Die Piraten und die Generation ihrer Wähler verstehen das Internet nicht als Technologie, sondern nutzen es als neues Handlungsinstrument. Nirgends wird dies so deutlich wie in den sozialen Medien.
Als die stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion Bärbel Höhn in der Anne-Will-Sendung am Mittwochabend schon fast entschuldigend zum designierten Berliner Piraten-Abgeordneten Christopher Lauer sagte, auch sie “gucke Internet“, wurde der ansonsten recht zurückhaltende 27-Jährige ein einziges Mal laut. Genau das sei der Unterschied zwischen den etablierten Parteien und der Piraten-Partei, rief er mehrfach und sichtlich amüsiert in die Runde. Seine Partei “gucke” eben nicht Internet. Leider kam er nicht dazu, das zu erklären. Was also meint er damit?
Eine Antwort auf diese zunächst rein linguistisch anmutende Frage lieferte vergangene Woche die in Wien tagende Konferenz “Challenge Social Innovation“, auf der internationale Sozialwissenschaftler die Rolle von sozialen Innovationen für moderne Wissensgesellschaften untersuchten. Soziale Innovationen sind – stark verkürzt – neue Handlungsweisen, die von vielen Menschen genutzt werden. Die von Nobelpreisträger Muhammad Yunus entwickelten Mikrokredite sind so eine soziale Innovation: Sie sind eine neue Handlungsweise (von Banken), die von vielen Menschen (ärmeren) genutzt werden. Neue Managementkonzepte, die etwa Gruppenarbeit und flache Hierarchien favorisieren, sind stets soziale Innovationen, denn sie erneuern Handeln und Produkte, ohne dabei auf eine greifbare, eine “technologische” Komponente angewiesen zu sein.
(“Anne Will” – Sendung vom 21. September 2011)
Wenn nun Bärbel Höhn ins “Internet guckt”, nutzt sie das Netz als Technologie der linearen Verbreitung von Informationen – wie einen Fernseher oder das Radio und steht mit beiden Beinen im Industriezeitalter. Die Piraten hingegen gehören zu der im Netz und in der Wissensgesellschaft sozialisierten Generation. Diese sehen das Internet als eine soziale Innovation an. Die von ihnen verstärkt genutzten sozialen Medien wie Wikipedia, Twitter oder Blogs beruhen ursprünglich auf simplen Technologien. Das wirklich Innovative an diesen Technologien ist die Art und Weise, wie Menschen mit ihnen umgehen: Sie erstellen gemeinsam Texte, Ideen, Konzepte. Sie diskutieren, verwerfen, holen Rat ein und dies alles unter den Augen einer Öffentlichkeit, die zu fast jedem Spezialgebiet Experten bereit hält.
Dabei ist es nur logisch, dass die Piraten offen eingestehen, für viele Probleme keine Lösungen zu kennen. Denn sie sind in einer Diskussionskultur groß geworden, in der es immer einen Kommentator gibt, “der seine zweite Doktorarbeit zum diskutierten Thema geschrieben hat und sich besser auskennt”, wie Sascha Lobo, einer der Netz-Vordenker, schreibt. Es ist also besser, Nichtwissen offen zu legen als dies durch die Netzgemeinde und deren entlarvende Wikis offen gelegt zu bekommen. Nichtwissen ist in dieser Kommunikationskultur auch konstruktiv.
Diese Arbeitsform unterscheidet sich vollständig von der Kommunikationsform der Industriegesellschaft und der der etablierten Parteien: Die eine Partei versteht das Internet als Technologie und “guckt Internet”, während die andere im Internet lediglich die Technologie sieht, die eine neue Kommunikationskultur technisch ermöglicht: Die partizipative, schrittweise, verteilte, sich stets aktualisierende und revidierende sowie transparente gemeinsame Arbeit. Diese verhält sich zum “Internet gucken” in etwa so wie der Buchdruck zur Kanzelpredigt im Mittelalter. Durch die Verfügbarkeit von Bibeln in vielen Haushalten verlor die Kirche ihre Alleinstellung bei der Verbreitung von deren Inhalten. In der Folge musste sie sich mit neuen Interpretationen und Diskursen auseinandersetzen – und schließlich mit einem stärkeren Wunsch nach Partizipation.
Das von den Piraten zuvorderst als soziale Innovation verstandene Internet ist das Gegenteil einer technologischen Innovation: Während technologische Innovationen – zum Beispiel neue Maschinen oder Materialien – immer “greifbar” sind, bleiben soziale Innovationen nur im Verhalten von Menschen identifizierbar. Damit stellen sie ein Innovationsparadigma dar, das dem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft entspricht. Denn während die Industriegesellschaften von immer neuen technologischen Produkten profitierten, tragen in den Wissensgesellschaften in immer stärkerem Maße Dienstleistungen zu Wertschöpfung und Beschäftigung bei.
Doch – so das Fazit der weiter oben angesprochenen Wiener Tagung – die Politik ist in Sachen Innovation noch nicht in der Wissensgesellschaft angekommen, sondern denkt bei Innovationen noch immer an Patente und Geräte. Dagegen sollte das Internet als soziale Innovation begriffen werden.
Ein sehr guter Artikel zum Verständnis der Sache. Habe es “geschnallt” obwohl ich schon fast 63 Jahre bin. :-))
Leider wurde bei Anne Will nur über die Piraten gesprochen, aber nicht mit ihnen. Die Grünen sind eben Stockkonservativ, Fortschrittsfeindlich und Rückwärts gewandt.
Schade, dass ick mich nicht auch hab wählen lassen, ich könnte die vier Mille gut gebrauchen. In fünf Jahren könnt Ihr mich auch wählen, bis dahin bin ich erwartungsvoll und optimistisch gegenüber den Piratten. Wahrscheinlich aber ist es eher so: http://kiekste.wordpress.com/2011/09/29/optimismus/
Die etablierten Parteien werden lernen und sich einiges von den Piraten abschauen. Besonders bei der FDP dürfte diese Entwicklung recht bald offensichtlich werden. Ich würde wetten, dass wir ein System wie Liquid Democracy demnächst auch bei den etablierten kleineren Parteien sehen werden.
Aber politisch ist noch nicht sicher, ob diese “soziale Innovation” irgendwelche Folgen hat. Die Erwartungen an neue partizipative Technologien von Bürgerradio bis web 2.0 waren jedes Mal hoch. Nur führten die technischen Innovation und die damit verbundenen veränderten Kommunikationsströme nicht zu einer inhaltlichen Veränderung der Politik (nicht mal zu einer inhaltlichen Veränderung der Medien). Deshalb halte ich es für wahrscheinlicher, dass die Piraten zwar jetzt modisch sind, aber folgenlos bleiben. In wirklichen sozialen Fragen sind sie in ihrer Programmatik teilweise indifferent, teilweise altbacken konservativ.
Hohn und Spott über die Grünen auszuschütten,weil sie nicht mehr alle ganz frisch kann ich zwar verstehen, ist aber nicht besonders souverän.
Ob die Piraten in 30 Jahren besser dastehen, mit einem vollständigen Programm und konsistenten Positionen wird sich zeigen. Und ob sie dann noch alle sozialen Innovationen sofort umarmen wird sich auch zeigen müssen.
Bei der Gleichberechtigung haben sie jedenfalls eine soziale Innovation verpasst oder nicht verstanden.
Zuzugeben, keine Ahnung zu haben, wenn man keine hat, ist erstmal gut, richtig wichtig wird es aber erst, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, das richtige Wissen parat zu haben. Ich traue das den Piraten zu. Sie müssen es aber noch beweisen.
Ich finde es gut, dass es jetzt noch eine Partei gibt, die die Möchtegern Bürgerlichen aus dem Bürgertum verdrängt.
Auf gute Zusammenarbeit!
Ohje! Da wird sich an Frau Höhn aufgegeilt. Es gibt auch junge Grüne, die sich auskennen. Und zudem sind die auch noch politisch kompetent und denken nicht, dass Frauen Unglück an Bord bringen..
Garantiert politikfrei:
http://www.neues-deutschland.de/artikel/207468.smarte-streber-mit-skorbut.html
Liest man diesen Artikel heute, wo die Piraten als eine Ansammlung eitler Selbstsdarsteller entlarvt sind und die vermeintliche soziale Innovation des web 2.0 von den Protagonisten zum Austragen ihrer Schlammschlachten genutzt werden, muss man fast schmunzeln. Umso trauriger, dass sich auch Vertreter der Wissenschaft von diversehen Hypes derart anstecken lassen, dass solche Artikel ohne Aussage entstehen. Einfach nur, damit sie da sind. Auf der Veröffentlichungsliste.