Mit der Wahl des jüdischen Senators Joe Liebermanns als running mate hat Al Gore
klare Zeichen gesetzt. Wie dieser Schritt im Vorfeld der "Krönungsmesse" des Nominierungsparteitages
einzuschätzen ist, welche Rolle Bill Clinton weiterhin zukommt und wohin die Amerikanisierung
deutscher Wahlkämpfe führen wird, fand Alexander Höf in einem Interview mit dem Direktor der
Atlantischen Akademie, Dr.habil. Werner Kremp heraus.
politik-digital: Herr Dr. Kremp, beginnen wir zunächst mit der gerade getroffenen Entscheidung
Al Gores mit Senator Joe Liebermann als "running-mate" in die heiße Phase
des Präsidentschaftswahlkampfes zu gehen.
Die neuesten Umfragen zeigen, Gore hat seinen Rückstand auf George W. Bush
von 17 auf 2 Prozentpunkte. Teilen sie die Begeisterung für Gores Wahl?
Werden die Karten nun neu gemischt oder ist das ganze eher ein Strohfeuer?
Dr. Kremp: Ich halte die Wahl von Lieberman schon für eine
recht mutige und zugleich kluge Entscheidung; sie gibt Gore einerseits die Chance,
sich auf dezente Art von Clinton und seiner Skandalaura zu entfernen; zweitens hat er
dem running mate Dick Cheney einen in außenpolitischen Fragen mindestens gleich
kompetenten Mann entgegengesetzt; und drittens eröffnet er in dem unaufhörlichen
Prozeß Amerikas, immer wieder neue ethnische Gruppen zu integrieren, eine neue Runde.
Ob die positiven Umfragezahlen ein Strohfeuer sind? Ja, insofern es während des
Wahlkampfs immer wieder Situationen gibt, wo bestimmte Events, wie die Parteitage,
und bestimmte Aktionen der Kandidaten diesen beim Publikum kurzfristig eine mehr als
durchschnittliche Aufmerksamkeit und Zustimmung sichern. Andererseits glaube ich,
daß die Wahl Liebermanns doch so solide ist, daß eine hohe Zustimmungrate erhalten
bleibt, wenn nicht herauskommt, daß der Moralist Liebermann in seiner Jugend oder
sonstwie gesündigt hat.
politik-digital: Gerade an Amerikanischen Universitäten sind viele Mitglieder der Fakultäten
jüdischen Glaubens und Liberale Intellektuelle gelten sicher nicht als
Stammwähler der GOP. Wurde wie damals beim Katholiken Kennedy auch eine Art
Tabu gebrochen oder wo sehen sie, wenn überhaupt, die Sensation der Wahl
Liebermanns? Wäre die wirkliche Überraschung nicht beispielsweise eine
schwarze Frau gewesen, wenn Amerikaner jüdischen Glaubens sowieso die
Demokraten wählen?
Dr. Kremp: Bevor eine schwarze Frau zur running mate wird, muß erst eine weiße Frau
running mate werden und, anders als seinerzeit Geraldine Ferraro, auch gewinnen.
Und vorher war eben vielleicht dieser Durchbruch, ein jüdischer running mate, fällig,
der ja nicht nur ein "jüdischer" Durchbruch ist, sondern auch ein Signal für andere
Minderheiten.
politik-digital: Was erwarten sie von der bevorstehenden convention der Demokraten und welche
Rolle wird Bill Clinton dort noch spielen? Kann Gore ohne Clinton gewinnen
oder wird er ohne ihn verlieren?
Dr. Kremp: Der Parteitag der Demokraten wird genauso eine "Krönungsmesse" werden wie der der
Republikaner, vielleicht sogar noch pompöser (allein die Zahl der Delegierten ist
doppelt so groß) mit noch mehr Zivilliturgie.
Gore wird sich wahrscheinlich nicht ganz von Clinton trennen; er wird einen,
vermute ich, sorgfältig orchestrierten Einsatz von Clinton vor bestimmten Wählergruppen
(nicht alle sind ihm ja gram!) in bestimmten, weniger moralistisch orientierten Staaten
versuchen; und dieser wiederum wird nicht nur und vielleicht nicht in erster Linie Gore
unterstützen, sondern, was eben so wichtig ist, die demokratischen Kongreßkandidaten –
so sie denn seine Hilfe wollen.
politik-digital: Zu George W. Bush müssen wir natürlich auch kommen. Ist er mehr als die
personifizierte Rache der Familie Bush, die nun nach 8 Jahren wieder das
Weiße Haus zurückerobern will. Immerhin hat er durchaus Erfolge vorzuweisen,
die ihm keiner zugetraut hat. Wird er unterschätzt?
Dr. Kremp: Bush hat eigentlich kaum etwas aus eigener Kraft geschafft, und sein record als
Gouverneur ist mehr hinsichtlich der Zahl der Hinrichtungen in Texas eindrucksvoll als
was seine Gesellschaftspolitik anbelangt. Gleichwohl war und ist es immer ein Fehler,
bestimmte Leute zu unterschätzen; denn mindestens so wichtig wie die Person der
Präsidentschaftskandidaten und eventuellen Präsidenten sind die Berater, die er sich
wählt – und da hat er zumindest was die Außenpolitik anbelangt eine durchaus beachtliche
Riege, nicht zuletzt aus dem Erbe seines Vaters, um sich versammelt.
politik-digital: Die Atlantische-Akademie veranstaltete gerade eine summerschool mit
zahlreichen USA-Experten unter den Referenten. Dort gab es doch sicher neue
Erkenntnisse zum aktuellen Wahlkampf: wie wird er eingeschätzt, vielleicht auch im Vergleich mit vergangenen
Kampagnen? Welche Rolle kommt dem Internet zu?
Dr. Kremp: Was diesen Wahlkampf von vorhergehenden unterscheidet, ist zum einen, daß noch
nie so viel Geld dafür ausgegeben wurde, insbesondere soft money, das der Umgehung der
Spenden-Grenzen für Kandidaten dient. Zum anderen ist es der erste Internet-Wahlkampf.
Alle übrigen Unterschiede wird man erst am 7. November genau kennen, denn der heiße
Wahlkampf beginnt ja jetzt erst.
politik-digital: Amerikanisierung von Wahlkämpfen ist auch bei uns spätestens zu den
Bundestagswahlen ein vielzitiertes Schlagwort. Wie amerikanisch sind denn
die bundesdeutschen Wahlen inzwischen und sehen sie hier ein Problem oder
gar eine Gefahr? Die SPD erwägt ja inzwischen sogar Vorwahlen nach
amerkanischem Muster.
Dr. Kremp: Also: die sogenannte "Amerikanisierung" ist, egal ob bei Wahlkämpfen, bei
Eßgewohnheiten oder in der Kulturindustrie, nur für romantisch-nationalistische
Links- und Rechtsintellektuelle eine Gefahr. Ansonsten ist sie ein Faktum, das zu
einer modernen Massendemokratie dazu gehört wie Fernsehen, Fast Food und Film.
"Amerikanisierung" bei Wahlkämpfen heißt: mehr Personen statt Parteien, mehr Bilder
als Worte, mehr symbolische Handlungen, Events und Auftritte als Diskussion über
Inhalte (aber ganz unwichtig sind diese trotzdem nicht), und Fernsehen statt
Plakatwerbung.
Ob sich das amerikanische Vorwahlsystem auf deutsche Parteien übertragen läßt?
Probieren wir’s doch einfach, anstatt zu theoretisieren. Man kann’s dann immer noch
auch wieder sein lassen, oder die Prozeduren modifizieren.
politik-digital: Alle 4 Jahre stellt sich die Frage, ob sich für die
Deutsch-Amerkanischen Beziehungen etwas ändern wird. Ist es für uns denn überhaupt von
großer Bedeutung, wer in Washington regiert?
Dr. Kremp: Es ist ziemlich gleichgültig, ob ein Demokrat oder ein Republikaner für die
amerikanisch-deutschen Beziehungen zuständig ist; denn diese beruhen auf einem Set
von Traditionen, Werten, insbesondere auch politischen, ökonomischen und
strategisch-sicherheitspolitischen Interessen, das über die Vierjahresperiode hinausgeht.
Nicht unbedeutend ist sicher, unabhängig von der Parteizugehörigkeit des US-Präsidenten
wie des deutschen Kanzlers, die Fähigkeit beider, einen persönlichen Draht zu einander
zu finden.
Und ganz besonders wichtig, leider aber in der deutschen Politik oftmals übersehen,
ist die große Bedeutung, die der Kongreß, insbesondere der Senat, in der Außenpolitik
der USA spielt. Da wäre es gut, wenn man nicht nur den Präsidenten als Akteur hofiert,
sondern auch die Mitglieder des außenpolitischen Senatsausschusses!
politik-digital: Welche Bedeutung messen sie den im Oktober anstehenden "debates" zwischen
den Kandidaten bei. Kann die offene Debatte zwischen Gore und Bush vor
Millionen von Fernsehzuschauern den Ausschlag geben, wie beispielsweise 1960
im Duell Kennedy vs Nixon?
Dr. Kremp: Das ist schwer vorherzusagen, da oft bestimmte Zufälle, Bild-Eindrücke, die Tagesform
etc. eine Rolle spielen. Es könnte sein, daß beim Duell Gore-Bush Gore intellektuell,
aber Bush emotional mehr Eindruck macht. Beim Duell Lieberman-Cheney sehe ich eher
eine intellektuelle und emotionale Parität, vielleicht mit einem kleinen Vorsprung
für den frischer wirkenden Lieberman.
politik-digital: Vielen Dank für das Interview
Die Fragen stellte Alexander Höf