Down and out, on the Road
The Homeles in American History
Wie in Europa so gab es auch in den nordamerikanischen Kolonien schon im 17. Jahrhundert Obdachlosigkeit. Während hierzulande aber der Dreißigjährige Krieg große Zahlen von Menschen entwurzelte, war die Zahl der Obdachlosen in Nordamerika bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein noch sehr begrenzt. Erst die dann einsetzende Industrialisierung ließ die Anzahl der Obdachlosen langsam ansteigen.
Noch einschneidender war der amerikanische Bürgerkrieg, an dessen Ende 1865 sich eine lang andauernde Hochphase der Obdachlosigkeit anschloß. Dafür gibt es viele Gründe: neben den sich periodisch wiederholenden wirtschaftlichen Rezessionen, die immer wieder neue Menschen auf die Straßen spülten, lagen die Gründe im nunmehr gut ausgebauten Einsenbahnnetz, das die jetzt “Hobos” oder verächtlich “Tramps” genannten Obdachlosen schwarzfahrend zur Fortbewegung nutzten und in der (im Krieg gemachten) Erfahrung vieler Männer mit dem Lagerleben. Viele Bürger in den ländlichen Gebieten trafen zum ersten Mal auf Obdachlose, deren Anblick bis dahin nur in den großen Städten alltäglich gewesen war, – und reagierten verstört. Gruselgeschichten von gewalttätigen “Tramps” füllten die Gazetten. Im 20. Jahrhundert nahm die Zahl der Obdachlosen langsam wieder ab.
Erst die New-Deal-Regierung Roosevelts unternahm kurzzeitig große Anstrengungen der Fürsorge für Obdachlose (die allerdings abebbten, als erste Erfolge eintraten – nicht zuletzt deshalb, weil politische “pressure groups” für Obdachlose nicht existierten). Bis dahin war die Fürsorge immer eine lokale Angelegenheit gewesen, und die Politik schwankte zwischen Repression (Verurteilung wegen Landstreicherei, Zwangsarbeit) einerseits und Hilfe andererseits. Die Kultur der USA ist stark protestantisch geprägt, wozu Überzeugungen gehören, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, und dass Armen nur nach genauer Prüfung ihrer “Würdigkeit” gegeben werden solle. Gleichwohl haben sich immer Bürger gefunden, die in Anbetracht der Not – speziell wenn diese massenhaft auftrat – halfen ohne mißtrauische Prüfung der Bedürftigen.
Während in den Jahren 1945-1975 die Obdachlosigkeit zu einem Randproblem geworden war, das vor allem eine umgrenzte Gruppe älterer Männer betraf, nahm in den 80er Jahren die Obdachlosigkeit wieder rasant zu. Auch änderte sich ihr Gesicht: Zwar hatten Schwarze (und vereinzelte Frauen) immer zu den Obdachlosen gehört, doch sind heute mehr Frauen und mehr Angehörige von Minderheiten denn je obdachlos. Auch, und das ist vielleicht das Bedrückendste der von Kusmer dargelegten Statistiken, sind Obdachlose heute wesentlich ärmer als vor einer oder zwei Generationen, als es noch kleine, oft saisonale Jobs für Obdachlose gab, die es ihnen ermöglichten, ein simples Zimmer oder zumindest ein Bett in einer Sammelunterkunft zu bezahlen. Heute bleibt nur noch die Suppenküche, das Betteln auf der Straße und, wenn überhaupt, der “welfare check”. Zudem sind in der Ebbe-Zeit der Obdachlosigkeit in der 50er-70er Jahren viele städtische Wohngebiete mit preiswertem, sehr einfachem Wohnraum, in denen sich Obdachlose konzentrierten (“skid row”), “saniert” worden, wodurch erschwinglicher Wohnraum ersatzlos vernichtet wurde.
Will er die Geschichte von Städten und Gemeinden schreiben, bedient sich der Historiker verschiedener Quellen wie z.B. Volkszählungen, Steuerakten, Adreßbücher, Kataster. Das meiste davon liegt für Obdachlose nicht vor, denn diese haben keinen Wohnsitz, zahlen keine Steuern etc., lediglich Polizei und Justiz sowie caritative Organisationen und Kommunen hinterlassen gewisse Akten, die Auskunft über Obdachlose geben, wozu manchmal noch Selbstzeugnisse treten.
Kenneth Kusmer, Professor für Geschichte in Philadelphia und Spezialist für Stadtgeschichte der USA, hat eine bemerkenswerte Arbeit vorgelegt, in der er verschiedene Quellen nutzt und in eine große Übersicht integriert. Dabei verweilt er nicht nur auf der Ebene des Zusammentragens von Fakten über Wirtschaftskrisen, Übernachtungszahlen Obdachloser oder deren Verurteilung durch Gerichte. Vielmehr erarbeitet er parallel eine Mentalitätsgeschichte der Haltung der Mehrheit der Bevölkerung zu den Obdachlosen und Armen. Dabei fällt ihm auf, dass häufig die Arbeiterklasse, also Menschen, die selbst zumeist eine bescheidene und auch abstiegsgefährdete Existenz führen, am meisten Solidarität mit den sozial Abgestürzten zeigen. Aber auch viele aus dem Bürgertum gaben und geben Bettlern oder engagierten sich bei der Eröffnung von Suppenküchen, oft durchaus zum Mißfallen der Fürsorge-“Profis”, also der Sozialarbeiter, die besonders im 19. und frühen 20. Jahrhundert häufig einen kontrollierenden und disziplinierenden Ansatz verfolgten.
Mentalitätsgeschichtlich ist die interessanteste Periode – die Kusmer meisterhaft beleuchtet – die Zeit von 1865 bis zum ersten Weltkrieg, die Zeit, in der die Masse der US-Bürger überhaupt Bekanntschaft mit Obdachlosen macht. Als Reaktion folgt eine Phase der Angst vor Obdachlosen und deren Verfemung, dann Gewöhnung bis hin zu Anzeichen von Verständnis und teilweise Solidarität. Kusmer analysiert dazu Presseartikel, Romane, “Hobo”-Gedichte und die ersten Filme bis zu Chaplins “The Kid”. Wo es möglich ist, stellt er dem medialen und orbrigkeitlichen Bild des Obdachlosen die Realität gegenüber. Auch eher unerwartete Themen schneidet er an wie die Sexualität der Obdachlosen oder die Rolle der (wenigen) obdachlosen Frauen. Wiewohl er in den Obdachlosen zuerst Opfer sieht, vergißt er doch nie, dass sie, auch in der Not, selbst ihr Leben gestalteten, ja dass manche – vor allem junge Männer – das ungebundene Leben selbst wählten, um einem ungeliebten familiären Umfeld und insbes. unerträglichen Arbeitsbedingungen der Fabriken des 19. Jahrhunderts zu entkommen.
Buch-Info Kenneth Kusmer: Down and out, on the Road. The Homeles in American History. Oxford u.a. (Oxford Univ. Press) 2002 |
Kusmer betont als Quintessenz seiner Studie, dass Obdachlose sich kaum vom arbeitenden Durchschnittsamerikaner unterscheiden. Sie sind nur ärmer! Behauptungen, Obdachlose seien überwiegend psychisch krank und deswegen kaum integrierbar in die Gesellschaft, weist er zurück. Als ermutigenden Mentalitätswandel hält er fest, dass es in den USA nie so viele Menschen gegeben hat, die sich für die Rechte Obdachloser einsetzten, wie heute.
Als Autor steht Kusmers mit seiner Sympathie für Obdachlose auf dem US-amerikanischen Buchmarkt nicht allein da, wenngleich er in besonderer Weise durch historische Tiefenschärfe beindruckt (1).
Die letzte große Welle der Obdachlosigkeit erlebte Deutschland infolge des Bombenkriegs im 2. Weltkrieg und durch die anschließende Vertreibung von 10 Millionen Menschen aus dem deutschen Osten und Ostmitteleuropa. Durch große Anstengungen wurde hierzulande in den 50er Jahren der benötigte Wohnraum geschaffen, überwiegend durch die Privatwirtschaft (Versicherungen z. B. legten ihre Gelder damals vorrangig in Wohnimmobilien an). In den USA wüteten – vom 1865 beendeten Bürgerkrieg abgesehen – niemals solche Kriege. Vielmehr muß die hohe Obdachlosigkeit dort als ein Signum der für die Mehrheit typischen Mobilität angesehen werden – der räumlichen aber vor allem sozial-beruflichen Mobilität. Einer Mobilität, die die Möglichkeit zum Aufstieg eröffnet, aber auch das Risiko des Abstiegs im Falle von familiären, gesundheitlichen oder geschäftlichen Unglücksfällen in sich birgt. Kusmer bemerkt interessanterweise, dass es in den USA Einwanderergruppen – wie z.B. Juden und Italiener – gab, die trotz relativer Armut größeren Zusammenhalt bewahrten und aus deren Kreisen sich kaum Obdachlose rekrutierten, da deren Arme als Bettler oder Gelegenheitsarbeiter in ihre Familien und Wohnviertel integriert blieben. Staatliche soziale Netze hingegen sind in den USA offenbar nicht dicht genug geknüpft, um Arme vor der Obdachlosigkeit zu bewahren.
Fazit: Eine sehr gelungene, detailreiche, umfassende Geschichte der Obdachlosigkeit, einer Erscheinung, die zu dem gehört, was ein deutscher Autor schon vor 50 Jahren die “Kehrseite der USA” genannt hat.
Erschienen am 14. 02. 2002
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1. Siehe z.B. die Buchhinweise auf: www.anotherwaytohelpthehomeless.com/notably_new.htm