Mit dem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus und damit ins erste deutsche Landesparlament gelang den Piraten ein historischer Erfolg in ihrer erst fünfjährigen Parteigeschichte. Auch die Grünen konnten deutlich zulegen, blieben aber weit hinter ihren Erwartungen. Die FDP ist wie erwartet der große Verlierer. 

Die SPD ging bei der Berlin-Wahl mit ihrem Spitzenkandidaten und amtierenden Bürgermeister Klaus Wowereit mit einem Ergebnis von 28,3 Prozent (= 48 Sitze) wie erwartet als Sieger hervor, während sich die CDU mit 23,4 Prozent (= 39 Sitze) im Vergleich zur letzten Wahl leicht verbessern konnte. Die Grünen landeten mit 17,6 Prozent (= 30 Sitze) auf Platz 3 und ließen die Linkspartei, die nur 11,7 Prozent (= 20 Sitze) erhielt, weit hinter sich. Die FDP erreichte mit nur 1,8 Prozent ein desaströses Ergebnis und wird zukünftig nicht mehr im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten sein. Für die eigentliche Überraschung sorgten jedoch die Piraten. Sie traten erstmals in Berlin an und zogen auf Anhieb mit einem sensationellen Ergebnis von 8,9 Prozent (= 15 Sitze) ins Berliner Abgeordnetenhaus ein – und enterten zudem auch alle Bezirke.

politik-digital.de geht dem Erfolg der Piraten auf den Grund.


Piraten mobilisieren Nichtwähler

Wenig überraschend ist die Wählerwanderung zu den Piraten. Laut Infratest dimap konnten sie vor allem Wähler von Grünen, SPD und Linkspartei abwerben, deutlich weniger von CDU und FDP. Jeweils rund 21.000 Stimmen erhielten die Piraten von sonstigen Wählern und Nichtwählern. Insbesondere letztere konnten sie als einzige Partei in bedeutender Zahl mobilisieren: Das ist insofern interessant, als die Wahlbeteiligung im Vergleich zur Berlin-Wahl 2006 leicht um 2,2 Prozentpunkte auf 60,2 Prozent stieg. Nun folgend zwei Grafiken zur Wählerwanderung:

 

(Quelle: RBB Abendschau vom 18.9.11 – Screenshot)

 

Die Hochburgen der Piraten

Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zählt eindeutig zum größten Piratenhafen in Berlin – hier erzielten sie 14,7 Prozent und liegen damit deutlich vor der CDU (8,4 Prozent) und knapp vor der Linkspartei (13 Prozent). Bereits im Vorfeld war klar, dass dieser Bezirk ein Sammelbecken für potenzielle Piratenwähler ist. Die Höhe der insgesamt erhaltenen Wählerstimmen erstaunten hier wie auch im restlichen Berlin zuvorderst die Piraten selbst. So zumindest lässt sich erklären, dass sie in einzelnen Bezirken teilweise zu wenige Kandidaten nominiert haben, so dass einige Plätze in den Bezirksparlamenten unbesetzt bleiben werden. Überdurchschnittliche Ergebnisse im Vergleich zu den berlinweit errungenen 8,9 Prozent erzielten die Piraten auch in Pankow (10,5 Prozent), Mitte (10,4 Prozent), Neukölln (9,6 Prozent), Treptow-Köpenick (9,3 Prozent) und Lichtenberg (9,3 Prozent).

Die politischen Forderungen

Zu den politischen Forderungen der Berliner Piraten, die unter Einbeziehung des Beteiligungstools Liquid Feedback von den Parteimitgliedern erarbeitet und aufgestellt wurden, gehören u.a.:

  • Förderung von Transparenz und Bürgernähe
    in Politik und Verwaltung (Open Government)
  • Einsatz für gesetzlichen Mindestlohn und ein
    Grundeinkommen auf Bundesebene
  • Aufbau eines flächendeckenden und kostenlos
    nutzbaren Freifunknetzes (WLAN-Hotspots)
  • Übergabe der Berliner S-Bahn in kommunale Hand
    und kostenloser öffentlicher Nahverkehr
  • Rückabwicklung der Verträge zur Teilprivatisierung
    der Berliner Wasserbetriebe
  • freier Zugang zu öffentlichen Daten und öffentlich finanzierten Werken
  • kostenloses Mittagessen und Obstprogramm, multilingualer
    Unterricht und maximal 15 Schüler pro Lehrer an Berliner Schulen
  • Legalisierung von Cannabis

Hier zeigt sich, dass die Piratenpartei über ihre Kernthemen hinaus versucht hat, weitere politische Themen zu besetzen. Eine realistische Gegenfinanzierung der Vorhaben, insbesondere in punkto „Gratiskultur“, lässt sich jedoch bislang nicht finden. Und auch die Frage, mit welchen Partnern und Mitteln sich diese Ziele umsetzen lassen werden, wird noch zu beantworten sein. In einem Interview bei ntv.de stellt der neue Berliner Abgeordnete Christopher Lauer zu den inhaltlichen Anforderungen fest: „Seit Sonntag hat sich da natürlich noch nicht viel getan, aber uns ist klar, dass der ‚Dilettantenbonus’ nicht lange hält. Wir werden überall dort, wo es sich im politischen Alltag anbietet, Positionen entwickeln.“ 

Wichtige Faktoren für den Wahlerfolg

Es war in Berlin, wo sich die noch junge Piratenpartei am 10. September 2006 gründete. Seither setzt sie sich vornehmlich für die Freiheit des Internet ein. Sie sieht sich als Teil einer weltweiten Bewegung, die sich für Bürgerrechte im digitalen Zeitalter engagiert. Hierzulande haben die Piraten bei der Bundestagswahl 2009 für einen ersten Achtungserfolg gesorgt. Schon damals zeigte sich, dass das größte Wählerpotenzial in der Hauptstadt verortet ist. Nichtsdestotrotz war es öffentlich und medial seitdem etwas ruhig um die Piraten geworden, die eine sozial-liberale Ausrichtung haben, jedoch keinem einseitigen Links-Rechts-Schema zugeordnet werden wollen. Interessante Erklärungsversuche und Analysen, warum sie nun dennoch die Fünf-Prozent-Hürde übersprangen, gab es im Vorfeld der Berlin-Wahl viele. Zum einen nimmt Berlin eine besondere Rolle beim Thema Netzpolitik ein. Der Politikwissenschaftler Prof. Christoph Bieber brachte es auf den Punkt: „Berlin [ist] die Stadt von Internet-Enquete und digitaler Gesellschaft, hier wohnen Markus Beckedahl, Sascha Lobo und der Chaos Computer Club, und es gibt das betahaus, Soundcloud und bald auch das Google-Institute.“ Zum anderen konzentrieren sich in der deutschen Hauptstadt die typischen Piratenwähler: Der Göttinger Parteienforscher Alexander Hensel stellte kürzlich bei Spiegel Online fest, dass hierzu „erstens jüngere, gut gebildete Männer mit hoher Affinität zu digitaler Technik und Kultur“ zählen. „Hinzu kommen zweitens die sogenannten Digital Natives.“ Und schließlich „die Strömung der neuen Basisdemokratie.“

Außerdem gibt es in Berlin traditionell ein hohes Potenzial an Wählern, die die sogenannten sonstigen Parteien wählen. Neben der Abwanderung enttäuschter Wähler von den etablierten Parteien besitzen die Piraten auch wegen ihrer politischen Unverbrauchtheit eine gewisse Attraktivität und profitieren von der verbreiteten Politikverdrossenheit. All diese Faktoren bilden eine wesentliche Grundlage für den Erfolg der Piraten. Ihnen ist es gelungen, gerade die eben beschriebenen Gesellschaftsgruppen mit ihren Themen rund um informationelle Selbstbestimmung, Transparenz und Bürgerbeteiligung verstärkt anzusprechen und in ihrem Sinne zu aktivieren. Hinzu kommt die in den vergangenen Wochen rapide gewachsene mediale Aufmerksamkeit durch steigende Umfragewerte. Diese signalisierten den Wählern, dass die Piraten eine realistische Chance auf den Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus haben – das bewirkte einen zusätzlichen Schub. Zudem ist es den Piraten erfolgreich gelungen, in der Öffentlichkeit das Bild von der Ein-Themen-Partei zurechtzurücken.

Die politischen Köpfe der Berliner Piraten


(Erste Pressekonferenz der neuen Abgeordneten der Berliner Piraten)

Zum Selbstverständnis der Piraten zählt eine ausgeprägte Abneigung gegen autoritäre Strukturen und feste Hierarchien. Das wurde auch im Berliner Wahlkampf deutlich, wo nicht einzelne Personen im Mittelpunkt standen. Die Piraten haben gezeigt (u.a. mit ihren Wahlplakaten), dass es auch anders geht. Nichtsdestotrotz ist es interessant zu wissen, wer jetzt für die Piraten ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen wird. Insgesamt 15 Piraten werden zukünftig dort vertreten sein. Hier eine Auswahl von drei zukünftigen Piraten-Abgeordneten:

Andreas Baum (33) ist der Spitzenkandidat der Berliner Piraten und wird sich im Berliner Abgeordnetenhaus vor allem mit den Themen S-Bahn, Stadtentwicklung und Verkehr beschäftigen. Der gelernte Industrieelektroniker ist Mitgründer der Piratenpartei und war drei Jahre lang Vorsitzender des Berliner Landesverbandes. Er gehört also zu den Piraten der ersten Stunde. Zu seinen wichtigsten Zielen zählt die Schaffung von mehr politischer Teilhabe für die Bürger – zugleich ein wesentliches Anliegen der Piraten. Er ist von der Idee der „Liquid Democracy“ überzeugt.

Neben Baum ist der auf dem Listenplatz zehn stehende Christopher Lauer (27), dessen Schwerpunktthemen Bürgerbeteiligung und Transparenz sind, im Wahlkampfendspurt in den Medien am gefragtesten gewesen. Er studiert Kultur und Technik an der TU Berlin und trat den Piraten im Juni 2009 bei. Als politischer Geschäftsführer der Piratenpartei Deutschland war er maßgeblich für die bundesweite Einführung der auf der Open-Source-Software Liquid Feedback basierenden Liquid-Democracy-Plattform verantwortlich, die der innerparteilichen Meinungsbildung dient. 

Mit der 19-Jährigen Abiturientin und stellv. Vorsitzenden der jungen Piraten Susanne Graf zieht immerhin auch eine weibliche Piratin ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Ihr liegt es besonders am Herzen, ein Wirtschaftsprogramm für die Partei mit zu entwickeln. Auch für sie sind die Schaffung von mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung ein wichtiges Anliegen. Im Berliner Abgeordnetenhaus will sie sich vor allem der Jugendpolitik widmen.

Einen Überblick zu allen 15 Piraten-Kandidaten gibt es hier. Davon, wie diese Persönlichkeiten sich im parlamentarischen Alltag schlagen werden und in der Öffentlichkeit auftreten, wird sehr stark abhängig sein, wie und ob die Piratenpartei auch längerfristig einen festen Platz in der Parteienlandschaft einnehmen wird. Nach dem Selbstverständnis der Piraten wäre es für sie auch kein Schiffsbruch, falls die anderen Parteien ihre Themen kapern sowie umsetzen würden und damit die Piraten überflüssig machten. Unabhängig davon, wie sie sich im parlamentarischen Alltag schlagen werden: Dass das Thema Netzpolitik mittlerweile mit der Internet-Enquete auch Eingang in den Deutschen Bundestag gefunden hat, ist sicher auch ihr Verdienst. Die Netz-Community hat nun eine politische Vertretung im Berliner Abgeordnetenhaus und die etablierten Parteien werden sich noch intensiver mit netzpolitischen Themen sowie Transparenz und Bürgerbeteiligung auseinandersetzen müssen.

Wahlanalyse und Ausblick

Doch welche interne Bedeutung hat das Wahlergebnis für die Piraten und welche Perspektiven eröffnet es für die Zukunft? Dazu ein Kommentar vom Politikwissenschaftler Christoph Bieber. Er ist Professor für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft an der Universität Duisburg-Essen und stellv. Vorsitzender von pol-di.net e.V. Die Schwerpunkte seiner Tätigkeit liegen auf den Auswirkungen neuer Medien auf politische und gesellschaftliche Prozesse.

Hier geht es weiter zum Kommentar von Prof. Christoph Bieber

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