(Buchbesprechung 12.Oktober 2006) Mit dem gesellschaftlichen Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft unterliegt auch das Konzept des Privaten einem Bedeutungswandel. Michael Nagenborg, Autor des Buches „Das Private unter den Rahmenbedingungen der Informations- und Kommunikationstechnologie“, beschreibt diesen Wandel und liefert damit einen Beitrag zum ethischen Umgang mit Information.

Spätestens seit der Verhaftung des mutmaßlichen Bahn-Bombers durch mittelbare Zuhilfenahme von Bildern einer Überwachungskamera gilt in der Öffentlichkeit die Ausweitung der Videoüberwachung als ausgemachte Sache. Sicherheit für Freiheit ist die Parole der Stunde. Gleichzeitig sollen die Befugnisse des Staates, Daten über und von seinen Bürger zu sammeln und auszuwerten, weiter ausgeweitet werden. Bestes Beispiel ist hierbei der Gesetzesentwurf für die geplante Anti-Terror-Datei.

Mit dem Feldversuch der biometrischen Gesichtserkennung am Mainzer Hauptbahnhof, der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten, dem möglichen Verwenden des Autobahn-Maut-Systems zur Überwachung des Verkehrs und des gerade im Landtag von NRW diskutierten Gesetzesentwurfes über die Befugnisse des Landesverfassungsschutzes, in Zukunft die privaten Rechner der Bürger ausspionieren zu dürfen, ergibt sich eine Überwachungsdichte, die dem Einzelnen ein ganz neues Verständnis von Privatheit abverlangt.

Die Abschaffung des Privaten scheint zügig voranzuschreiten. Gleichzeitig verändert das Auftreten von privaten Investoren den öffentlichen Raum. Wie das Private zum Gegenstand des Öffentlichen wird, so wird das Öffentliche allmählich zum Privaten.
Das Buch von Michael Nagenborg könnte darum aktueller nicht sein. Unter dem etwas sperrigen Titel verbirgt sich eine grundlegende Arbeit, die Frage nach dem Wesenhaften des Privaten und dem Wandel, dem es seit der digitalen Revolution unterworfen ist, nachgeht.
Dass es sich beim vorliegenden Buch ursprünglich um eine Dissertation handelt, wird schnell deutlich. Es geht Nagenborg nicht allein darum einen (informationsethischen) Beitrag zur aktuellen Debatte über die Folgen der neuen IuK-Technologien für die Gesellschaft zu leisten, sondern auch darum, die Grundbegriffe dieser Diskussion – Privatheit und Öffentlichkeit – auf ein neues Fundament zu stellen.
Wer bereits vom kleinteiligen Inhaltsverzeichnis, einer ausführlichen Einleitung und den Respekt einflößenden Namen derjenigen Autoren an denen sich Nagenborg abarbeitet zurückschreckt, der kann die ersten Kapitel gelassen überblättern. Für eine grobes Verständnis der Problematik reicht die Lektüre der Kapitel F (Neo-klassische Privatheitsauffassung), G (Verlusterfahrung des Privaten) und I (Konsens und Privatheit) aus. Hier entwirft Nagenborg seine Theorie der neo-klassischen Privatheitsauffassung, stellt sie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang und zeigt, dass sich die Diskussion um das Private nicht auf die informationelle Dimension des Privaten beschränken lässt.
Die Zielgruppe ist klar umrissen: Philosophen, Wissenschaftler und Studenten. Kurz all diejenigen, die sich beruflich mit dieser Materie befassen. Nagenborg versteht es, die Komplexität einer Grundlegung des Privaten spannend zu präsentieren und auch einem unbedarften Publikum näher zu bringen. Die kenntnisreiche Diskussion der verschiedenen Autoren ist eine große Hilfe, wenn es gilt, sich eine eigene Meinung zum Nutzen und Sinn moderner Überwachungstechniken zu machen.
Ausgehend von der These, dass das Private durch die zunehmende Verbreitung von IuK-Technologien bedroht sei, stellt Nagenborg die Frage, ob dieser Verlust auf die informationelle Dimension des Privaten beschränkt bleibt oder ob sie alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst.
Dazu blickt er vor allem auf wissensbasierende Entscheidungsprozesse und Urteile, die allem gesellschaftlichen Handeln zu Grunde liegen. Er fordert daher: „private Informationen [sollten] in bestimmten Entscheidungsprozessen keine Rolle spielen und insofern [sollte] die Achtung des Privaten auch dazu dienen, die Gleichheit zwischen Bürgern eines Staates herzustellen.“ Und meint damit, dass Unterschiede in der Informationsversorgung nicht zu gesellschaftlichen Ungleichheiten wie beispielsweise Herrschaftswissen führen dürfen.
Beachtet man hierzu den liberalen Ansatz, in dem Nagenborg seine Theorie verortet, stellt man schnell fest, dass es ihm um mehr geht als die üblichen Warnungen, vor dem selbst verschuldeten Verlust der Privatsphäre, etwa durch Datenverkauf durch Payback-Systeme oder Preisausschreiben. Indem es Nagenborg gelingt, den Verlust des Privaten über die informationale Dimension hinaus zu zeigen, verdeutlicht er auch die fundamentale Konsequenzen für das politische System. In der liberalen Theorie, zeigt Nagenborg, bildet die Privatsphäre der Bürger die Legitimationsgrundlage von Staat und Gesellschaft. Um diese gesellschaftliche Bedrohung durch die IuK-Technologien zu zeigen, weist er zunächst den „normativen Charakter des Privaten“ nach. Nagenborg begreift so das Private als „konventionell, d.h. sein Vorhandensein und seine Ausgestaltung hängen von den geteilten Überzeugungen einer Gesellschaft ab.“ Damit erteilt er gleichzeitig Ansätzen die das Private zur Privatsache und damit zu einer individuellen Entscheidung erklären, eine klare Absage. Unter dies Ansätze, die Nagenborg irritierender Weise „Konsensmodelle des Privaten“ nennt, diskutiert er etwa Rainer Kuhlens „Die Konsequenzen von Informationsassistenten“ oder Lawrence Lessigs Ansatz „Privacy as Property“.
Indem Nagenborg das Private als den, die Gesellschaft konstituierenden Raum beschreibt und gleichzeitig dessen Ausgestaltung der Gesellschaft überlässt, macht er deutlich, dass das Private notwendigerweise Veränderungen unterworfen ist. Privatheit und Öffentlichkeit beeinflussen sich wechselseitig. Dass diese Wechselwirkung negative Folgen für das Private hat, verdeutlicht Nagenborgim Kapitel „Privatheit unter den Rahmenbedingungen der IuK-Technologien“ : „Pessimistisch könnte man von einem sich über Generationen erstreckenden langsamen Verlust der Privatheit sprechen, von einer langsamen Anpassung der Vorstellung des Privaten an die gegebenen Rahmenbedingungen“.
Die Konsequenzen dieser „neuen Vorstellung des Privaten“ macht Nagenborg am Beispiel der „panoptischen Gesellschaft“ Foucaults [http://de.wikipedia.org/wiki/Panoptismus] deutlich: eine Gesellschaft der totalen Überwachung. Schließlich diskutiert Nagenborg auf Grundlage seiner Privatheitsauffassung die Frage der informationellen Gerechtigkeit.
Hier erweist sich Nagenborgs „Kultur des Privaten“, einer Position, die das Private zur Privatsache erklärt, in dieser Hinsicht als überlegen. Da diese die Veränderungen, die IuK-Technologien mit sich bringen diskutieren und in Hinblick auf die Legitimation von Gesellschaft und Staat hinterfragen kann. Ein Konsensauffassung des Privaten verhindert eine solche Diskussion, da sie das Private ja gerade zur Privatangelegenheit erklärt.
Im reflexiven Charakter liegen schließlich die Stärken des Nageborgschen Ansatzes. Problematisch ist jedoch der pragmatische Charakter seiner Theorie. Indem er dem Privaten zwar den Wert eines Bollwerks gegen Totalitarismus und den Rang eines Gralshüters der liberalen freiheitlichen Gesellschaft beimisst, stellt er sich klar gegen jede Tendenz, das Private zu beschneiden und warnt ausdrücklich vor den Folgen der informationellen Revolution. Gleichzeitig ordnet er bestehenden Verständnissen des Privaten keinen absoluten Wert bei, sondern betont deren normativen Charakter. Damit setzt er das Private bewusst der Gefahr des Relativismus aus, und nimmt in Kauf, dass dies im Zweifel für mehr Wohlstand, Bequemlichkeit oder Sicherheit geopfert wird. Mit allen damit verbundenen Gefahren für eine liberale Gesellschaft.
Dieses Problem ist Nagenborg durchaus bewusst.Jedoch kann seine Arbeit nur die Probleme und die Folgen eines Verlustes des Privaten aufzeigen. Eine mutige Vision, wie man diesem Dilemma entkommen könnte, wäre als Ergänzung zu dieser Arbeit wünschenswert. Denn wenn es so ist, dass sich die Gesellschaft mit dem Verlust des Privaten gerade um einen Grundpfeiler ihres Gemeinwesens bringt, sollte man ihr dann nicht in den Arm fallen?
Michael Nagenborg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe, die im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts “Ethicbots – Emerging Technoethics of Human Interaction with Communication, Bionic and Robotic Systems“ an der Hochschule für Medien in Stuttgart arbeitet und Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie in Karlsruhe.