Am Donnerstag, 12. Juli 2007, war Dr. Lale Akgün,
SPD-Integrationsexpertin und Bundestagsabgeordnete zu Gast im tagesschau-Chat
in Kooperation mit politik-digital.de. Sie sprach über den
Integrationsgipfel am 12. Juli 2007, das neue Zuwanderungsgesetz
und ihr Verständnis von Integration.

Moderator: Herzlich
willkommen im tagesschau-Chat. Heute begrüßen wir im
ARD-Hauptstadtstudio die SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Lale Akgün.
Sie ist Integrationsexpertin ihrer Partei und selbst im Ausland
geboren und zwar in Istanbul. Der heutige Integrationsgipfel schlägt
hohe Wellen: Einige türkische Verbände werfen der Bundesregierung
Diskriminierung beim Familiennachzug vor. Integration, ein Thema,
das viel Stoff zur Diskussion in unserem Chat bietet. Frau Akgün,
können wir beginnen?

Lale Akgün: Ja.

Dr. Lale Akgün
Dr. Lale Akgün
SPD-Integrationsexpertin und Bundestagsabgeordnete

bora: Finden Sie auch, dass die türkischen
Verbände endlich mal Rückgrat zeigen? Die Bundesregierung
hat sich auch bei der Gestaltung der Gesetzesvorlage nicht mit den
Verbänden beraten, wieso sollen die es jetzt umgekehrt tun
und der Kanzlerin ein Alibi für eine integrationsfreundliche
Politik liefern. Im Tagesgeschäft interessiert es die Kanzlerin
herzlich wenig, was die Migranten möchten und brauchen. Es
geht nur um Stimmen für die nächste Wahl.

Lale Akgün: Nun, im Vorfeld wurden die Verbände
im Rahmen einer Anhörung zur Änderung des Zuwanderungsgesetzes
eingeladen und ihre Meinung wurde auch eingeholt. Dass sie sich
zum Gesetz kritisch äußern, kann ich nachvollziehen und
auch verstehen. Aber ein Boykott ist kein gutes Mittel. Und die
von ihnen geäußerte Forderung, im Nachhinein das Gesetz
zu ändern, ist natürlich nicht möglich.

BrigitteStenzel: Trifft es nicht zu, dass es für
Menschen, etwa aus dem ostanatolischen Bergland, im Vergleich zu
anderen Staatsbürgern eine unzumutbare Erschwernis ist, wenn
sie in ihrer Heimatregion nicht nur Deutsch lernen sollen, sondern
dort auch noch ihre Prüfung ablegen müssen?

Lale Akgün: Für mich ist es nicht hinnehmbar,
dass die Ehen von Menschen aus verschiedenen Ländern verschieden
behandelt werden. Es kann nicht sein, dass der Ehegattennachzug
unterschiedlich behandelt wird, weil die Ehe unter dem Schutz des
Grundgesetzes steht.

necesin: Wird durch das neue Zuwanderungsgesetz
nicht jede türkische Ehe unter einen Generalverdacht gestellt?

Lale Akgün: Sie meinen sicherlich die viel
gescholtenen Zwangsehen. Ich bin der Überzeugung, dass man
mit dem Gesetz, wie es jetzt vorliegt, Zwangsehen nicht verhindern
kann. Dafür hätte es im Gesetz anderer Maßnahmen
bedurft. Im Übrigen weiß kein Mensch in Deutschland,
wie viele Zwangsehen geschlossen werden. Deshalb wäre es ganz
wichtig, jetzt wo die Bundesregierung ja Geld für die Integration
in die Hand nehmen will, eine größere, und ich unterstreiche
– eine wissenschaftlich fundierte Studie – zu dem Thema Zwangsehen
in Auftrag zu geben.

Moderator: Wie kann man Zwangsehen verhindern?

Lale Akgün: Um Zwangsehen zu verhindern oder
Menschen zu helfen, die von Zwangsehen betroffen sind, hätten
folgende Regelungen ins Gesetz aufgenommen werden müssen. Erstens:
Für Frauen, die nach Deutschland zwangsverheiratet werden,
wären vor allem aufenthaltsrechtliche Erleichterungen unter
Ausbau von niederschwelligen Beratungsangeboten wichtig. Zweitens:
Für Frauen, die ins Ausland zwangsverheiratet werden, wäre
die Verlängerung des Rückkehrrechts dringend notwendig
gewesen. Das heißt, dass ihre Aufenthaltserlaubnis nicht erlischt
und sie die Chance haben, nach Deutschland zurück zu kommen.

cevher: Manche Frauen versuchen, die deutsche Sprache
zu erlernen. Aber wie soll das gehen, wenn die Umgebung nur türkisch
spricht und sich die Deutschen, besonders in Großstädten,
vor einem Kontakt scheuen oder sich mit Vorurteilen distanzieren?

Lale Akgün: Sie haben aber einen wunderschönen
Namen – übersetzt bedeutet er "Juwel" – und Sie haben
einen ganz wichtigen Punkt angesprochen. Den Erwerb der deutschen
Sprache vergleiche ich gerne mit dem Erwerb des Führerscheins.
Man muss üben, üben, üben! Bei der Sprache geht das
eben nur durch Kontakte und das ist wiederum die gesellschaftliche
Seite der Integration. Menschen müssen sich kennen lernen.
Dann verstehen sie, dass wir nicht so unterschiedlich sind, sondern
dass wir sehr viel mehr Gemeinsamkeiten haben, gerade Frauen. Besonders
Frauen könnte der Kontakt über die Kinder leichter fallen,
als es im Moment der Fall ist, wenn beide Seiten mehr Interesse
zeigen würden.

saw: Was halten Sie davon die Männer ausländischer
und deutscher Abstammung, die eine so genannte „Importbraut“
(ob aus der Türkei oder aus Indonesien) heiraten, zu einer
"Eheaufklärung“ zu verpflichten, bei der ihnen die
Rechte der Ehefrau in Deutschland klar gemacht werden?

Lale Akgün: Ich glaube, wir sollten Menschen
überhaupt viel mehr über die Ehe- und Familiengründung
erzählen. Ich habe immer für Elternschulen plädiert,
wo jungen Paaren die Verantwortung des Eltern-Werdens bewusst gemacht
werden könnte. Man könnte durchaus Ihren Gedanken aufgreifen
und auf Standesämtern jungen Menschen Aufklärungsmaterial
an die Hand geben, beispielsweise über Eheschließung,
Verantwortung in der Ehe und auch Scheidung. Aber das ist ein weites
Feld.

Christoph Dowe: Was sagen Sie zu der Absage türkischer
Vertreter beim Integrationsgipfel?

Lale Akgün: Ich kann ihre Beweggründe,
die dazu geführt haben, nachvollziehen, aber halte den Schritt
nicht für richtig.

Moderator: Welchen Schritt hätten Sie vorgeschlagen?

Lale Akgün: Ich hätte ihnen vorgeschlagen,
dass sie auf jeden Fall im Gespräch bleiben, wobei ich insgesamt
nicht von dem Gipfel überzeugt bin. Aber das ist eine andere
Sache. Ich bin von dem Gipfel nicht überzeugt, weil es 50 Jahre
nach Beginn der Arbeitsmigration nach Deutschland zu spät ist
für Gipfel und wir mit anderen Instrumenten arbeiten müssen.
Aber da die Verbände ja anscheinend von dem Gipfel beim ersten
Mal begeistert waren, hätten sie auch an dem zweiten teilnehmen
müssen.

xxxx77: Warum wird heute mehr über Integration
gesprochen? Die Migranten gibt es seit mehr als 20 Jahren. Als Sie
hierher kamen, mussten Sie keine Sprachkenntnisse nachweisen, keiner
wollte dass Sie Deutsch können-deswegen hat man Sie doch vernachlässigt?
Kann es sein, dass die Politik einfach gescheitert ist, und jetzt
ein Sündenbock gesucht wird?

Lale Akgün: Auch ich bin der Meinung, dass
Integrationspolitik viel früher hätte anfangen müssen.
Und ich muss auch heftig widersprechen, dass die zweite und dritte
Generation viel schlechter integriert ist, als die erste. Als die
ersten Gastarbeiter in Gastarbeiterwohnheimen gelebte haben und
keinerlei Kontakt zur deutschen Bevölkerung hatten, hat keiner
von Parallelgesellschaften gesprochen. Dabei waren das eher Parallelgesellschaften,
weil die Kontakte sich nur auf die Arbeitswelt beschränkt haben.
Heute, wo wir viel weiter sind in der Integration der Menschen,
Menschen in allen gesellschaftlichen Gruppierungen anzutreffen sind,
spricht jeder von "Parallelgesellschaften". Leider wird
bei uns, was Integration angeht, die Stimme der Wissenschaft viel
zu wenig gehört. Die deutschen Integrationswissenschaftler
würden jedem bestätigen, dass wir so schlecht nicht sind,
was Integrationserfolge in unserem Land angeht.

yen150: Mein Vater hat als koreanischer Bergarbeiter
neben türkischen Kollegen unter Tage gearbeitet. Er sprach
damals auch kein Deutsch, trotzdem sind Asiaten der Zweiten und
Dritten Generation voll integriert. Auch wir haben unsere Parallelgesellschaft,
unsere eigenen Bräuche. Warum gelingt die Integration bei einigen
Gruppen, bei anderen nicht? Die Voraussetzungen sind doch dieselben?

Lale Akgün: Dafür müssten wir erst
einmal darüber sprechen, was Integration ist. Wir haben auf
der einen Seite Integration, die durch knallharte Fakten belegbar
ist, wie zum Beispiel Bildung, Arbeitsplatz, Einkommen, Wohnort,
gesellschaftliche Stellung. Auf der anderen Seite haben wir die
"gefühlte" Integration. Die meisten Menschen gehen
davon aus, dass zum Beispiel Muslime schlechter zu integrieren sind
als Nicht-Muslime. Leider wird da nicht genug hinterfragt. Und als
Beispiel werden immer soziale Brennpunkte in den Großstädten
angeführt, die inzwischen jeder Bundesbürger kennt: Berlin-Neukölln,
Duisburg-Marxloh und Hamburg-Willhelmsburg. Diese Stadtteile sind
zum Synonym für nicht gelungene Integration geworden. Und da
die meisten Menschen in diesen Stadtteilen nie gewesen sind, wird
ihr Bild von diesen Stadtteilen meist durch die Medien geprägt.
So entstehen die Bilder von der Nicht-Integration der Zugewanderten:
Kopftuchfrauen mit vielen Kindern, heruntergekommene Häuser,
bärtige Männer, Kebapbuden.

Zadam: Das Problem vieler Ausländer in Deutschland
ist der Spagat zwischen zwei Ländern. Bei mir ist das Polen
und Deutschland. Ich habe mich für Europa als Lösung meines
Problems entschieden und sehe mich nicht als Deutschen oder Polen,
sondern als Europäer. Wären die Türken in Deutschland
in der Lage, sich als Europäer zu fühlen, obwohl Ihnen
von fast allen Staaten gesagt wird, dass sie nicht dazugehören?

Lale Akgün: Ich glaube, Sie haben für
sich eine gute Lösung gefunden, nämlich die Synthese zwischen
zwei Ländern als Europäer. Übrigens machen das sehr
viele junge Menschen, indem sie die lokale Ebene für sich beanspruchen
("Ich bin Kölner, Berliner usw.!") und eben die supranationale
als Europäer. Warum sollen sich Türken nicht als Europäer
fühlen? Europäer zu sein, ist ein "state of mind".
Man kann durchaus ein guter Europäer sein, ohne dass das Ursprungsland
der Eltern in der EU ist.

elle: Frau Akgün, bitte nicht auf die Medien
schimpfen! Was tun Sie persönlich um Ihren Landsleuten die
Integration in UNSERE Gesellschaft näher zu bringen?

Lale Akgün: Wer sind denn meine Landsleute?
Ich bin mit neun Jahren nach Deutschland gekommen und bin jetzt
53 Jahre alt. Das heißt, ich lebe seit 44 Jahren in Deutschland.
Ich bin deutsche Staatsbürgerin und sitze als Volksvertreterin
im Deutschen Bundestag.

Tomasz: Inwieweit spielt die Religion eine Rolle?
Ich kenne viele Polen und Russen, auch Aussiedler, die Christen
oder Atheisten sind, aber in diesem Land weder willkommen noch integriert
sind und auch keine Lust haben, sich hier zu Hause zu fühlen.
Ist das ein anderes Problem, als das von jungen Muslimen?

Lale Akgün: Nein. Natürlich nicht! Ich
glaube auch nicht, dass es die Gruppe der jungen Muslime gibt. Junge
Muslime sind eine genauso weit gefächerte Gruppe wie andere
Religionsgemeinschaften auch. Ich glaube, es wäre zu kurz gegriffen,
Menschen nur über ihre Religion zu definieren, genauso wie
es zu kurz greift, sich selbst nur über Religion zu definieren.
Die Identität und das Bewusstsein werden durch viele Faktoren
mitbestimmt. Eine sehr wichtige Rolle spielt dabei die soziale Frage,
aber auch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Milieus.

Moderator: Noch einmal zur Politik und dem Integrationsgipfel:

GenosseKoeln: Hallo Lale, wie werden die Migranten
vertreten, die nicht religiös sind. Gibt es da ausreichend
Beteiligung für atheistische, unreligiöse Menschen, die
sich nicht mit und über die islamische Religion identifizieren
bzw. definieren? Gruß aus Köln.

Lale Akgün: Gruß nach Köln zurück!
Ich freue mich immer, wenn sich Leute aus meiner Heimatstadt melden.
Ich glaube, es ist an der Zeit, dass sich Migranten in der Gesellschaft
über die Gruppen Gehör verschaffen, die ihnen gesellschaftlich
entsprechen. Wir brauchen keine weiteren Migrantenvereine, weil
dies wiederum nur eine Dimension wäre, nämlich, dass man
irgendwann mal, oder die Eltern, "migriert" sind. Das
reicht aber nicht für den Zusammenhalt und schafft wieder neue
Separierungen. Also rein in die Parteien, Vereine, Sportclubs, überall
da wo Menschen zusammenkommen!

elle: Unter "Ihren Landsleuten" verstehe
ich zunächst die Türken, falls Sie aus der Türkei
stammen. Frau Akgün, Sie haben meine Frage nach Ihrem persönlichen
Einsatz für eine Integration der Türken in UNSERE Gesellschaft
nicht beantwortet.

Lale Akgün: Falls ich es noch nicht erwähnt
haben sollte: Meine Eltern stammen wirklich aus der Türkei.
Und ich bin auch in Istanbul geboren. Aber als glühende Anhängerin
des republikanischen Denkens gehört diese Gesellschaft uns
allen. Wir sind alle Teil dieser Gesellschaft. Und wir müssen
allen helfen, die aus dieser Gesellschaft herausfallen und des-integriert
sind. Das sind sozial Benachteiligte, Bildungsarme, also alle, die
es in dieser Gesellschaft schwer haben. Ich bin Sozialdemokratin
und es ist meine Aufgabe, all diesen oben erwähnten Menschen
die Chance zu geben, in der Gesellschaft anzukommen. Wenn Sie nach
meinem persönlichen Hintergrund fragen sollten, so kann ich
Ihnen sagen, dass ich 15 Jahre als Psychologin in den sozialen Brennpunkten
der Großstadt Köln gearbeitet habe!

Moderator: Zum Thema Chancengleichheit:

Gärtnerin: Wie kann erreicht werden, dass
Lehrer/innen auch Kindern mit Migrationshintergrund eine Empfehlung
für eine höherer Schule geben? Ich habe selbst mehrfach
erlebt, dass mit dem Hinweis fehlender Unterstützung nur eine
Hauptschulempfehlung gegeben wurde.

Lale Akgün: Sie sprechen ein sehr schwieriges
Thema an: Das Thema, dass Kinder mit Migrationshintergrund bei gleichen
Voraussetzungen nicht gleich gefördert werden. Dazu bedarf
es bei der Lehrerausbildung mehr interkultureller Kompetenz! Wir
brauchen auch mehr Unterstützung für die Lehrer. Ich glaube
nämlich, dass Lehrerinnen und Lehrer, Pädagoginnen und
Pädagogen sehr viel im Bereich der Integrationsarbeit geleistet
haben, dass sie aber auch oft allein gelassen wurden. In diesem
Zusammenhang müsste man aber auch über unser dreigliedriges
Schulsystem reden und darüber nachdenken, ob es geeignet zur
Förderung sozial benachteiligter Kinder ist.

BrigitteStenzel: Glauben Sie daran, dass es in
Deutschland in der Zukunft einen deutschen Bundeskanzler mit Migrationshintergrund
geben wird?

Lale Akgün: Warum nicht? Gerade haben wir
in Frankreich einen Präsidenten mit Migrationshintergrund bekommen.
Und es war im Wahlkampf kein einziges Mal Thema. Ich finde Sarkozy
ist ein gutes Beispiel für gelungene Integration. 😉

Moderator: Wir sind leider schon wieder am Ende
unserer Zeit angelangt. Herzlichen Dank unseren Usern, die viele
und interessante Fragen gestellt haben. Leider kamen nicht alle
zum Zug. Frau Akgün, möchten Sie noch ein Schlusswort
an die User richten?

Lale Akgün: Ich freue mich, dass sich so viele
Menschen in unserem Land für die Fragen der Zuwanderung und
Integration interessieren und ich freue mich auch, dass so viele
qualifizierte Fragen gestellt worden sind. Das zeigt mir, dass wir
die Integrationsfrage nicht so pessimistisch angehen müssen!

Moderator: Das war unser tagesschau-Chat bei tagesschau.de
und politik-digital.de. Vielen Dank für Ihr Interesse und vielen
Dank an Frau Akgün. Das Protokoll des Chats ist in Kürze
zum Nachlesen auf den Seiten von tagesschau.de und politik-digital.de
zu finden. Das tagesschau-Chat-Team wünscht noch einen schönen
Tag!