Was heißt selbstbestimmtes Lernen heute und welche Rolle spielen digitale Medien dabei? 21 Autoren beschäftigen sich in Magdalena Taubes und Krystian Woznickis Sammelband „Modell Autodidakt“ mit Fragen rund um Medien, Bildung und Demokratie im digitalen Zeitalter. Heute wird das Buch in Berlin vorgestellt.
Vor einigen Tagen beanstandete der Verleger Rupert Murdoch in einem Gastbeitrag für die FAZ, die Schulen seien der letzte Hort, der sich der digitalen Revolution widersetzt. Können oder müssen wir Bildung also heute selbst in die Hand nehmen? In einer vernetzten und digitalisierten Welt ist der Zugang zu Bildung für fast jeden möglich geworden: Bildung 2011 ist mobil, flexibel und offen. Bibliotheken werden digitalisiert, Universitäten werden für immer mehr Menschen weltweit frei zugänglich, Wissen entsteht nach dem Wiki-Prinzip, Intelligenz bildet sich im Schwarm. Alles ist für alle rund um die Uhr zugänglich. Und diejenigen, die öffentlich zugängliches fremdes Wissen nur allzu dreist als ihr eigenes ausgeben, werden im Internet als Plagiatoren überführt. Macht diese Entwicklung den Weg zur Bildung aber auch leichter? Eines ist sicher: Die Menschen, die in bildungsfernen Milieus aufwachsen, haben kaum Vorteile aus diesem Prozess, weil sie die Möglichkeiten häufig schlicht nicht kennen. Für die gut Informierten aber – seien sie als sogenannte digital natives oder als digital immigrants mit den neuen Medien vertraut – bieten sich eine Vielzahl an Chancen. Eine Tatsache, die zugleich Ausgangspunkt für andere Probleme sein kann: Wie sollen wir mit den vielen Quellen des Wissens umgehen? Wie sie filtern? Und was bedeutet das alles für Lernende und Lehrende?
Die Herausgeber der Online-Zeitung "Berliner Gazette" – Magdalena Taube und Krystian Woznicki – haben 21 Autoren, Künstler, Wissenschaftler, Publizisten, Philosophen, Medienforscher, Kunst- und Kulturtheoretiker, Lehrende und Netzkritiker gebeten, sich diesen Fragen zu stellen. Die für das Buch erweiterten Texte entstanden im Rahmeneines Schwerpunkts der Berliner Gazette zum Thema Bildung und wurden mit dem AlternativenMedienpreis 2010 prämiert. Herausgekommen ist jetzt die Anthologie „Modell Autodidakt“, in der die vielfältigen Ansätze des Lernens vorgestellt werden. Besonders charmant und den ansonsten sehr unterschiedlichen Texten gemein ist die persönliche Note der Texte. Alle Autoren beschreiben ihre eigene Bildungswege, erzählen von ihren – positiven wie negativen – Erfahrungen mit Lehrern, Bildungsinstitutionen und selbst organisierten Wegen, Wissen zu erwerben und sich zu bilden.
Der aus Österreich stammende Schriftsteller und Ehrenmitglied im Chaos Computer Club Deutschland Peter Glaser
schwärmt vom lebenslangen Lernen, von immer vielfältigeren Zugängen zu
Wissen und von der demokratisierten Form des Lernens mit Facebook und
Twitter, weil jeder zu einem Anbieter von potenziell Wissenswertem
geworden ist – da Bildung nur zu einem kleinen Teil eine Frage von
Fakten sei. Die Nachteile sieht Glaser lediglich in der schnelleren
Entwertung von Wissen.
Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung sowie des Deutschen Kinderhilfswerks Thomas Krüger
hält ein Unterrichtsfach Medienkompetenz, das seit längerem diskutiert
wird, schlicht für „Blödsinn“, da digitale Medien Teil der Alltagskultur
Jugendlicher seien und die Lehrerinnen und Lehrer hier wohl mehr lernen
würden als die Schüler. Er plädiert für eine fächerübergreifende
Medienpädagogik in der Lehrerausbildung.
Einen originellen Ansatz verfolgt der der in London lebende Schweizer Philosoph Alain de Botton. Er hat ein leidenschaftliches Plädoyer für die Geisteswissenschaften verfasst. Seit dem Siegeszug der Naturwissenschaften im vergangenen Jahrhundert seien wir dazu verdammt, zu Lernspeichern zu werden, statt zu guten und weisen Menschen. Mit seiner 2009 gegründeten Londoner Universität des Lebens, der „School of Life“, setzt sich de Botton für die Auseinandersetzung mit Kultur ein, die lebensnahe Anleitung für die großen Fragen des Lebens geben könne. So sollten Universitäten auch Fächer wie Tod, Ehe, Karriere, Ehrgeiz und Kindererziehung anbieten. Vielleicht wäre das ja sogar eine Idee für die zunehmende Zahl sozial inkompatibler Internet-Freaks.
In der Einführung zum Kapitel „Wozu noch Schule“ bedauern die Herausgeber, dass Schule den dynamischen Veränderungen der Gesellschaft nicht Rechnung trägt.
Unter dem Titel „Kultur ohne Technik“ beklagt der Autor, Künstler und IT-Berater Manuel Bonik hier die Naivität vieler „digital natives“, die sich ihr Wissen aus Bequemlichkeit – oder weil sie es nicht besser wissen – „ergooglen“, ohne richtig mit der Suchmaschine umgehen zu können. Bonik ist sich sicher, dass viele Jüngere auch schlicht überfordert sind mit der Wissensmasse, mit der das Internet sie konfrontiert. Anstatt den Dingen aber auf den Grund zu gehen, geben sie sich mit der Oberfläche und „Wissen à la Wikipedia“ zufrieden.
Vielen fehlt offenbar eine Anleitung, wie sie mit der Vielzahl der Informationen umzugehen haben. Lehrer müssen in Zukunft noch vielmehr zu Vermittlern und Navigatoren durch den Wissensdschungel werden, um Lernende selbstständiger zu machen.
Auch der Medienforscher, Aktivist und Autor Konrad Becker setzt sich dafür ein, eine kritische und mündige Rezeption von Medien zu fördern. Er fordert, neben vielen anderen Autoren des vorliegenden Bandes im Kapitel „Offline war gestern“ einen freien Zugang zu Bildung und Wissen im Netz.
Der Mediendidaktiker Wolfgang Neuhaus befasst sich mit Formen des mediengestützten Lehrens und Lernens. Aktuell arbeitet er an einem Projekt der TU Berlin, das digitale Werkzeuge für ein kooperatives Lernen nutzbar macht. Zentrales Element auf der Learners‘ Garden-Plattform ist ein Wiki, in dem Inhalte online entwickelt, ergänzt und strukturiert werden können. Außerdem werden hier kostenlose Werkzeuge zum Recherchieren, Strukturieren und Kommunizieren zur Verfügung gestellt.
Geert Lovink ist Medientheoretiker und Netzkritiker und möchte am liebsten „die Uni wachküssen“. Lovink bedauert, dass nicht mehr Innovationen aus den Universitäten kommen. Eine Chance für dezentrale Forschung sieht er in organisierten Netzwerken. Sie dienten dazu, auch langfristige (Online)-Beziehungen zwischen Forschenden aufzubauen, die über die Twitter-Schnelllebigkeit hinausgehe. Lovink wünscht sich Forschungs- und Bildungseinrichtungen, die wieder Brutstätten von Innovation und Subversion werden, zurzeit mache die Lehre nichts anderes als zu reagieren, und das sei tödlich. Die neuen Technologien seien weder zu verteufeln noch zu verherrlichen, man müsse schlicht mit ihnen umzugehen lernen und in den revolutionären Alltag einbauen.
"Modell Autodidakt" hat keine allgemeingültigen Antworten auf die drängenden Fragen parat, denen sich Gesellschaft, Politik und Bildungseinrichtungen stellen müssen. Denn die gibt es (noch) nicht, hier werden aber zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Fragen gestellt. Die Anthologiegibt gibt Anregungen und zeigt Wege auf, wie wir das Potenzial der Informations- und Kommunikationstechnologien in Zukunft nutzen können, um den Erwerb und Zugang zu Wissen zu erleichtern. Hoffen wir, dass Bildung nicht mehr lange das letzte Reservat bleibt, und wir schnell beginnen zu lernen, besser mit den neuen Entwicklungen umzugehen.
In einem Lecture Concert mit dem Performance-Kollektiv andcompany&Co wird "Modell Autodidakt" heute Abend um 19 Uhr im Kunsthaus Bethanien/Kreuzberg vorgestellt.