Arbeit und menschliche Würde
Eine Analyse und Kritik des reifen Kapitalismus und seiner Globalisierung
Bei den meisten Menschen in Deutschland dürfte ein eher flaues Gefühl aufkommen, wenn von Globalisierung die Rede ist. Und das, obwohl sich die Befürchtungen, die sich mit der Debatte um den “Standort Deutschland” verbanden, nicht bewahrheitet haben: Deutschland ist weiterhin ein Hauptexportland. Im Welthandel sind es die ohnehin schon ärmsten Länder, die weiter an Boden verloren haben. Die Globalisierung hat also das Auseinanderdriften von Arm und Reich gefördert. Und doch sind die Sorgen der erfolgreichen und reichen Deutschen begründet, sagt uns Negt, der die Globalisierung nur für ein neues Gewand des alten Kapitalismus hält, welcher seit dem Ende des “realen Sozialismus” nicht nur in alle Erdteile ausgreift, sondern der auch bei uns auf eine nur marktförmig strukturierte Wirtschaft und Gesellschaft drängt.
Negt unternimmt die philosophisch begründete Analyse und Kritik des reifen Kapitalismus und seiner Globalisierung. Dabei greift er vor allem auf Kant und Marx, aber auch auf Max Weber, Hegel, Adorno, Foucault und Aristoteles zurück. Er unterscheidet – in der Tradition Karl Mannheims – Ideologie von Utopie. Globalisierung und Neoliberalismus sind für Negt eine Ideologie, weil sie die wahren Machtverhältnisse verschleiern und das Aktivwerden Betroffener bzw. Benachteiligter verhindern. Andere haben deswegen den Neoliberalismus hingegen als “Utopie” bezeichnet (Pierre Bourdieu). Doch Negt sieht sich wohl in der Tradition der Renaissanceutopisten Campanella, Morus und Bacon, die er anerkennend würdigt, nicht zuletzt, weil diese den Rückgang des Volumens fremdbestimmter Arbeit postuliert haben. Die Utopie ist ein Bild, das transformierend auf die Gesellschaft einwirkt.
Die Welt des ungezügelten Kapitalismus ist geprägt durch eine weiter wachsende Kluft zwischen armen und reichen Ländern und auch zwischen den Schichten innerhalb der Länder, eine Kluft, die Gewalt und Konflikte begünstigt. Betriebswirtschaftliches Denken allein ist für die von Negt eingeforderte gesamtgesellschaftliche “Ökonomie des ganzen Hauses” untauglich. Die Arbeitslosigkeit, die Deutschland in der 90er Jahren pro Jahr 180 Milliarden DM (und damit mehr als der Aufbau der Neuen Bundesländer) gekostet hat, ist für ihn ein Akt der Barbarei:
“Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt. Sie ist ein Anschlag auf die körperliche und die seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen. Sie ist Raub und Enteignung der Fähigkeiten, … in Gefahr sind zu verrotten und schwere Persönlichkeitsstörungen hervorzurufen.”
In unserer Gesellschaft sieht Negt eine Aufspaltung in zwei Realitäten: zum einen die Realität derer, die gesicherte und auskömmliche Arbeit haben, zum anderen diejenigen,die aus dieser Welt ausgeschlossen sind. Diese zweite Realität, ist laut Negt für die in der ersten Realität Befindlichen kaum nachvollziehbar.
Warum aber wird nicht statt der Arbeitslosigkeit nützliche Arbeit finanziert? Weil Arbeitslosigkeit und Armut in ihren sozialpsychologischen Folgen zentrale Faktoren der Systemstabilisierung seien! An pragmatische Lösungen für das Problem der Arbeitslosigkeit glaubt Negt nicht. Die Bewältigung dieses Krisenherdes sei nicht anders zu leisten als durch schwerwiegende Eingriffe in die bestehenden Macht- und Wirtschaftsstrukturen. Nötig sei ein Paradigmenwechsel hin zu den Bedürfnis- und Interessenstrukturen lebendiger Menschen als Ausgangspunkt der Betrachtung und der Veränderung.
Als Träger des Widerstandes sieht Negt vor allem die Gewerkschaften, deren gesamtgesellschaftliche Verantwortung – man könnte sagen: deren Utopiefähigkeit – er beschwört. Als Kernforderung zur Umgestaltung der Gesellschaft sieht Negt die Verkürzung der Arbeitszeit an. Zeitnot halte überholte Herrschaftsstrukturen aufrecht. Denn Bildungsprozesse, die Voraussetzung für Mündigkeit und selbstgesteuerte gesellschaftlich-politische Aktivität sind, bedürfen der Zeit. Die durch Arbeitszeitverkürzung Entlasteten würden dadurch von Gefangenen einer gesellschaftlichen Maschinerie zu “assoziierten und kooperativen Produzenten, … die den überwiegenden Teil ihrer Sozialphantasie und ihrer Arbeitsenergie auf politische Gemeinwesenarbeit konzentrieren.” Allerdings übersieht Negt nicht die Fallen einer vergrößerten Freizeit: durch ein erhöhtes Konsum- und Unterhaltungsangebot drohe sich die für Bildung und menschliche Beziehungen gewonnene Zeit wieder der Taktvorgabe technischer Apparate und ihrer Inhalte zu unterwerfen.
Die Begrenzung und Steuerung der Technik ist ein weiteres Anliegen Negts, ebenso wie die Kritik an seinen Soziologenkollegen Ulrich Beck und Anthony Giddens, denen er zu geringe Abgrenzung zum Neoliberalismus und damit Ausbeutbarkeit ihrer Konzepte (Risikogesellschaft, Individualisierung) vorwirft. Bemerkenswerte psychologische Einsichten gelingen Negt bei seiner Analyse der seelischen Lage Langzeitarbeitsloser und bei seiner Nachzeichnung der psychischen Mechanismen der deutschen Einheit.
Negts Buch ist von einem tiefen humanistischen Antrieb und Sorge um die Menschenrechte aller geprägt. Es könnte auch betitelt sein : “Die geistige Situation der Zeit”, denn es kommt dem Wunsch nach Orientierung entgegen. Die Berichte vom Weltsozialgipfel in Porto Alegre zeigen uns, dass diese Zeit zu Ende geht. Immer mehr Menschen sagen: “There must be an alternative – Eine andere Welt ist möglich!” Gewiß fehlt noch der Konflikt, in dem eine neue Bewegung auch in Deutschland einen ersten Sieg gegen die Neoliberalen erzielen könnte. Aber der kann schnell kommen, etwa beim Versuch, das Gesundheitssystem in eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zu verwandeln.
Eigentlich paßt Negts Buch perfekt in die Zeit, aber seine Länge macht es für arbeitende Menschen schwer verdaulich. Wer andere Kritiker des Neoliberalismus (wie Bourdieu oder André Gorz) oder Ethiker (Hans Jonas) gelesen hat, wird zudem finden, dass Negts Buch nicht viel Neues enthält. Seine konkreten sozialpolitischen Forderungen – Arbeitszeitverkürzung und eine verbesserten Grundsicherung – liegen schon länger auf dem Tisch. Es handelt sich um bekannte, aber wichtige und hochaktuelle politische Gedanken in akademisch ausgearbeiteter Form.
Arbeit und menschliche Würde, von Oskar Negt, Göttingen (Steidl) 2002, 2. Aufl.