von Juliane Roloff und Jürgen Dorbritz (Hg.)
Damit sich eine Gesellschaft reproduziert, ist eine Geburtenrate von durchschnittlich 2,1 Kindern pro Frau nötig. In Deutschland liegt dieser Wert mit 1,36 etwas unter dem Schnitt der EU-Länder (1,44/Werte von Eurostat für 1997). Welche Realität steckt hinter dieser summarischen Zahl? Haben heute die meisten Paare nur noch ein Kind? Wo liegen die Gründe? Wie sehen heute die Familien aus? Auf diese Fragen gibt ein umfangreiches Buch Antwort, das auf den Ergebnissen einer 1992 durchgeführten Umfrage unter 10.000 Männern und Frauen in ganz Deutschland fußt.
Ost-West-Unterschiede
Gut sichtbar werden dabei zahlreiche Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern, die zumindest 1992 noch sehr deutlich waren. Insbesondere wurden in der DDR Familien früher gegründet als im Westen: Bei der Geburt des ersten Kindes waren die Eltern zumeist zwischen 20 und 24 Jahre alt. Ein weiterhin fortwirkender Einfluß der Gesellschaft der DDR ist die hohe Erwerbsneigung der Frauen, auch nach der Geburt von Kindern. Im Westen hingegen ist die Ein-Verdiener-Hausfrauenehe immer noch die häufigste Form der Partnerschaft, wenn Kinder vorhanden sind. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren viele Ostdeutsche sehr unzufrieden mit ihrem Einkommen, und die verständliche Angst vor weiteren sozio-ökonomischen Veränderungen führte viele zu einer Verschiebung der Familiengründung oder zur Beschränkung auf ein Kind.
Polarisierung der Gesellschaft
Der Rückgang der durchschnittlichen Geburtenzahl über die letzten Jahrzehnte hat sich nicht als Trend zur Ein-Kind-Familie vollzogen. Vielmehr entscheiden sich nach wie vor die meisten Paare, die ein Kind haben, auch für ein zweites, manche für ein drittes Kind. Stetig angestiegen ist aber die Zahl Kinderloser. Für die 1965 geborenen westdeutschen Frauen wird erwartet, daß ca. 30 Prozent von ihnen kinderlos bleiben. Die Forscher stellen eine Polarisierung unserer Gesellschaft fest: Einem immer noch großen Familiensektor (der neben klassischen Ehen auch freie Partnerschaften und Alleinerziehende mit Kindern umfaßt) steht ein wachsender Sektor vollerwerbstätiger Alleinstehender oder älterer kinderloser Paare gegenüber.
Gründe der Kinderlosigkeit
95 % der 20-24jährigen wünschen sich Kinder. Wie kommt es dann, daß gleichwohl ein viel höherer Anteil als die 5 %, die keinen Kinderwunsch haben, letztlich kinderlos bleibt? Sozio-ökonomisch betrachtet gibt es zwei Gruppen von Frauen, in denen die Kinderlosigkeit besonders verbreitet ist: zum einen sind dies gut ausgebildete, berufstätige Frauen, zum anderen Frauen mit geringem Einkommen (das aber noch oberhalb des Existenzminimums liegt). Es ist keineswegs so, daß es auf der Ebene der Lebensziele eine allgemeine Konkurrenz zwischen Kinderwunsch und anderen Zielen (materielle und berufliche Ziele, Selbstverwirklichung) gibt. Im wesentlichen gibt es drei Gründe für Kinderlosigkeit: 1. Die Partnersituation. 2. Das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 3. Die materiellen und außerfamiliären Orientierungen, die mit dem Alleinleben verknüpft sind.
Was kann die Familienpolitik bewirken?
Sowohl nach Ansicht der Autoren dieses Bandes als auch nach Ansicht der 10.000 befragten Bundesbürger kann die Familienpolitik nicht dafür sorgen, daß mehr Kinder geboren werden. Zum einen fehlen ihr dazu die Mittel. Zum anderen werden große Teile der Menschen, nämlich die Kinderlosen über 30 von dieser Politik nicht mehr erreicht. Die “strukturelle Rücksichtslosigkeit” unserer Gesellschaft gegenüber Familien kann von der Politik nicht wettgemacht werden. Unter den gegebenen Umständen – nämlich der nur schwer realisierbaren Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf, ergänzt durch finanzielle Einbußen und die Kosten, die mit Kindern verbunden sind – ist das Verhalten Kinderloser gut nachvollziehbar und im Sinne der Wirtschaftswissenschaft rational. Die Erwartungen der Familien an die Familienpolitik sind hoch, die Zufriedenheit mit ihr war 1992 niedrig. Die Forderungen an die Familienpolitik beziehen sich v.a. auf drei Bereiche: 1. Die Verbesserung der Wohnsituation von Familien. 2. Die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie. 3. Die finanzielle Besserstellung von Familien (insbes. durch Steuererleichterungen). Der Geldwert der Betreuung eines Kindes bis zum 18. Lebensjahr wird auf DM 450.000 geschätzt (auf Basis des Gehaltes einer Kindergärtnerin). Entgangener Lohn aus verhinderter Erwerbstätigkeit ist hier nicht eingerechnet. Familienpolitik muß mehr Gerechtigkeit in der Lastenverteilung zwischen Familien und Nichtfamilien schaffen. Will sie darüber hinaus auch einen (noch so bescheidenen) demographischen Effekt erzielen, muß sie bei der Altersgruppe der 20 bis 30jährigen ansetzen. Denn die Ergebnisse der Familienstudie zeigen, daß Kinderlosigkeit bei den meisten nicht von vornherein geplant ist, sondern eine Folge der Unvereinbarkeit an sich gleichgewichtiger persönlicher Ziele und der Verfestigung eines berufs- und freizeitorientierten Lebensstils. Der Kinderwunsch wird also bei vielen immer wieder hinausgeschoben, bis er schließlich aufgegeben wird.
Fazit: Wer sich für Familiensoziologie und -politik interessiert, wird in diesem Buch zahlreiche bemerkenswerte Ergebnisse finden. Den meisten Autoren gelingt es auch, die Sachverhalte in einer recht verständlichen Sprache darzubieten. Lediglich das sechste Kapitel ist für Nichtfachleute schwer zu lesen. Wünschenswert wäre sicher ein früheres Erscheinen dieses Bandes gewesen, da zwischen der Datenerhebung und dieser umfassenden Ergebnisdarstellung (der allerdings zahlreiche Darstellungen von Einzelergebnissen bzw. -themen vorausgingen) sieben Jahre vergangen sind.
Titel: Demographische Trends, Bevölkerungswissenschaft und Politikberatung.Untertitel: Aus der Arbeit des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ( BIB), 1973 bis 1998. ( Schriftenreihe des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, 28).Verlag: Leske Verlag + Budrich GmbH; Herausgeber: Höhn; Einband: KartoniertSeiten: 173 S.Erscheinungsjahr: 1998ISBN:3-8100-2227-6
Preis:DM 42.00, OES 307.00, SFR 39.00,
Bei BOL: “Demographische Trends, Bevölkerungswissenschaft und Politikberatung”