In seinem ersten Buch “Die heimliche Medienrevolution. Wie Weblogs, Wikis und freie Software die Welt verändern“ beschwört der Wikipedia-Aktivist Erik Möller eine „realdemokratische Mediengesellschaft“ mit Hilfe der neuen Internettechnologien herauf.
Nichts Geringeres als die „umfassendsten kulturellen Veränderungen, die es auf diesem Planeten je gegeben hat“ konstatiert Erik Möller in seinem 200seitigen Manifest für eine weltweite, demokratische Medienrevolution. Anstelle von Machtinstrumenten in den Händen einiger weniger Medien-Konzerne, anfällig für Zensur, Verschleierung und Desinformation, könnten sich „völlig neue demokratische Strukturen“ bilden, so Möllers Vision. Eine Revolution, die vorrangig auf technischen Innovationen beruht. Wem also die Begriffe „Usenet“, „Weblog“, „Wiki“, „Peer-to-Peer“, oder „Freie Software“ bisher wenig sagen, wird von dieser Lektüre auf alle Fälle profitieren. Ebenso sachkundig wie lesbar beschreibt Möller nämlich die Anfänge der faszinierenden Internet-Entwicklung, ihre technologischen Grundlagen, Beispiele, Implikationen und Zukunftsperspektiven.
Das Revolutionäre: Freie Software und Kollaboration im Internet
Zweifelsohne haben bereits etablierte Technologien wie Usenet und World Wide Web, Newsforen und eMail-Listen für eine größere Bandbreite an Informationen und Meinungen gesorgt. Weblogs ermöglichen die Publikation und Vernetzung von Inhalten ohne größeres technisches Knowhow, und Peer-to-Peer-Systeme haben sich als un(zer)störbar herausgestellt. Zwei Ingredienzien aber machen das wirklich Revolutionäre des Mediums der Zukunft aus: die Verfügbarkeit patentfreier Software und die Möglichkeit der Zusammenarbeit im Internet. Beides schlägt sich bei Anwendungen der Wiki-Technologie nieder, allen voran dem größten Wiki der Welt, der Online-Enzyklopädie Wikipedia.
Wikis sind frei editierbare Websites. Ihr Name (von Hawaiianisch: wiki für schnell) spiegelt die Funktionsweise des Online-Tools wider: Jeder User kann neue Inhalte online stellen und bestehende Einträge bearbeiten. Im Gegensatz zu traditionellen Medien, wo (im besten Fall) eine Redaktion kompetenter Fachleute alle eingehenden Ideen filtert und auf Relevanz, Aktualität und Wahrheitsgehalt hin prüft, kann jeder Wikipedianer schreiben was und worüber er will. Ein verblüffendes Konzept. Wer garantiert, dass die Artikel einer anonymen Masse von Freiwilligen einem qualitativen Mindeststandard genügen und dass die Einträge für die Allgemeinheit interessant und überhaupt wahr sind? Wer verhindert, dass die Seite für Werbung und Spam missbraucht wird? Die Antwort mag naiv optimistisch erscheinen: Die Qualitätskontrolle besorgt die User-Gemeinschaft, und zwar nach demokratischen Regeln.
Ein selbstorganisierendes System mit demokratischen Regeln
Dass dieses utopisch klingende soziale Experiment funktioniert, hat Wikipedia bewiesen, indem sie sich in nur vier Jahren zu einer der 50 beliebtesten Websites der Welt entwickelte. Nicht nur durch die schiere Menge an Artikeln hat Wikipedia Klassiker wie Brockhaus und Encyclopedia Britannica überflügelt, auch qualitativ besteht sie unabhängige Tests inzwischen mit Bravour. Was bedeutet: Tausende User investieren täglich unbezahlt Zeit und Mühe, um ihr Wissen an die Menschheit zu verschenken. Auf den einzelnen Länderseiten in mehr als 100 Sprachen haben sich basisdemokratisch Regeln für den Umgang mit nicht vertrauenwürdigen Usern und unerwünschten Einträgen herausgebildet. Eine Art freiwillige Putzkolonne befreit die Seite ständig von Spam und Falscheinträgen und stellt Inhalte wieder her, die durch einseitige, voreingenommene Äußerungen verdrängt worden waren. Ein User-Bewertungssystem sorgt für Vertrauen unter ernstzunehmenden Autoren und bestraft diejenigen, die gegen das Prinzip des „neutralen Standpunkts“ verstoßen. Es gibt Schutzmechanismen gegen „Edit-Kriege“, konzertierte Aufräumaktionen und Wege, zweifelhafte Artikel als solche kenntlich zu machen und gegebenenfalls zu löschen. Falsche oder schlechte Beiträge verschwinden dadurch in der Regel so schnell wieder von der Seite, dass die meisten User sie überhaupt nie zu Gesicht bekommen.
Alle Macht den Software-Entwicklern
Die Open-Source-Kultur liefert demnach jetzt schon „den Software-Beitrag zur Medienrevolution“, behauptet Erik Möller, der übrigens selbst Informatiker ist und die Wikipedia-Schwestern Wiki News und Wiki Commons initiiert hat. Das Einzige, was einer völlig unmanipulierten, unzensierten Medienwelt seiner Meinung nach noch entgegen steht, sind die von Kapital- und Machtinteressen gesteuerten Lizenz- und Patentgesetze. Womit wir bei den Schwächen des Buches angekommen wären: Möllers Enthusiasmus über die schöne neue Welt, in der alle Macht den Internet-Usern und Software-Entwicklern gehört, korrespondiert – wenig überraschend – mit der typischen Verteufelung der „alten Eliten“, die, im Falle von Microsoft, mit „Propaganda und Prozessen“ ihr Software-Imperium beschützen und im Fall der klassischen Medien mit nichts anderem als Zensur und Manipulation beschäftigt zu sein scheinen.
Probleme wie Pornographie und Waffenhandel im Internet werden nur am Rande gestreift. Das Entstehen einer „aktiven Gemeinde von Störern aller Art“ als „Preis der totalen Meinungsfreiheit“ abgetan. Zwar macht Möllers Analyse mitsamt konkreter Verbesserungsvorschläge seine Hypothese plausibel, dass das Projekt Wikinews in naher Zukunft „eine ernsthafte Alternative sowohl zu traditionellen als auch zu alternativen Propagandamedien“ bieten könnte. Es bleibt jedoch unklar, ob der Autor eine Koexistenz mit der bisherigen Bezahl-Content-Industrie oder aber deren Abschaffung für möglich beziehungsweise erstrebenswert hält. Mag auch Möllers simple Formel „weniger Lizenzen plus mehr Autoren ergibt mehr Transparenz, ergibt mehr Demokratie“ naiv und unkritisch sein – die Schwierigkeit der Umwandlung einer kapitalistischen Welt in eine „Geschenke-Ökonomie“ auf der Basis von freier Software und kostenlosen Informationen ist ihm durchaus bewusst. Letztendlich wird ja auch sein Buch nicht online und kostenlos verbreitet. Ausgefeiltere Folge-Ideen dieses intelligenten Visionärs dürfen daher mit Spannung erwartet werden.