Welche Rolle spielen Social-Media-Dienste wie Twitter und Facebook bei den Protesten in der arabischen Welt und ganz aktuell in Ägypten? Keine besondere, meint z. B. Malcolm Gladwell. Auch deutsche Medien sind gespaltener Auffassung. Dazu eine kleine Presseschau.
Der Bestsellerautor Malcom Gladwell zweifelt schon länger an der Bedeutung sozialer Medien wie Facebook oder Twitter bei der Organisation politischer Proteste. Er stellt fest, dass frühere Revolutionen wie 1789 in Frankreich oder beim Fall der Berliner Mauer auch ohne Facebook auskamen. Doch verfolgt Gladwell hier den richtigen Ansatz? Unstrittig ist wohl, dass während gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse in Form von Revolutionen zu unterschiedlichen Zeiten teilweise völlig andere technische Mittel der Kommunikation und Organisation genutzt wurden. Das ist dem technologischen Fortschritt geschuldet. Die Frage ist aber auch: Mit welcher Geschwindigkeit und Breitenwirkung erlauben derlei Werkzeuge die Kommunikation? Das Digitale Zeitalter stößt hierbei in völlig neue Dimensionen vor. Denn eine Botschaft kann in Sekundenschnelle um die ganze Welt geschickt werden. Vorausgesetzt, man hat einen Zugang zu Internet, Mobilfunknetz & Co. Wohl genau deshalb kappte das ägyptische Regime zeitweilig solche Zugänge. Um den Protestlern die Kommunikation zu erschweren und zugleich Propaganda per SMS zu verbreiten. Doch wie bedeutend sind soziale Medien wie Twitter bezüglich der Proteste?
Hanan Badr von der Uni Erfurt sieht in ihnen nicht die Ursache der Demonstrationen in Ägypten. Auch hätten die Protestierenden nach den Internetsperren sehr zügig zu traditionellen Mitteln der persönlichen Kommunikation gegriffen. Jedoch seien die Social Media “in der Mobilisierung und Vernetzung von oppositionellen Kräften nicht zu unterschätzen. Die Netzwerke sind durch die elektronischen Wege intensiver und schneller. Auch schaffen sie öffentliche virtuelle Räume, wo ein Dialog über Themen unter den extern pluralistischen Oppositionsgruppen stattfinden kann. Das wäre in der realen Welt unwahrscheinlich”, so die aus Ägypten stammende Badr.
Und was sagt die deutsche Medienlandschaft dazu?
politik-digital.de hat sich einmal umgeschaut. Die Meinungen und Analysen gehen hier auseinander. Von einer Revolution, die allein durch Social-Media-Dienste wie Twitter und Facebook bewirkt wird, spricht jedoch kaum jemand. Hier ein paar ausgewählte Artikel:
Twitter, Facebook und die Revolution in Ägypten
Philipp Meller von Cicero sprach mit dem nach Ägypten gereisten Internet-Blogger Richard Gutjahr über die angespannte Lage in Ägypten und die Bedeutung der Internet-Netzwerke für die aktuellen Proteste. Laut Gutjahr gelangen Meldungen der Proteste fast ausschließlich über Internet-Dienstleister wie Twitter oder Youtube an die ausländische Öffentlichkeit. Bezeichnend sei, dass die ARD-Tagesthemen per Skype ein Live-Interview mit einem ägyptischen Internetblogger führten.
Arabiens Facebook-Jugend verjagt die Greise
Beim Handelsblatt schrieb Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik, dass die Revolutionen in Tunesien und Ägypten das Werk einer neuen politischen Generation seien. Kleine, studentisch geprägte Gruppen hätten den Protest organisiert und über soziale Netzwerke mobilisiert. Dem schlossen sich Bürger aus der Mittelschicht und die Armen an, die dem Ganzen den Charakter einer Volksrevolte gaben. Zukünftige Regierungen der arabischen Welt wüssten nun, dass ein Anregieren gegen die Demografie und die stärksten Generationen nicht ginge.
Im Spiegel Online versucht Mathieu von Rohr mit der Vorstellung aufzuräumen, es gäbe Facebook-Revolutionen. Seiner Auffassung nach gibt es nur Revolutionen von Menschen, die sich befreien wollen. Es waren unzumutbare Verhältnisse wie Armut und Perspektivlosigkeit der Jugend, die die Menschen auf die Straße trieben. Dennoch habe das Internet die Volksaufstände in Tunesien und Ägypten befördert.
Wir sind alle Khaled Said
Die ägyptische Zivilgesellschaft habe eine Vorgeschichte des Protests, so die Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy bei taz.de. Gerade das ägyptische Regime selbst sei für die aktuelle Entwicklung mitverantwortlich, da es das Internet in den letzten Jahren stark gefördert habe. Die aktuellen Demonstrationen werden über das Internet organisiert und orchestriert, so Hegasy.
Bei Zeit Online schreibt Evgeny Morozov, dass es für Umstürze nicht des Internet bedarf. Auch könne nicht von einer Twitter-Revolution gesprochen werden. Zudem dienten Facebook und Twitter nicht nur zur Publikation von Protesten und Menschenrechtsverletzungen: denn nach einer gescheiterten Revolte vermögen Regime auch Dissidenten dort ausfindig zu machen. Das Fazit von Morozov lautet: Das Netz nützt Unterdrückern und Unterdrückten.
Mubarak kontert die Facebook-Revolution
Florian Güßgen von stern.de meint, dass die Social Media eine zentrale Rolle bei der Organisation der Proteste in Ägypten einzunehmen scheinen. Die Debatte um die Rolle sozialer Medien bei politischen Umwälzungen und die Frage, ob deren Förderung ein fester Bestandteil der Außenpolitik demokratischer Staaten sein müsse, würden durch die Proteste befeuert werden.
Sehnsucht nach der digitalen Revolution
Die Rolle des Internet als Mittel der politischen Einflussnahme werde immer bedeutender, meint Andrian Kreye von sueddeutsche.de. Dennoch werde es überschätzt. Eine zentrale Aussage von ihm ist, dass für eine wirkliche Revolution mehr zusammenkommen müsse – ein kollektiver Leidensdruck, nachvollziehbare Reformideen, Kampfwille, breite Organisationsstrukturen. Daher sei das Internet, respektive Twitter und Facebook, bei den Umwälzungen in Tunesien und Ägypten nur eines von vielen Werkzeugen.
Ägypten ist keine “Twitter-Revolution”
Der Journalist Philip Rizk relativiert bei dradio.de ebenfalls die Rolle der sozialen Medien. Er spricht von einer Revolution zu Fuß. So wären z. B. bei der Großdemonstration vom 28.1. vor allem Menschen aus ärmeren Vierteln anwesend gewesen, die noch nie etwas wie das Internet gesehen hätten. An diesem Tag gab es kein Twitter, Facebook, Internet und keine Handy-Verbindungen.
Das Internet nimmt den Staatenlenkern ihre Macht
Das Beispiel Ägypten zeige, dass das Internet größere Machtverschiebungen auslösen könne und die Weltpolitik nicht länger nur Regierungen vorbehalten sei, schreibt Joseph S. Nye bei Welt Online. Regierungen hätten dank des digitalen Zeitalters zukünftig weniger Kontrolle über ihre politischen Agenden.
UPDATE:
Statt dem Live-Ticker zu den Protesten in Ägypten gegen das Mubarak-Regime, der nun erfreulicherweise obsolet geworden ist, ein Verweis auf den neueren Beitrag von politik-digital.de mit dem Titel “Info-Links zur Arabischen Revolution“.