Bereits in der zehnten Auflage erscheint ein Klassiker der Identitätsforschung in der Soziologie. Lothar Krappmanns Buch „Soziologische Dimensionen der Identität“ ist aber mehr als nur ein sozialwissenschaftliches Standardwerk – vielmehr gibt es hier auch für den Nichtwissenschaftler viel zu entdecken. Beispielsweise, wie in den Zeiten des Internets die Interaktion mit anderen gewinnbringend für das eigene Ich eingesetzt werden kann.
Bereits seit einiger Zeit ist der Begriff der Ich-Identität in den Sozialwissenschaften von großer Bedeutung. Doch auch im alltäglichen Leben bekommen wir zu spüren, wie schwierig die Aufrechterhaltung des eigenen Ichs ist. Das Buch von Lothar Krappmann ist seit vielen Jahren als Standardwerk in den Sozialwissenschaften bekannt. Die Tatsache, dass es erstmals 1969 erschienen ist, mindert keinesfalls Qualität und Relevanz dieses Buchs. Im Gegenteil: setzt man heute als Sozialwissenschaftler den Fokus auf die Identitätsanalyse, kommt man an Krappmanns Bestseller auch weiterhin nicht vorbei. Und aufgrund der komplexer gewordenen Welt ist ein Blick hinter die Kulissen der Ich-Identität, deren Ausgestaltung in den vergangenen Jahren zweifelsohne nicht einfacher geworden ist, auch für Nichtwissenschaftler hilfreich. Besprochen wird hier die zehnte Auflage, die seit 2005 erhältlich ist.
Zwischen Einzigartigkeit und der Erfüllung der Erwartungen anderer
Krappmann eröffnet die Diskussion, indem er die Identität als Untersuchungsgegenstand beleuchtet. Er grenzt den Forschungsbereich ein, definiert die Identität als vom Individuum für die Beteiligung an Kommunikation und gemeinsamem Handeln zu erbringende Leistung und stellt sein in der Folge zu entwickelndes Konzept vor: betrachtet wird die Diskrepanz der an das Individuum gestellten Erwartungen als die ihm in bestimmten sozialen Verhältnissen angebotene Chance zur Individuierung . Er lehnt sich damit an Gedankengänge Durkheims und Simmels an. Doch die Entwicklung bleibt hier nicht stehen. Der Autor bezieht andere Theoretiker wie Goffmann und Mead ein, entwickelt sein Identitätskonstrukt geschickt weiter und bildet erstaunlich konkrete Grundlagen der Identitätsforschung heraus, die auch heute noch bei der Betrachtung medialer Identitätseinflüsse sehr hilfreich sein können. Im zweiten Kapitel dreht sich alles um Interaktion und Identität. Zuerst werden die Identität und die Beteiligung des Einzelnen an Interaktionsprozessen beleuchtet. Danach geht es um die balancierende Identität, also den Vorgang der ständigen Neueinschätzung und Selbstdarstellung mit dem letztendlichen Ziel, erfolgreich zu interagieren. Im Gegensatz dazu steht die stabile Identität, die Grundvoraussetzung für die weitere Sozialisation, welche mit einigen Beispielen andersartiger Auffassungen untermauert wird. Das dritte Kapitel widmet Krappmann der Erklärung der Begriffe Identität und Rolle. Während zuvor vor allem die Belastungen des Individuums erörtert wurden, die aufgrund der Unklarheiten und mangelnden Übereinstimmung innerhalb und zwischen Interaktionssystemen herrschen, widmet sich Krappmann nun dem Rollenhandeln. Dabei stellt er fest, dass die Ich-Identität nicht als Hemmnis, sondern als Bedingung erfolgreichen Rollenhandelns zu sehen ist. Im vierten Kapitel geht es um identitätsfördernde Fähigkeiten, die als Grundlage die Erfüllung von individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen voraussetzen. Besprochen werden die Rollendistanz, „Role taking“ und Empathie, Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, widersprüchliche Informationen wahrzunehmen und zu verarbeiten, Abwehrmechanismen sowie die Identitätsdarstellung.
Das fünfte Kapitel widmet sich der soziologischen Schizophrenieforschung und bietet somit einen Beitrag zum Bereich der gestörten Identität. Schwerpunkt bildet die Betrachtung der Schizophrenie, da sie ein zu damaliger Zeit häufig diagnostiziertes psychotisches Krankheitsbild darstellt. Um den Sozialisationsprozess entsprechend zu berücksichtigen, widmet sich Krappmann Untersuchungen von Kindern und zeigt auf, wie durch die fehlerhafte Sozialisation Identitätsstörungen auftraten. Ein möglicher Versuch von empirischer Überprüfung des Identitätskonzeptes wird im sechsten Kapitel unternommen. Dabei spricht Krappmann nicht nur die Schwächen des bisherigen Konzepts an, sondern liefert auch Ideen für eine Beobachtungsanordnung, die im Rahmen eines seiner Forschungsprojekte entstanden sind. Besonders ausführlich widmet er sich den Watzlawick´schen Axiomen, die Grundprobleme bezeichnen, die sich in allen Systemen kommunikativen Handelns stellen, wie beispielsweise, dass man in sozialen Situationen nicht nicht kommunizieren kann, jede Kommunikation einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt hat und zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe entweder durch das Streben nach Gleichheit geprägt sind oder asymmetrisch stattfinden.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Krappmanns Werk weder an Bedeutung noch den Bezug zu gegenwärtigen Identitätsdiskussionen verloren hat. Es ist und bleibt ein Standardwerk, welches in vielen Punkten wie beispielsweise der Definition von Ich-Identität Vorbildcharakter hat. Und so ist auch sein Fazit zeitlos: Das Individuum verhält sich stets balancierend. Es versucht, Einzigartigkeit darzustellen und dennoch Erwartungen anderer gerecht zu werden. Diese Balance auszuhalten, ist die Bedingung für die Behauptung von Ich-Identität, sagt Krappmann. Ich-Identität wird in dem Ausmaß erreicht, indem, so Krappmann, das Individuum „die Erwartungen der anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoßend, seine besondere Individualität festhalten und im Medium gemeinsamer Sprache darstellen kann“. Da die Ich-Identität in jedem Interaktionsprozeß neu formuliert wird, soll der von Krappmann entwickelte Identitätsbegriff helfen, „die Normen, unter denen Interaktionen stattfinden, kreativ zu verändern“. Dies ist Krappmann gelungen, so dass sein Buch als Referenz in dem Bereich gilt. Wer also auch als Laie wissen möchte, wie er Interaktionsprozesse für sich und andere gewinnbringend gestalten kann, der findet in diesem Buch eine hervorragende Basis. Für Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Identität ist es so oder so ein Muss.