Überall in Deutschland besetzen Studenten ihre Unis. Was in Österreich begann, hat sich längst über Ländergrenzen hinweg ausgebreitet. Auch im Internet schlagen die Proteste Wellen. Doch nicht alle bestreikten Unis nutzen die modernen Netzwerke überzeugend. Österreichs Studis zeigen, wie es besser geht.
2000 Studentinnen und Studenten sitzen eng gedrängt in dem
trotz hoher Decke stickigen Audimax der Justus-Liebig-Universität in Gießen. In
einer Vollversammlung beschließen sie ihre gemeinsamen Forderungen an Politik
und Hochschule. Über das gesamte Publikum verteilt zeigen sich die weit
scheinenden Bildschirme von Laptops und in den Händen, die sich zum
Fotografieren der Menschenmenge in die Höhe recken, finden sich fast ebenso
viele Telefone wie Digitalkameras. Ganz selbstverständlich erscheint das den
Studierenden der Generation Internet.
Vollversammlung offline
Doch die Vollversammlung bleibt Offline. Von
den mehr als 200 Zuschauern, die den Live-Stream im Internet geöffnet haben,
erfährt man im Audimax nichts. Nur einmal blitzt etwas Interaktivität durch,
als solidarische Grüße aus anderen Universitätsstädten übermittelt werden. Wie
genau die aber ihren Weg ins mittelhessische Gießen gefunden haben, weiß
vermutlich auch am Rednerpult niemand.
Das Internet wirkt wie ein Fremdkörper im Gießener
Bildungsstreik. Als die Politik- und Sozialwissenschaftler in den späten
Abendstunden des 15. Novembers ihr dreistöckiges Seminargebäude besetzten,
drangen nur wenige Informationen an die Außenwelt. Schon einige Tage zuvor
hatte man eine erste Website eingerichtet, zu der man aber just in den ersten
Tagen der Besetzung das Passwort verlegt hatte. Stattdessen teilte man sich in
unregelmäßigen Abständen und wenig gesprächig über eine Mailing-Liste mit – von
der jedoch kaum Studenten erfahren hatten. Bilder von der Besetzung tauchten
erst nach Tagen auf.
Streik auf studiVZ
Wesentlich zeitnaher kann man am Geschehen über studiVZ
teilhaben. Bereits vom 9. November stammt der erste Beitrag in der Gruppe „-::
Bildungsstreik 2009 Gießen::-", in dem auf die vergleichbaren Gruppen aus Kiel
und Marburg verwiesen wird. Zwei Tage vor der Besetzung wird hier schon die
Mailing-Liste als dominierendes Kommunikationsmittel beworben und auch über die
tatsächliche Besetzung erfährt man hier wesentlich früher als auf der eigenen
Internetseite. Auch ein Hinweis auf den Twitter-Account der Gießener Besetzer findet
sich, doch bis heute kommt er nicht einmal über 200 Follower hinaus. Wie weit Twitter damit außerhalb der studentischen Aufmerksamkeit liegt, zeigt der Vergleich
mit der Gruppe im studiVZ: hier finden sich fast 2000 Mitglieder ein.
studiVZ: Ausschlafen oder Kurzurlaub?
Doch so beeindruckend die Zahlen wirken, inhaltlich kann die
Gruppe im VZ nicht viel bieten. Bilder oder Videos scheitern schon an den
technischen Möglichkeiten der studiVZ-Plattform. Eine Handvoll
Diskussionsfäden ist gefüllt mit wenigen Ankündigungen und vielen Nachfragen,
wie lange denn nun noch besetzt sei. Viele Studenten wollen offensichtlich lieber wissen, ob
man nicht doch ausschlafen kann am nächsten Tag oder ob die Zeit sogar für
einen Kurzurlaub bei den Eltern reicht.
Kein Internetanschluss im Philosophenwald
Dass das wenig repräsentativ ist, zeigt ein Blick in die
arbeitsame Atmosphäre in den mittlerweile immer zahlreicher werdenden besetzten
Gebäuden in der Straße am Philosophenwald. Eifrig organisiert in Arbeitskreisen und
allabendlichem Plenum arbeiten die Studentinnen und Studenten an ihrem
Forderungskatalog. Gleich in der ersten Woche treffen sie sich zu
Sondierungsgesprächen mit den Dozenten der betroffenen Fachbereiche und tauschen
sich aus. Aus der bekundeten Solidarisierung erwachsen gemeinsame, von
Studenten und Dozenten besetzte Arbeitskreise. Im Internet erfährt man nichts
davon.
Österreichs Studis setzen auf das Netz
Ein Blick nach Österreich, gewissermaßen in das Mutterland
der aktuellen Studentenproteste, zeigt das Kontrastprogramm. Wie ein Drehkreuz
sammelt die offizielle Website zum Protest als „veritables Web 2.0-Portal"
(Christoph Bieber) die über das gesamte Netz verteilten Informationen zu den
Bildungsstreiks und bietet dem Nutzer Orientierung. Die eher statischen
Elemente wie Forderungen und Kontaktdaten finden sich wie gewohnt auf der
Internetseite, aber ebenso stößt man auf gesammelte Live-Streams aus dem
deutschsprachigen Protestraum oder bei flickr aggregierte Bilder von den
Hochschulen vor Ort.
Die Facebook-Seite „unsereuni" zeigt in bisher ungekanntem Maße die Funktionalität der amerikanischen Plattform
auf. Mehr als 30.000 Fans solidarisieren sich und nutzen die öffentliche
Pinnwand des Profils, um Informationen auszutauschen und Diskussionen
auszutragen. Geschickt vernetzt man die Seite mit anderen streikenden
Studierenschaften. Videos und Fotos von den bekannten Plattformen wie YouTube
und flickr hat man da gleich noch mit eingebunden.
Die heutige Kundgebung am österreichischen Parlament ist
selbstverständlich als Termin verfügbar. Neben Details über den geplanten
Ablauf – von Eröffnung bis Lichterkette – sieht man auch die 173 bestätigten
Gäste.
In Gießen wird morgen ebenfalls eine Demonstration
stattfinden, vom Audimax will man in die Stadt marschieren. Genauso Offline wie
bisher.
Gibt es bessere Beispiel für Internetnutzung bei den Unistreiks? Hinweise gerne in den Kommentaren!
Mir war das auch aufgefallen, allerdings wusste ich nicht, ob ich als 97er-Streikveteran zur Verklärung eigener Geschichte neige. Damals war die Web-Präsenz trotz schlechterer Infrastruktur wohl eher besser, vgl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3165/1.html
Ich habe heute mit ein paar streikenden Gießener Studierenden darüber nachgedacht, warum ich (Digital Immigrant, 40) besser über aktuelle Entwicklungen informiert bin als sie (Digital Natives, Anfang 20). Erster Befund der nicht repräsentativen Runde: Es gibt eine Angst, Dinge nicht zu verstehen oder in der Benutzung zu zerstören. Mein Standardweg, neugierig Dinge auszuprobieren und mich notfalls durch Programmhilfe und Foren zu klicken, ist nicht der Standardweg von anderen. (Ich habe mich schon mehrfach in Seminaren verschätzt bezüglich der Selbstverständlichkeit der Nutzung digitaler Medien.) Geschlechtszugehörigkeit scheint auch eine Rolle zu spielen. Ob die Verschulung des Studiums auch hier dazu beiträgt, weniger selbständig zu sein? Ich hoffe auf weitere Einsichten.
Erste Folge: Morgen werde ich mit streikenden Studierenden einen Workshop zu Kommunikationsformen in der Hypersphäre machen.