von Fritz Reheis
Letztes Jahr erzählte mir ein französischer Freund, ein Handwerker, daß er am Sonntag in die Werkstatt gehe, um zu arbeiten. Erstaunt fragte ich ihn, wieso er das tue. Er antwortete mir: “Ich liebe die Arbeit mit Holz. Aber das Arbeitstempo unter der Woche ist schlimm. Nur am Sonntag kann ich so arbeiten, wie ich will, in meinem Rhythmus.”
Eigentlich müßte mein Freund doch glücklich sein: er liebt die Arbeit, die er tut (viele Leute tun das nicht!). Und doch befriedigt sie ihn nicht, wegen des Arbeitstempos, das unter der Woche herrscht. Warum aber liegt Druck auf den Menschen, warum werden sie gehetzt? Das kapitalistische Wirtschaftssystem hat als Hauptzweck die Vermehrung von Geld, und auch Bedürfnisse der Menschen werden nur insoweit befriedigt, als sich mit der kommerziellen Befriedigung dieser Bedürfnisse Gewinne erzielen lassen.
Unser soziales System hat als Kern das kapitalistische Wirtschaftssystem, das immer mehr alle Lebensbereiche mit seiner ihm eigenen Rationalität beherrscht. Diese Rationalität ist aber weit davon entfernt, wirklich vernünftig zu sein, denn das Wirtschafts- und Sozialsystem der entwickelten Menschheit belastet die Umweltsysteme auf bedrohliche Weise. Systeme haben Eigenzeiten. Die Eigenzeit eines Systems ist die Zeit, die vergeht, bis ein System nach einer von außen induzierten Störung wieder aus eigener Kraft zu einem Gleichgewichtszustand gelangt ist.
Buch-Infos | |
Fritz Reheis Die Kreativität der Langsamkeit – Neuer Wohlstand durch Entschleunigung Primus Verlag, 1998, 32.00 Mark Das Buch bei BOL |
Zu den belasteten Umweltsystemen gehört nicht nur die natürliche Umwelt. Nicht nur das Ozonloch und die globale Erwärmung, sondern auch die immer weitere Verbreitung von Allergien in den Industrieländern (als Reaktion auf die Verbreitung immer neuer, industriell geschaffener künstlicher Stoffe) sind Anzeichen der Überforderung der Umweltsysteme. In dieser Sicht ist auch der menschliche Körper ein Umweltsystem. Auch seine Kreativität kann sich nur entfalten, wenn seine Eigenzeiten respektiert werden. Die hohen Unfallzahlen bei Schichtarbeitern sprechen diesbezüglich Bände.
Umgekehrt kennt wohl jeder von uns die Erfahrung, daß, wenn man eine Entscheidung treffen muß, dies meist einfach ist, wenn man eine ruhige Stunde findet und einen klaren Kopf hat. Dieser klare Kopf ermöglicht meist ganz von selbst das Aufkeimen der menschlichen Kreativität. Das Gegenteil des klaren Kopfes ist eine Überdosis von Informationen, Befehlen, Affekten und anderen Reizen, die den Menschen so beschäftigen, daß er nicht Herr seines Lebens ist, jedenfalls noch weniger Herr ist, als es allein die Umstände äußerer Gegebenheiten und sozialer Einbindungen mit sich bringen. Wem es an Dingen nicht mangelt, wer so viel hat, daß er seine Dinge gar nicht mehr wirklich nutzen kann, weil er die Zeit dazu nicht findet, der ist in die neue Sozio-Ökonomie eingetreten, die des Zeitwohlstandes (statt des Güterwohlstandes – siehe dazu auch meinen Artikel im politik-digital-Dossier).
Reheis\’ Buch ist anspruchsvoll. Sein Versuch, viele verschiedene Phänomene und kritische Symptome zusammenzufassen und auf einen Nenner zu bringen – nämlich den der übertriebenen Beschleunigung, ist gelungen, wenngleich er vereinzelt auch mal übers Ziel hinausschießt. Seine Synthese läßt zweifeln an der Fähigkeit besonnener Menschen, den Rhythmus unserer Zivilisation insgesamt zu verlangsamen, so nötig es auch wäre. Nötig ist, wie aus anderen Gründen auch, die Menschen zu stärken, um sie zu befähigen, Ihrem eigenen Rhythmus trotz der Zumutungen einer rastlosen Umwelt und Medienwelt zu folgen.
Karsten Pöhl