Europa hat gewählt. Diesmal ging es nicht um die Besetzung von Abgeordnetenbänken in Brüssel,
sondern um die Kandidatenliste für den Posten des europäischen Internetdirektors. Und zwei
deutsche Kandidaten haben das Rennen für sich entschieden. Mit großem Abstand konnten sich
Andy Müller-Maguhn, Sprecher des Chaos Computer Clubs und
Jeanette Hofmann vom
Berliner Wissenschaftszentrum für
die Liste der europäischen ICANN-Kandidaten qualifizieren.
Schritt für Schritt rückt die Wahl des ICANN @Large Direktoriums näher;
eine wichtige Etappe auf dem Weg zum
internationalen ICANN Board war die Nominierung der letzten beiden Kandidaten. Das
ICANN-Komitee selbst hatte Anfang August
fünf Kandidaten aus den Bewerberlisten ausgesucht: Alf Hansen,
Maria Cattaui, Dr. Oliver Popov
und Olivier Muron. Zwei weitere Plätze hatte ICANN
für Kandidaten, die von der Wählerschaft bestimmt werden konnten, vorgesehen.
Obwohl sich insgesamt über
30 Aspiranten aufstellen ließen, zeichnete sich schon nach wenigen Tagen ein
klarer Trend ab: die meisten der Bewerber stammten aus Deutschland und dementsprechend
erhielten die deutschen Kandidaten auch die meisten Stimmen. Zwar konnten die @Large Member
bis zum 8. September ihre Stimme abgeben, die Würfel fielen aber schon nach wenigen
Tagen. Andy Müller Maguhn setzte sich sofort an die Spitze und Jeanette Hofmann lag von
Anfang an auf Platz zwei. Schließlich erhielt das Chaos Computer Club-Mitglied 2686
Stimmen, der Wissenschaftlerin gaben 1270 Wähler ihre Stimme.
Damit erreichten beide spielend das
Klassenziel, wonach die beiden Kandidaten auf den endgültigen Stimmzettel kommen,
die über 2%, also im Falle Europas 471 Stimmen ihres Wahlkreises erhalten haben und
zwar aus mindestens zwei verschiedenen Ländern.
Auch auf Platz drei landete mit Lutz Donnerhacke von FITUG
ein deutscher Bewerber.
Für ICANN-Europa bedeutet diese Wahl der beiden @Large Kandidaten zweierlei. Zum einen
zeigt das Ergebnis, dass die deutschen @Large Mitglieder in Europa besonders aktiv sind, zum
anderen deutet die Auswahl der beiden freien Kandidaten darauf hin, dass die Wählerschaft
sich einen von wirtschaftlichen Zusammenhängen unabhängigen Vertreter wünscht.
Dass die fünf von ICANN nominierten Kandidaten fachlich qualifiziert sind, das Amt des
europäischen Direktors zu versehen, wird allgemein nicht bezweifelt. Allerdings machte
sich in Fachkreisen Erstaunen breit, weil die Amerikaner vor allem Vertreter aus der Wirtschaft
auf die Wahlzettel gesetzt hatten. Das internationale Direktorium soll jedoch vor allem die
Interessen der Nutzer vertreten und so straften eben diese die Auswahl ab, indem zwei
unabhängige Kandidaten nominiert wurden. Bei ICANN in Kalifornien soll man übrigens
nicht sehr glücklich gewesen sein über die europäische Wahl – "Hacker ins
Direktorium"? Das erscheint den ICANN-Bürokraten dann doch ein wenig verwegen.
Das
starke Engagement der Deutschen im Vergleich zum europäischen Ausland
ist bemerkenswert, liegt doch Deutschland im Nutzervergleich nur im
digitalen Durchschnitt. IT-Wunderländer wie Finnland oder die
Niederlande haben jedoch ein viel geringeres Interesse an den ICANN-Wahlen
gezeigt. Zum Vergleich: nach der vorläufigen ICANN-Statistik gab es in
Deutschland 20475 Eintragungen ins Wahlregister, in den Niederlanden
417 und in Finnland ganze 90. Und selbst in Bevölkerungsstarken Ländern
wie Frankreich ließen sich grade einmal 3040 Wähler eintragen. Woran
liegt das?
Vielleicht
fahren in den Sommermonaten weniger Deutsche in den Urlaub, die
Holländer sind ja bekanntlich sehr reiselustig. Und die Griechen
verbringen den August ebenso wie die Italiener kollektiv offline am
Strand. Tatsächlich haben von den gut 20.000 zugelassenen Wählern
nur ungefähr die Hälfte von ihrem Stimmrecht gebrauch gemacht.
Allerdings sind die Schwankungen zu groß, als dass man sie tatsächlich
nur auf das Ferienverhalten beziehen kann.
Ein
wichtiger Faktor ist der Bekanntheitsgrad von ICANN, der hauptsächlich
durch
Berichterstattung in den klassischen Medien zu beeinflussen ist. In
Deutschland nahmen sich
unter anderem der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und sogar die
Internetmuffel von der FAZ des Themas an und verhalfen den
Online-Wahlen von ICANN zu einem relativ hohen Bekanntheitsgrad. Selbst
in den USA ist die Wahl weder den klassischen Printmedien wie der New
York Times noch den Organen der Netizens wie Wired eine Zeile wert.
Darüber
hinaus ist das Thema ICANN den interessierten Usern durch verschiedene
Fachveranstaltungen ins Bewusstsein gerufen worden. Auf der Tagung des
ICANN-Studienkreis im März, beim Bertelsmann Seminar im Juni oder beim
ECLIP Seminar im August hatten Interessierte die Möglichkeit zur
Information und zum Austausch.
Die starke Beachtung, die den ICANN-Wahlen hierzulande entgegengebracht wird,
hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die thematische Verknüpfung von
Internet und Governance in Deutschland auf eine breitere Schicht von Interessenten trifft.
Könnte es sein, dass wir zwar weniger Nutzer insgesamt haben, dafür aber über
eine politischere Userschaft verfügen? Haben die Deutschen mehr "Spaß´" an ernsten
Internetthemen, wie Regulierung und Verwaltung? Oder wollen die Deutschen bei einer
Weltbehörde, auch wenn sie nur Zahlen und Namen verwaltet, unbedingt mitmischen?
ICANN-Kenner Professor Wolfgang Keinwächter (Leipzig) meint dazu: "Deutschland ist zwar,
bezogen auf
das Internet, nur im europäischen
Mittelfeld aber diejenigen, die drin sind, sind besonders aktiv." Also doch die berühmte
Gründlichkeit?
Ebenso wenig wie man bei ICANN weiß, aus welchen Bevölkerungsschichten sich die
@Large Wähler rekrutieren, warum sie sich registrieren lassen und ob sie am Ende
tatsächlich von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen werden, kann man diese Fragen
beantworten.
Die starke deutsche Beteiligung an den Wahlen lässt allerdings einen -wenn auch
spekulativen- Schluß zu: Die Chancen, dass ein Deutscher den Posten des
europäischen Internetdirektors erringt, stehen gut. Ob dann jedoch der Telekom-Mann
Schüler, der Netizen Andy Müller-Maguhn oder die Netz-Wissenschaftlerin
Jeanette Hofmann das Rennen macht, hängt nicht zuletzt damit zusammen, ob das
gros der Wähler einen unabhängigen Experten für geeigneter hält,
ihre Interessen zu vertreten. Bis es soweit ist, können sich die registrierten
Wähler in dem bei ICANN eingerichteten "Question and Answer" Forum informieren
oder im
europäischen Forum von Fitug diskutieren.