Wahlkampf-Experten prognostizierten für die Wahl zum Unterhaus am 6. Mai 2010 in Großbritannien eine wahre „internet election“. Nach der Wahl wird der Einfluss des Online-Wahlkampfes jedoch ganz unterschiedlich bewertet. Eine Presseschau.
Schon einige Tage vor der Wahl schrieb die Times, dass das Fernsehen den Ausgang der Wahl entscheiden würde. Schließlich trafen zum ersten Mal die Spitzenkandidaten der großen Parteien in TV-Debatten aufeinander. 140 Zeichen bei Twitter reichten laut Times hingegen einfach nicht aus, um politische Meinungsmache zu betreiben. Und kaum ein Politiker hätte es verstanden, das Internet wirklich zu nutzen, so die Times. Dennoch sei etwas durch das Netz in Bewegung geraten: Die Politiker hätten es schwerer gehabt, die Agenda zu setzen. Stattdessen hätten die Menschen entschieden, worüber geredet wurde, schrieb die britische Tageszeitung.
Guardian: Parteien verpassen Chancen
Der Chefstratege von Obamas Internetkampagnendienstleister, Joe Rospars, schreibt im Guardian, dass die Parteien das Netz nicht richtig genutzt hätten. Sie hätten nur den Kriegsschauplatz verlegt, die Kämpfe seien dieselben gewesen. Rospars betont den Erfolg einiger unabhängiger Bewegungen, wie etwa der Initiative „hope not hate“. Die hatte es sich zum Ziel gesetzt, den Einzug der Kandidaten der rechtsradikalen British National Party (BNP) ins Parlament zu verhindern. Es gelang den Aktivisten, im Netz konkrete Aktionen zu organisieren. So verteilten zum Beispiel einige hundert Freiwillige in zwei Londoner Vororten 100.000 Protest-Zeitungen – an einem Vormittag. In beiden Bezirken blieben die Nationalisten chancenlos. Das Erfolgsrezept der Aktivisten war laut Rospars, dass sie sich nicht in schwammigen Phrasen ergingen, sondern in ihren E-Mails konkrete Anweisungen gaben, was zu tun sei. Damit hätten sie jene Führungsstärke bewiesen, die den Parteien gefehlt habe, so Rospars.
TechPresident: Wahlkampf zu kurz?
Nancy Scola von TechPresident greift Rospars Analyse im Guardian auf und führt die schwache Nutzung des Internets auf den kurzen Wahlkampf zurück. Während Obama fast zwei Jahre Zeit gehabt hätte, seine Kampagne zu perfektionieren, stand in Großbritannien der Wahltermin kaum einen Monat vor dem tatsächlichen Urnengang fest. Außerdem habe der Erfolg von Obamas Online-Kampagne auch damit zu tun gehabt, dass sie einfach so gut zum Image Obamas
passte, so Scola.
Independent: Die Tweets des Tages
Der Independent vergleicht Internet und Fernsehen mit einem klassischen Werbeplakat. Der Web-Wahlkampf sei zwar hinter den Erwartungen zurückgeblieben, das Netz habe aber einiges zur Beschleunigung des Wahlkampfes beigetragen. Interessant: Die Zeitung hat eine Sammlung der besten Tweets des Wahltages zusammengetragen. Besonders radikal präsentierte sich der Journalist Alex Wood seinen Followern: „Denkt dran, jedes mal wenn jemand David Cameron wählt, stirbt ein Welpe.“
BBC: Internet nicht wirkungslos
Rory Cellan-Jones von der BBC glaubt schon, dass das Internet einen entscheidenden Einfluss auf die Wahl hatte. Besonders bei den Jüngeren habe das Netz das Interesse an der Wahl gestärkt. Durch die Zusammenarbeit von Wahlkommission und Facebook sei die Zahl der registrierten Jungwähler emporgeschnellt, so Cellan-Jones. Auch hätten die Parteien das Netz intern durchaus effektiv genutzt: Sitzungen von Wahlkampfteams wären durch intensiven E-Mail-Verkehr
ersetzt worden, schreibt der Autor.