturkosten der Gesellschaft immer höher werden. Für die Negativabstimmer habe ich aber die Einschätzung unserer Lehrer hier in Neukölln: Sie sagen, die problematischen Familien machen etwa 20 bis 25% der migrantischen Familien aus. Das heißt nicht weniger, als dass 75% den Weg erfolgreich gegangen sind oder sich auf ihm befinden.
Gleichwohl ist die Integrationsfrage eine ganz zentrale für die Politik der nächsten Jahre. Und diese Diskussion wird uns auch nicht mehr verlassen. Wir sehen dies in den europäischen Nachbarländern.
Moderator: Liebe Chatter, auch heute heißt es leider wieder: Die Zeit ist fast um und doch bleiben viele Fragen offen. Leider reichte die Zeit nicht aus, um alle Fragen zu berücksichtigen, die hier bei uns eingelaufen sind. Eine letzte wird aber noch gestellt:
schöneberger: Worin bestehen Ihrer Meinung nach die großen Unterschiede zwischen Kreuzberg und Neukölln? Der eine Bezirk boomt und gilt als Musterbeispiel eines Multikulti-Kiezes während Ihr Bezirk immerzu als Schreckensbeispiel gescheiterter Integrationspolitik und multiethnischem Miteinander gilt?
Heinz Buschkowsky: Das hängt mit dem Label zusammen, was einem angeklebt wird. Mit Berlin-Mitte identifiziert jeder Bundeskanzleramt, Reichstag, Brandenburger Tor, Unter den Linden und so weiter. Mit Berlin-Kreuzberg Multi-Kulti, die Welt ist schön, alle Menschen haben sich lieb und wenn sie sich auf der Straße treffen, umarmen sie sich. In Neukölln wohnen die Underdogs. Das stimmt zwar so alles nicht, denn in Mitte gibt es auch Tiergarten und Wedding und in Kreuzberg gibt es ganz schwere Gebiete. Aber so ist das nun einmal mit dem Ruf. Die Gesellschaft braucht immer Synonyme. So wie Bremen eine ehrwürdige hanseatische Stadt des Bürgertums ist. Jeder weiß: Es ist das Armenhaus Deutschlands. Neukölln macht Spaß, ist lebendig und jung und ich verspüre nicht den Wunsch, woanders Bürgermeister zu sein.
Moderator: So, jetzt sind wir am Ende unserer heutigen Chat-Debatte. Vielen Dank Ihnen für Ihre rege Teilnahme und die vielen Fragen. Besonders bedanken möchte ich mich bei Herrn Buschkowsky, der sich die Zeit genommen hat. Ihnen allen wünschen wir noch einen schönen Tag.
Ja, ich hab auch sehr gelacht! Ich gehe gleich mal vor die Tür und umarme ein Paar Leute…und dann gehe ich eine Straßen weiter und lerne ein paar Underdogs kennen…Ich mag meine Nachbarschaft ;-)…
Der letzte Teil inklusive Kreuzberg- und Mitte-Bashing ist cool!