Am 20.02.09 war Silvana Koch-Mehrin, FDP-Spitzenkandidatin für die Europawahl 2009, zu Gast im tagesschau-Chat in Zusammenarbeit mit
politik-digital.de. Sie beantwortete Fragen der Chatter zur Europapolitik ihrer Partei, zur Funktionsweise der EU oder der momentanen Finanzkrise.

Moderator: Herzlich Willkommen beim
tagesschau-Chat. Heute chatten wir mit Silvana Koch-Mehrin,
FDP-Präsidiumsmitglied und Spitzenkandidatin ihrer Partei bei der
Europawahl. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für die Diskussion mit den
Usern von tagesschau.de und politik-digital.de nehmen. Frage nach
Brüssel: Frau Koch-Mehrin, können wir starten?

Silvana Koch-Mehrin: Guten Tag auch von meiner Seite, starten wir, gerne!


Moderator: In den letzten Wochen ist viel
über den Höhenflug der FDP geschrieben worden: Bis zu 18 Prozent in den
Umfragen, gestiegener Einfluss in den Bundesländern. Doch heute scheint
die FDP wieder in der Realität anzukommen: Erst wird mit einer Blockade
des Konjunkturpakets II im Bundesrat gedroht, heute Vormittag hat die
FDP klein beigegeben und für die Vorschläge der Großen Koalition
gestimmt. Sieht so Machtzuwachs der Liberalen aus?

Silvana Koch-Mehrin:
Wir haben immer gesagt, dass wir nicht blockieren werden, weil wir
glauben, dass ein Passieren besser ist als ein Paket, das mit anderen
Mehrheiten zustande kommt und möglicherweise weitere Steuererhöhungen
(Kfz-Steuer) enthält.

hausmann: Wie kann die FDP trotz des offensichtlichen Scheiterns dieses Systems weiterhin neoliberale Positionen vertreten?

Silvana Koch-Mehrin:
Das System der sozialen Marktwirtschaft ist nicht gescheitert. Die FDP
steht für freie Märkte im Sinne der sozialen Marktwirtschaft. Wir
wollen keine Anarchie der Märkte, sondern faire Wettbewerbsbedingungen.

Walter: Wieso verstummt bzw. unterstützt die FDP jetzt massive staatliche Interventionen, welche sie bis dato rigoros abgelehnt haben?

Silvana Koch-Mehrin:
Das stimmt so nicht. Die FDP spricht sich nach wie vor gegen große
staatliche Beteiligungen aus. Wir beziehen entschieden Position gegen
Enteignungen. Richtig ist, dass wir dem Bankenrettungspaket zugestimmt
haben, weil es darum ging, das Finanzsystem in Deutschland und weltweit
am laufen zu halten.

Lauenstein: Welche Position hat die FDP zur Reform des Bankensystems?

Silvana Koch-Mehrin:
Die Bankenaufsicht wie wir sie in Deutschland haben, hat nicht
funktioniert. Das hat die FDP bereits bei der Einführung durch Hans
Eichel beanstandet. Statt einer ineffektiven Doppelstruktur, wäre eine
echte Bankenaufsicht angesiedelt bei der Bundesbank richtig. Außerdem
wollen wir für die längst selbstverständlich international tätigen
Finanzinstitute auch effiziente internationale Regeln.

Halli: Wie könnte liberale Politik aussehen, die gegen die Wirtschaftskrise hilft?

Silvana Koch-Mehrin:
Statt mit Konjunkturpakteten ausgewählten Branchen zu helfen, würde die
FDP mit einer deutlichen Steuer- und Abgabenentlastung allen Bürgern,
aber vor allem denen mit kleineren und mittleren Einkommen mehr vom
Geld, das sie selbst verdient haben, lassen. Die Bürger können ihr Geld
dann frei für Konsum nach ihren eigenen Entscheidungen ausgeben. Vor
allem ist eine solche Reform eine vertrauensbildende Maßnahme für den
Wirtschaftsstandort Deutschland. 50 Prozent von Wirtschaft ist
Psychologie, sagt man.

Jakob R.: Warum soll man
im Jahr 2009 die FDP wählen? Mein Bauchgefühl sagt, dass die heutige
Finanzkrise noch schlimmer wäre, wenn die Wirtschaftspolitik Ihrer
Partei – Deregulierung der Märkte usw. – in den letzten Jahren
fortgeführt worden wären.

Silvana Koch-Mehrin:
Zur Erinnerung: In den letzten zehn Jahren hat die FDP leider nicht auf
Bundesebene regiert. 2009 sollte man die FDP wählen, weil wir die
einzigen sind, die einen klaren Kompass in der Wirtschafts- und
Steuerpolitik haben. Wenn die FDP regiert hätte, hätte es eine bessere
Bankenaufsicht gegeben. Vor allem hätten wir die sprudelnden
Steuereinnahmen in den guten Zeiten genutzt, um den Haushalt zu
sanieren und die Bürger steuerlich zu entlasten.

pat: Sind Steuerentlastungen nicht ein recht unpräzises Mittel?

jenser:
Wie soll das gehen? Steuern massiv senken und gleichzeitig die
öffentlichen Finanzen nicht weiter zu verschulden, gerade wenn die
Wirtschaft so rapide wegbricht?

Silvana Koch-Mehrin:
Die FDP hat über 400 Vorschläge, wo Ausgaben beim Bund eingespart
werden können (über 10 Milliarden Euro). Zusätzlich wäre ein einfaches
und niedriges und deswegen gerechtes Steuersystem ein Anreiz für viele
Aufträge und Dienstleistungen, die derzeit auf dem Schwarzmarkt
erledigt werden, in die reale Wirtschaft zu überführen. Schätzungen
sehen die Schattenwirtschaft bei 340 Milliarden Euro, wenn davon nur
ein Teil wieder in die Realwirtschaft käme, wäre eine Steuerreform
schon finanziert.

pat: Sind Steuerentlastungen nicht ein recht unpräzises Mittel?


Silvana Koch-Mehrin:
Ganz
im Gegenteil, wir meinen, die Bürger wissen am besten selbst, wofür sie
ihr selbst verdientes Geld ausgeben möchten. Ich sehe nicht den
Vorteil, dass andere entscheiden, wohin mein Geld geht.

Moderator: Nachfrage: Welche Ausgaben möchte die FDP streichen/reduzieren?

Totti84: Können Sie Beispiele für die 10 Milliarden an Einsparungen nennen?

Silvana Koch-Mehrin: Zum Beispiel die Entwicklungshilfe für Länder wie China, die mit uns wirtschaftlich auf Augenhöhe konkurrieren.

Moderator: Ein beliebtes Beispiel.

Silvana Koch-Mehrin:
Zusätzlich gibt die Bundesregierung viele Millionen für PR aus, wo sie
ihre schlechte Politik (Gesundheitsfonds) besser verpacken will. Große
Einsparungsmöglichkeiten gibt es bei der Bundesagentur für Arbeit, sie
ist inzwischen die größte Behörde der Welt.

c.a.:
Einige der 400 Vorschläge sind aber auch in der Kritik, da sie pauschal
kürzen und in der Krise insbesondere im Etat des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales wildern wollen – hier aber die größten Kosten
fällig werden, wenn es mehr Arbeitslose und Kurzarbeiter gibt. Wie
passt das zusammen?

Silvana Koch-Mehrin: Viel
Geld vom Staat hilft nicht immer viel. Wenn die Arbeitslosigkeit nicht
über eine Riesenbehörde verwaltet würde, könnte man mit weniger Geld
wesentlich effektiver Menschen in den Arbeitsmarkt zurück bringen.

birkenfloh: Wonach richtet sich denn der Kompass der FDP, außer nach Deregulierung?

Silvana Koch-Mehrin:
Der klare Kompass unter dem Leitmotiv Freiheit und Verantwortung zieht
sich durch alle Politikfelder bei den Bürgerrechten, wo wir uns ganz
klar gegen einen Überwachungsstaat stellen. Bis hin zu einer
ideologiefreien Umweltpolitik und einem Europa, das stark ist, weil es
sich auf einige Politikbereiche konzentriert, aber keine
alltagsregulierende Bürokratie ist.

1234: Was verstehen sie unter ideologiefreier Umweltpolitik?

hdfgh: Wird die FDP weiterhin auf Atomenergie setzen?

Silvana Koch-Mehrin:
Es ist total falsch, sichere und moderne AKW`s abzuschalten ohne
bessere Alternativen. Natürlich fänden auch wir es schön, wenn wir
Energie allein aus erneuerbaren Quellen beziehen können. Aber bis dahin
sollten wir ideologiefrei auch Kernenergie in den Energiemix
einbeziehen.

Consi86: Im Juni gibt es ja
Europawahlen – wie erreichen Sie, Frau Koch-Mehrin ganz konkret die
Wähler in Deutschland? (Viele von meinen Kommilitonen wissen gar nichts
von der Europawahl – spiegelt diese Unwissenheit Ihrer Meinung nach
auch ein gewisses Desinteresse an Europa wider?)

Silvana Koch-Mehrin:
Als FDP sind wir schon immer eine Europapartei gewesen. Wir wollen die
EU als Friedensgemeinschaft, mit Binnenmarkt und auch einer Verfassung.
Aber wir sind auch der Ansprechpartner für mehr und mehr berechtigte
Kritik an zu oft unsinnigen EU-Beschlüssen. Im Wahlkampf werden wir vor
allem auf direkte Ansprache und Dialog setzen, weil meine Kollegen und
ich ständig feststellen müssen, dass es eine große Distanz zwischen EU
und den Bürgern gibt. Ich halte es für eine Bringschuld der Politik,
diesen Abstand zu verringern.

Moderator: Sollten
weitere Übertragungen von Kompetenzen auf die EU nur durch
Volksentscheid möglich sein – wie es etwa die CSU jüngst forderte?

Silvana Koch-Mehrin:
Schon 2004, als tatsächlich etwas zu entscheiden war
(Verfassungsvertrag), haben wir als FDP zweimal im Bundestag das
Grundgesetz ändern wollen, (CSU war dagegen), um Referenden in
Deutschland zu ermöglichen. Auch jetzt ist es wieder Teil unseres
Wahlprogramms, dass bei einer neuen Vertragsgrundlage die Bürgerinnen
und Bürger selbst abstimmen sollten.

Moderator: Sie sagen, die EU sei keine "richtige" Demokratie. Wo sehen Sie die Defizite?

Silvana Koch-Mehrin:
In der EU fehlt die Gewaltenteilung. Es gibt keine Regierung und
Opposition, dadurch fehlt klare Verantwortlichkeit und Kontrolle. Das
demokratische Grundrecht freie und GLEICHE Wahl ist verletzt, weil etwa
in Luxemburg zwölf mal weniger Bürger für einen Abgeordneten stimmen
müssen als in Deutschland. Außerdem gibt es zu wenig Bürgerbeteiligung,
so dass sich oft nicht sagen lässt, wer da eigentlich was im Namen der
Bürger beschließt.

Imperor: Halten Sie den Vertrag von Lissabon für eine gute Grundlage für die Europäische Union?

Silvana Koch-Mehrin:
Der Lissabon Vertrag macht die EU etwas demokratischer, transparenter
und effizienter, ist aber ein Kompromiss zwischen 27 Ländern und allen
politischen Richtungen. Er kann nur ein Zwischenschritt sein.

Lambertus:
Die EU ist eine supranationale Organisation, d.h., dass eine gewisse
Souveränität den Mitgliedern erhalten bleiben muss. Die Demokratie
(oder Bürgernähe) kann somit gar nicht verwirklicht werden. Sehen Sie
das anders?

Silvana Koch-Mehrin: Wir sollten
beginnen mit einer klaren Abgrenzung der Zuständigkeiten. Die EU
beschließt, welche Inhaltstoffe in Schokolade sind, welche Glühbirnen
verboten werden, wie viele Stunden Arbeitnehmer maximal arbeiten dürfen
– das ist nicht mehr supranational, dass ist Innenpolitik.

Wahlberechtigter:
Sie konstatieren eine große Distanz zwischen der EU und den Bürgern.
Sollte das Europawahlrecht in Deutschland daher nicht so geändert
werden, dass man nicht nur für Parteien, sondern auch für Personen
stimmen kann?

Silvana Koch-Mehrin: Derzeit
stimmt jedes Land nach nationalem Recht ab, was ich schlecht finde. Ich
wünsche mir bei Europawahlen das gleiche Wahlrecht in allen EU-Ländern.
Ich persönlich wäre dafür, auch Personen direkt wählen zu können. In
anderen Ländern ist das auch möglich.

Moderator: Eine Frage zum Auftritt des tschechischen Staatspräsidenten – leidenschaftlicher EU-Skeptiker.

green pepper: Hallo Frau Koch-Mehrin. Wie bewerten Sie die Rede von Václav Klaus gestern im EP?

Silvana Koch-Mehrin:
Václav Klaus hat die Probleme der EU drastisch auf den Punkt gebracht:
Demokratiedefizit, Bürgerferne, sinkende Akzeptanz, zu viel Bürokratie,
zu weitgehende Entscheidungen. Ich fand es albern, habe mich aber nicht
gewundert, dass viele Kollegen dazwischen gerufen und den Saal
verlassen haben. Damit hat Václav Klaus die Abgeordneten in ihrer
Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen, vorgeführt.

Zensurstaat-Ahoi?:
Der Lissabon-Vertrag hebelt aber auch das deutsche Grundgesetz aus, wie
soll dies demokratisch sein? Zumal kein Bürger Deutschlands darüber
abstimmen durfte!

Silvana Koch-Mehrin: Der
Lissabon-Vertrag verringert das Demokratiedefizit etwas, weil die
nationalen Parlamente mehr Mitsprache erhalten, weil das europäische
Parlament als die am meisten demokratisch legitimierte EU-Institution
mehr Mitentscheidung bekommt und weil die Möglichkeit eines
europäischen Bürgerbegehrens eingeführt wird.

Golem:
Empfinden Sie nach einigen Jahren im Europaparlament die
bundesdeutschen Politikdebatten nicht ein bisschen provinziell, bzw. zu
eng gefasst. Schließlich steht die EU ja vor globalen Problemen?

carlos: Wann
akzeptieren die Eurokraten das Nein der Bürger innerhalb der EU und
warum wird am Vertrag/Verfassung immer noch weiter getüftelt ?

Silvana Koch-Mehrin:
Nur in Irland konnten die Bürger abstimmen, es gab keine europaweiten
Bürgerentscheidungen. Zum Verfassungsvertrag hatten Spanien und
Luxemburg per Referendum mit ja gestimmt, in Frankreich und den
Niederlanden gab es ein Nein. In der Schweiz haben gerade vor kurzem
die Bürger sich FÜR eine Erweiterung des Schengen-Raumes ausgesprochen
und damit klar FÜR eine EU-Errungenschaft.

Golem:
Empfinden Sie nach einigen Jahren im Europaparlament die
bundesdeutschen Politikdebatten nicht ein bisschen provinziell, bzw. zu
eng gefasst. Schließlich steht die EU ja vor globalen Problemen?

Silvana Koch-Mehrin:
Nicht als provinziell, aber ich würde mir wünschen, dass bei den
Debatten in Deutschland die europäische Perspektive stärker
berücksichtigt wird. Umgekehrt fehlt mir in der Europapolitik die
politische Auseinandersetzung.

Moderator: Eine Frage zu Ihrer persönlichen Leistungsbilanz:

Fränk: Was haben Sie in der laufenden Legislaturperiode im EU-Parlament getan?

Silvana Koch-Mehrin:
Im Haushaltsausschuss bin ich vor allem mit der Reform der EU-Finanzen
befasst, sowohl was die Einnahmen (keine EU-Steuer! Maximal 1 Prozent
des BIP eines Landes als Beitrag zur EU), als auch was die Ausgaben
angeht, wo ich nur zeitlich befristete will und eine Veränderung des
EU-Haushaltes. Mehr als 40 Prozent geht immer noch in
Agrarsubventionen, nicht mal 7 Prozent in Forschung und Bildung. Im
Haushaltskontrollausschuss bin ich der Frage nachgegangen, warum
eigentlich Nicht-Regierungs-Organisationen, deren Hauptzweck lobbying
ist, von der EU dafür finanziert werden. ATTAC zum Beispiel hat
EU-Gelder bekommen. Als stellvertretende Fraktionsvorsitzende der
drittgrößten Fraktion im Haus arbeite ich sehr stark mit meinen
Kollegen an der politischen Meinungsbildung im Europaparlament. Und da
wir keine parlamentarischen Geschäftsführer haben, befasse ich mich
auch mit Personal-, Finanz- und jeder Menge anderer Aufgaben.

Moderator:
Zum Schluss das Ergebnis unserer Umfrage unter den Chat-Teilnehmern:
Wir wollten wissen: Wird Guido Westerwelle der nächste Außenminister?
Was schätzen Sie?

Silvana Koch-Mehrin: Die Entscheidung treffen nur die Wähler und Guido Westerwelle.

Moderator: 30 Prozent glauben er wird es, 70 Prozent galuben nicht daran.

Das
war eine gute Stunde tagesschau-Chat. Vielen Dank, liebe User für Ihre
Fragen. Leider konnten wir nicht alle stellen. Das Chatprotokoll gibt
es in Kürze auf tagesschau.de und politik-digital.de. Frau Koch-Mehrin,
vielen Dank für Ihre Zeit. Grüße nach Brüssel!

Silvana Koch-Mehrin: Herzlichen Dank, bis demnächst. Grüße ins Netz.

 

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