Sie haben es also geschafft – mit 8,9 Prozent zieht die Piratenpartei erstmals in ein Länderparlament ein. Der Berliner Wahlerfolg stabilisiert die Partei mit Blick auf die Bundestagswahlen, birgt aber auch Konfliktpotenzial für die interne Programm- und Strategiedebatte.
Mit dem erzielten Wahlergebnis werden die optimistischen Prognosen der letzten Wahlkampfwochen tatsächlich erreicht. Sämtliche 15 Kandidaten der Landesliste „entern“ nun das Berliner Abgeordnetenhaus und fügen dem Parteiensystem der Hauptstadt einen neuen Farbakzent hinzu. So bemerkenswert diese Entwicklung auch ist, sie lässt sich aus unterschiedlichen Gründen recht gut erklären – und dürfte bis auf weiteres eine Ausnahme bleiben. Der Berliner Wahlerfolg stabilisiert die Partei einerseits mit Blick auf die Bundestagswahlen (voraussichtlich 2013), birgt aber auch einiges Konfliktpotenzial für die interne Programm- und Strategiedebatte.
Der Einzug ins Abgeordnetenhaus muss als singuläres Ereignis betrachtet werden und steht in keinem direkten Zusammenhang mit den bisherigen und voraussichtlich auch nicht mit künftigen Wahlkämpfen der Piraten. Das „Heimspiel“ in der Hauptstadt der deutschen Netzpolitik hat der Berliner Landesverband letztlich mit großem Erfolg gestaltet, konnte dabei eben auch auf den Vorteil einer vergleichsweise überschaubaren Wahlkampfarena bauen, mit zunehmender Wahlkampfdauer auch auf nervös reagierende Gegner. Die personell wie finanziell im Vergleich zu den etablierten Parteien schwach ausgestatteten Piraten mussten sich und ihre Ziele nicht in der Fläche bekannt machen wie etwa in Nordrhein-Westfalen (Mai 2010) oder Baden-Württemberg (März 2011), wo die Stimmenanteile bei jenen gut 2 Prozent aus dem Bundestagswahlkampf 2009 stagnierten. Vor allem ein Umstand unterscheidet die Wahlkampfarena von den Stadtstaaten Bremen und Hamburg, wo die Piraten den Einzug in die Bürgerschaft jeweils deutlich verpasst haben: Die bundespolitisch geprägten Diskurse um digitale Bürgerrechte sind beinahe nahtlos mit der Berliner Landespolitik verknüpft, eine solche Verzahnung gab es in den Hansestädten nicht. Ob Internet-Enquete, „Freiheit statt Angst“-Demonstration, re:publica oder Chaos Computer Club – zentrale Akteure, Ereignisse und Offline-Schauplätze netzpolitischer Debatten sind in Berlin beheimatet. Diese Situation spielt den Piraten deutlich in die Hände, sie genießen ein automatisches Aufmerksamkeitsplus, da sie noch immer als die „Partei aus dem Internet“ wahrgenommen werden.
Daran ändert auch die gar nicht so behutsame Öffnung für landespolitische Themen nicht viel. Den größten Zulauf dürfte die Piratenpartei weniger aufgrund ihres Wahlprogramms, sondern durch ihr Image als „andere“ Parteiorganisation verzeichnet haben. Blickt man im Ländervergleich über die bisherigen programmatischen Ansätze, so findet sich dort keine stringente Linie, sondern ein eher undurchsichtiger Wildwuchs. Energiepolitik in Nordrhein-Westfalen, Schulpolitik in Hamburg, öffentlicher Nahverkehr und Stadtfinanzen in Berlin – die Orientierung an der landespolitischen Agenda ist zwar der Ansprache „neuer“ Zielgruppen geschuldet, taugt aber wenig zur künftigen Schärfung eines konsistenten Parteiprogramms.
An dieser Stelle der noch jungen Parteigeschichte könnte der Berliner Wahlerfolg eine Zäsur markieren – wird der Berliner Landesverband seinen Erfolg als Machtressource in innerparteiliche Flügelkämpfe einbringen, etwa in der Auseinandersetzung mit den Piraten in Bayern und Baden-Württemberg? Werden die neu gewählten Parlamentarier qua Mandat nun doch als jene „Parteielite“ angesehen, für die bisher das basisdemokratische Konzept keinen Platz vorgesehen hatte? Wie wirkt sich die Tatsache aus, dass nur eine Frau ins Abgeordnetenhaus einzieht, aber gleich 14 Männer – welchen Effekt hat diese Schieflage in der öffentlichen Diskussion? Sollte man sich vielleicht doch Gedanken über das interne Nominierungsverfahren machen und welche Rolle spielt dabei das Internet als Entscheidungsraum? Sind im Berliner Straßenwahlkampf auch erste Bewerbungen für einen vorderen Platz auf der virtuellen Bundesliste formuliert worden? Das sind nur einige Fragen, die die interne Debatte um die Zukunft der Partei in den nächsten – weitgehend wahlfreien – Monaten befeuern dürften.
Die internen Effekte der Wahl zum Abgeordnetenhaus spielen für die künftige Parteientwicklung vermutlich eine größere Rolle als die konkrete Performance der piratischen Abgeordneten. Dass sie im parlamentarischen Alltagsgeschäft werden Lehrgeld zahlen müssen, scheint ausgemachte Sache, ist aber für eine so junge Gruppierung jedoch alles andere als unüblich. Zur Erinnerung: Die formale Parteigründung datiert zwar auf 2006, die Entwicklung hin zur aktuellen Struktur mit gut 12.000 Mitgliedern und einem netzpolitischen Markenkern hat jedoch erst im Sommer 2009 begonnen. Dass sich in dieser Zeit noch keine professionellen Strukturen und auch noch keine professionellen Kandidaten aufbauen lassen, ist für die Piraten selbst die geringste Überraschung.
Die gespannte Erwartung mancher Beobachter, wie – oder ob – sie sich im mitunter drögen Alltag des Abgeordnetenhauses werden behaupten können, sorgt parteiintern für wenig Aufregung – die konkreten Beteiligungschancen und der Einfluss auf politische Entscheidungen sind auch bei knapp neun Prozent überschaubar. Viel interessanter ist dagegen die Frage, ob die Piraten ihre „Nerdigkeit“ bewahren und sich mit der gleichen Energie in Sachthemen einarbeiten können wie sie sich in knifflige Programmier-Probleme oder komplexe Computerspiele einfuchsen. Eine Rolle als innerparlamentarisches Kontroll- und Transparenzorgan, das die „etablierte Politik“ nun aus unmittelbarer Nähe beobachtet und vielleicht auch den ein oder anderen innovativen Impuls in die politische Arbeit einbringt, könnte sich gut mit dem bisherigen Image als „digitale Alternative“ vertragen.
Die „Verschnaufpause“ bis zur nächsten Wahl im trotz der Küstenlage nicht als Piratenhochburg bekannten Schleswig-Holstein (6. Mai 2012) können und werden die Piraten zur internen Positionsbestimmung nutzen. Wie sich die durch den Berliner Erfolg motivierte Piratenflotte nun abseits des Wahlkampfgetümmels verhält, ist eine weitere offene Frage. Vielleicht gerät die zuletzt nicht mehr so relevante internationale Perspektive in den Blick – zumindest in Europa ist der Erfolg der Piratenpartei wohlwollend registriert worden und nicht nur in Schweden, dem politischen Ursprungsland der „Piratpartiet“, verspricht man sich nun Auftrieb für die zuletzt dümpelnden Piratenparteien.
Mit Blick auf die – voraussichtlich – 2013 anstehende Bundestagswahl ist dies jedoch eine sehr passende Dramaturgie, denn die Landtagswahlen waren stets Katalysatoren für die Rekrutierung von Neumitgliedern und die Festigung der oft noch spärlichen Offline-Infrastruktur. Der Wahlerfolg in Berlin ist somit nicht nur für den Moment bedeutsam, sondern hat für die Piratenpartei auch eine strategische Dimension: Durch die Verankerung in einem Landesparlament ist der erste Beweis der Alltagstauglichkeit erbracht, die nun allerdings auch die Anpassung an die von außen leicht zu kritisierenden Routinen des Politikbetriebs notwendig macht.
Um in der ihr eigenen Sprache zu bleiben: Die Piratenpartei gibt es seit dem 18. September 2011 nicht mehr als „Betaversion“, die in einem geschützten Testmodus operiert. Die Piraten müssen sich fortan unter Marktbedingungen mit der Konkurrenz messen lassen. Zumindest bis zum Release der nächsten Programmversion.
Die Piraten dürfen jetzt nicht naiv an automatisch folgende Erfolge glauben. Wähler sind zickig und wollen umgarnt und überzeugt werden und was in Berlin funktioniert hat wird auf Bundesebene so nicht klappen. Die kleine Partei muss themenmäßig expandieren und mehr als Kritik und utopisch charmante Forderungen vorzeigen.