tagesschau-Chat in Zusammenarbeit mit politik-digital.de zur aktuellen Lage der "größten Demokratie": Am 20. November 2008 chatette Florian Meesmann, Studioleiter der ARD für Südasien, live aus Neu Delhi. Der Südasien-Korrespondent berichtete von einem Indien zwischen Entwickelung und Stagnation sowie Armut und Reichtum.
Moderator: Herzlich Willkommen zum tagesschau-Chat.
Indien hat sich zum beliebten Reiseziel der Bundesregierung entwickelt:
Allein in dieser Woche ist nach Umweltminister Gabriel nun
Bundesaußenminister Steinmeier vor Ort in Neu Delhi. Aus dem ARD-Studio
Südasien ist uns jetzt Florian Meesmann zugeschaltet. Vielen Dank, dass
Sie sich die Zeit nehmen! Herr Meesmann, Sie sind online, können wir
starten?
Florian Meesmann: Schönen Guten Tag nach Deutschland, ich bin bereit und freue mich auf die nächste Stunde!
Moderator: Warum ist Indien „in" bei deutschen Spitzenpolitikern?
Florian Meesmann:
Die fast märchenhafte Entwicklung der größten Demokratie ist es, die
viele Politiker anzieht und die Einsicht darin, dass dieses Land mit
seinen 1,1 Milliarden. Menschen zunehmend wichtiger wird bei der
Bewältigung globaler Krisen, dem Klimaschutz genauso wie der aktuellen
Finanzkrise!
FrankT: Wie ist Deutschland im internationalen – und vor allem europäischen Vergleich – in seinen Beziehungen zu Indien aufgestellt?
Florian Meesmann:
Der Besuch der Kanzlerin im vergangenen Jahr hat dafür gesorgt, dass zu
den gut entwickelten Wirtschaftsbeziehungen auch endlich eine enge
politisch-strategische Partnerschaft entstehen könnte. Im
internationalen Vergleich gibt es natürlich viele weitere wichtige
Partner: Die USA (siehe Nuklearvertrag) sowie der Iran als
Energielieferant, um nur zwei Beispiele zu nennen. Im europäischen
Vergleich muss sich Deutschland nicht verstecken, viele Ansätze fußen
ja eh auf EU-Initiativen.
FrankT: Können Sie eine kurze SWOT Analyse/Einschätzung der deutsch-indischen Beziehungen machen?
Natalie:
Inwieweit gehen die Inder auf die Wünsche und Hoffnungen deutscher
Politiker ein? (Vgl. Artikel "Einbahnstraße" im aktuellen Spiegel)
Florian Meesmann:
Das Verhältnis wandelt sich, keine Frage. Die Erwartung als deutscher
Spitzenpolitiker oder Unternehmer sofort ein gesuchter Gesprächspartner
zu sein, die wird sicher manches Mal enttäuscht. Das Selbstbewusstsein
auf indischer Seite ist ausgeprägt und das bedeutet auch, dass man sich
seine Gesprächspartner in aller Welt sucht. Da gehören die deutschen
Delegationen dazu, nur sie sind eben in bester Gesellschaft. Die
Amerikaner sind aktiv, die Beziehungen zu China spielen eine große
Rolle. Da kann es sicher zu Enttäuschungen kommen, vor allem dann, wenn
Politiker, die eher regional eine Bedeutung haben, nicht sofort einen
Termin beim Spitzenpolitiker bekommen. Vor allem dann, wenn es viele
Besucher in kurzer Zeit gibt. Doch nach meiner Wahrnehmung ist das
Interesse größer als es in dem von Ihnen erwähnten Artikel scheint.
Moritz: Wie sehen die
ehemals schlechten Beziehungen zwischen Indien und China heutzutage
aus? Wäre eine Technikkooperation zwischen China (Hardware) und Indien
(Software) nicht ein Riesen-Vorteil für Asien und eine echte Gefahr für
die Wirtschaft in Europa/USA?
Florian Meesmann:
Die Beziehungen haben sich seit den militärischen Auseinandersetzungen
um den Grenzverlauf im Himalaya vor über 40 Jahren sehr verbessert. Die
Inder bemerken immer mehr, wie aktiv die Chinesen in den Nachbarstaaten
sind. Indien ist natürlich ein interessanter Absatzmarkt für
chinesische Produkte. Die von ihnen befürchtete strategische Allianz in
der IT-Industrie zeichnet sich zur Zeit nicht ab. Dafür sind beide
Länder zu sehr darum bemüht, das erworbene Know-How erst einmal
eigenständig zu vermarkten.
Lora: Welche Auswirkungen hat die Finanzkrise auf Indien?
Florian Meesmann:
Diese sind vielfältig: Zunächst sind natürlich die Aktienkurse, sowie
in anderen Schwellenländern, scharf eingebrochen. Die Wachstumsraten
sinken. Schon vor dem jetzigen Krisenszenario kämpfte die Wirtschaft
mit Inflationsraten von bis zu 12 Prozent. Noch sind spektakuläre
(Bank-)Pleiten ausgeblieben, doch die Industrie spürt natürlich die
getrübten Konjunkturaussichten und klagt über Refinanzierungsprobleme
am Kapitalmarkt. Die Zeitungen sind voll von den zum Teil
erschütternden Geschichten von Kleinanlegern. Manche haben bis zu 75
Prozent ihrer Geldanlagen eingebüßt!
Moderator: Was trägt Asiens drittgrößte Volkswirtschaft zur Lösung der internationalen Finanzkrise bei?
Florian Meesmann: Nach
dem G20-Treffen am vergangenen Wochenende ist klar, ohne die
Schwellenländer, ohne die BRIC-Staaten (Brasilien, Indien, China und
Russland) kann diese Krise nicht gelöst werden. Die anfängliche
Hoffnung, dass die Schwellenländer aufgrund höherer Reserven und
robusteren Wachstums unbeschadet die Krise überstehen könnten, war
unbegründet. Der spezifische Beitrag Indiens kristallisiert sich erst
allmählich heraus. Dieses Thema steht ja auch im Mittelpunkt der
Gespräche von Bundesminister Steinmeier heute Abend in Delhi.
Moderator: Welche Rolle spielt Indien innerhalb der G20?
Florian Meesmann: Eine
immer größere, soviel steht fest. Die Inder bemühen sich darum bei den
Verhandlungen über Welthandelsabkommen, in Fragen des Handels mit der
EU nun endlich eine gewichtigere Stimme zu bekommen. Steinmeier hat
deutsche Unterstützung dafür bereits signalisiert.
Klaus: Wie schätzen Sie die politische und wirtschaftliche Zukunft Indiens für die nächsten fünf Jahre ein?
Florian Meesmann:
Ich meine, man muss die Politik und die Wirtschaft getrennt betrachten.
Wirtschaftlich wird sich das Wachstum früher oder später in den jetzt
bereits erkennbaren Kernen, wie zum Beispiel IT fortsetzen – trotz der
Krise. Die große Frage wird sein, ob das Wachstum in den Metropolen und
Städten in einigen wenigen Industrien ausreicht, um endlich den
Wohlstand auch für die Inder zu erhöhen, die immer noch in großer Armut
auf dem Land leben, in mittelalterlich anmutenden Verhältnissen. Das
ist immer noch die breite Mehrheit der Bevölkerung. Und erst wenn diese
mehrere hundert Millionen Menschen eine Perspektive haben, erst dann
kann Indien auch politisch weiter reifen. Die größte Demokratie der
Welt hat die "soziale Frage" immer noch nicht beantwortet, und das
schafft Platz für radikale Agitation. Religiös und politisch!
Moderator: Sie
beschreiben Indien als Land extremer Gegensätze. Auf der einen Seite
steht der unermessliche Reichtum der Industriemilliardäre, andererseits
leben in dem Land 200 Millionen hungernde Menschen. Wie hält die
indische Demokratie diese Spannung aus?
Florian Meesmann: Genau
diese Fragen stellen wir uns im Studio sehr häufig. Zum einen wissen
die Bauern in den Bergen Zentralindiens oft nur wenig über den
unermesslichen Wohlstand der Reichen in den Städten, zum anderen gibt
es in Indien, anders als in Deutschland oder Europa, nur eine schwache
Vorstellung einer sozialen Gerechtigkeit. Eine Rolle spielt dabei auch
die Mehrheitsreligion des Hinduismus und das immer noch wirkmächtige
Kastenwesen. Danach ist Armut oder Not, stark vereinfacht dargestellt,
auch eine schicksalhafte Notlage, aus der man sich eh nicht befreien
könne. Auch das führt zu einer gewissen Passivität, auch offenkundigen
Ungerechtigkeiten gegenüber.
Isa: Ist das Kastensystem eigentlich noch aktuell im Alltag?
Florian Meesmann: Offiziell
ist es ja schon lange, lange abgeschafft. Im Alltag ist es – sogar für
uns Europäer – deutlich spürbar. Der Zugang zu Bildungschancen, der
gesellschaftliche Stand, all das hängt immer noch auch von der
Kastenzugehörigkeit ab. Trotz aller Bemühungen zur Förderung der
unteren Kasten und der Kastenlosen. Manchmal spüren wir das auch in
sozialen Situationen, wo bestimmte Dinge aus unerklärlichen Gründen
nicht klappen wollen; zum Beispiel wenn ein Brahmane einem Dalit das
Gepäck tragen soll. Erst die Kastenzugehörigkeit lässt einen diese
Situation zumindest nachvollziehen.
politur:
Liege ich richtig in der Annahme, dass von der oft beschriebenen
positiven Entwicklung Indiens, vor allem eine relativ kleine
Mittelschicht profitiert, der Großteil der Bevölkerung jedoch z.B.
ihren Kindern keine Grundbildung bieten kann?
Florian Meesmann:
Diese Annahme ist teilweise richtig. Es stimmt, der Reichtum wächst in
der Hand weniger sehr reicher Familien und einer städtischen
Mittelschicht. Offiziell sollen alle Kinder zur Schule gehen, doch auf
dem Land wird dieses nicht umgesetzt und die Qualität der öffentlichen
Schulen wird von Experten als sehr, sehr unterschiedlich beurteilt.
joe333:
Wie entwickelt ist in Indien eigentlich das Bildungssystem und wie
flexibel kann die indische Wirtschaft jetzt ihre enormen Potentiale
abrufen?
Florian Meesmann: Wie schon angedeutet:
es gibt grundsätzlich die Trennung zwischen öffentlichen und privaten,
kostenpflichtigen Schulen und Universitäten. Es gibt in beiden Strängen
gute und sehr gute Einrichtungen, aber auch sehr schlechte. Der
flexible Abruf ist zum Beispiel im Bereich der IIT (Indian Institute of
Technology) für Software-Ingenieure oder Manager sehr gut organisiert.
In anderen Bereichen funktioniert das deutlich schlechter. Da behindert
oft eine starre Bürokratie die flexible Reaktion der
Bildungseinrichtungen auf die Wirtschaftslage.
Mara: Was wird der indische Staat zum Schutz der Christen tun? Indien zählte bisher zu einem friedliebenden, liberalen Land.
david22:
Warum sind die Christenverfolgungen zum Beispiel in Ostindien so selten
ein Thema in Deutschland und in der deutschen Außenpolitik?
Florian Meesmann: Wir haben darüber Ende Oktober im "Weltspiegel" berichtet.
Zuvor auch schon in den aktuellen Sendungen wie z.B. dem
ARD-Mittagsmagazin aus München. Diese Verfolgungen sind ein sehr, sehr
beunruhigendes Phänomen. Ich habe selbst den Distrikt Kandhamal im
Bundestaat Orissa bereist. Dort begann die jüngste Welle der
Verfolgungen. Aber auch in Mumbai oder Karnataka im Süden werden
Kirchen angezündet und Priester geschlagen. Bis zu 50 Menschen sollen
landesweit getötet worden sein. Der indische Staat wird in den
einzelnen Bundesstaaten wie z.B. Orissa ja zunächst durch die jeweilige
Regierung repräsentiert. Gerade in Orissa hat die Polizei vor Ort nicht
genug getan, um die Christen zu schützen. Oft zögern Politiker hart
durchzugreifen – gerade wenn Wahlen vor der Tür stehen, will man es
sich auch mit den radikalen Hindus, die häufig die Verfolgungen
ausgelöst haben, nicht verderben.
Anonym: Soll
und wird der Außenminister die derzeitigen massiven
Christenverfolgungen vor allem im Bundesstaat Orissa ansprechen? Im
Vorfeld hat er dieses öffentlich nicht angekündigt, was aber nicht
heißt, dass er es nicht tun wird. Die EU hat Indien bereits scharf
kritisiert dafür und vielleicht setzt man hier eher auf stille
Diplomatie. Doch genaues wissen wir darüber nicht.
Rockenstein: Muss man als Christ jetzt Angst haben nach Indien zu reisen?
Florian Meesmann: Nein, dass muss man nicht. Meine Familie und ich sind bekennende Christen und haben noch nie irgendein Problem damit gehabt.
Klea: Ist Indien wirklich ein regionaler Stabilitätsfaktor? Man hört ja immer häufiger von Bombenanschlägen.
pone arnas: Wie haben Sie die Terroranschläge in Delhi erlebt und was steckt dahinter?
Florian Meesmann:
Bei den letzten Terroranschlägen waren auch mehrere Märkte betroffen,
auf denen wir einkaufen gehen. Also das sitzt uns hier schon noch ein
wenig in den Knochen. Die Kette von Serienexplosionen, die es ja in
vielen Städten gegeben hat (Jaipur, Ahmedabad, Delhi) hat auch die
Inder sehr verunsichert. Es spricht viel dafür, dass es sich dabei um
radikalislamistisch motivierte Taten handelt. Bei der letzten großen
Bombenserie in Assam weiß man noch wenig über die Hintermänner und zur
Zeit gibt es einen Anschlag, der offenbar einen hinduistischen
Hintergrund hat, der zur Zeit von der indischen Polizei untersucht
wird. Also die terroristische Bedrohung hat zugenommen, keine Frage.
Doch im Vergleich zu Ländern wie zum Beispiel Pakistan, Bangladesh oder
Afghanistan, kann Indien immer noch als ein Stabilitätsfaktor gelten.
Die Frage ist sicher, ob es dem indischen Staat gelingt, dieser
Bedrohung besser Herr zu werden, als das bisher der Fall war. Das ist
sicher entscheidend dafür, ob Indien seine relative Stabilität wahren
kann.
Pogy: Sie sind ja Korrespondent für Südasien. Haben Sie sich diese Region bewusst ausgesucht? Wenn ja, was fasziniert so daran?
Norbert: Für welche Länder sind Sie eigentlich zuständig? Wie lässt sich das realisieren, wenn man bedenkt, wie groß allein Indien ist?
Florian Meesmann:
Unser Berichtsgebiet umfasst neben Indien die Länder Afghanistan,
Pakistan, Nepal, Bhutan, Sri Lanka, die Malediven und Bangladesh. Dabei
spielen – neben Indien – natürlich Pakistan und Afghanistan eine
herausragende Rolle in der Berichterstattung. Die ist nur möglich mit
Hilfe eines Netzes von Stringern und Producern in den einzelnen Ländern
und durch ausgeprägte Reisen der Studiocrew. Das Faszinierende an
Südasien sind sicher die atemberaubenden Widersprüche dieser Region. In
Indien liegen ergreifende Naturschönheiten und menschliches Elend sehr
dicht beieinander. In Afghanistan sind es die herzlichen Menschen, die
trotz Jahrzehnten Bürgerkriegs den Lebensmut nicht verloren haben. Die
Kette der Beispiele ist lang, aber faszinierend ist die Arbeit hier.
Daran besteht kein Zweifel.
am: Rückblick nach einem Jahr, Herr Meesmann: was war Ihr einschneidenstes Erlebnis?
Florian Meesmann:
Da gab es eine ganze Menge, am meisten erschüttert haben mich zwei
Dinge: Die Begegnung mit der herzzereissenden Armut der indischen
Landbevölkerung und die Begegnung mit einem schwer verletzten Mädchen
in einem Bundeswehrfeldlazarett in Nordafghanistan. Die Augen dieses
bei einem Anschlag schwer verletzten Kindes, die begleiten mich bei
meinen Reisen durch Afghanistan.
Moderator: Wir müssen leider schon zum Schluss kommen…
omg: In
Indien leben noch 500 bis 600 Millionen Menschen ohne ordentliche
Stromversorgung. Ist es da nicht übertrieben, von einer kommenden
Wirtschaftsmacht zu reden?
ManDra: Indien
umrundet mit seiner Weltraum-Technik den Mond, hat Atomraketen und
Flugzeugträger. Ist vor diesem Hintergrund die Zahlung von
Entwicklungshilfe noch berechtigt?
Florian Meesmann:
Vielen Dank für diese beiden Fragen, denn sie werfen ein Schlaglicht
auf die ungelösten Probleme Indiens: Auch in Neu Delhi fällt regelmäßig
der Strom aus, dabei ist die stabile Energieversorgung sicher eine der
Grundlagen für das weitere Wachstum. Entwicklungshilfe, das hat auch
die zuständige Bundesministerin bei Ihrem Besuch kürzlich deutlich
gemacht, kann nur sehr gezielt gegeben werden. Eines der indischen
Grundprobleme ist sicher dieses: Wie können die Eliten des Landes davon
überzeugt werden, dass ein leistungsfähiger Staat, ein Minimum an
sozialer Grundversorgung und die Übernahme von Verantwortung,
Voraussetzungen dafür sind, zu einer Weltwirtschaftsmacht aufzusteigen.
In dieser Frage hat Indien und seine Gesellschaft noch ein gutes Stück
Weg vor sich.
Moderator: Das war eine gute
Stunde tagesschau-Chat. Vielen Dank, liebe User, für Ihre Beteiligung!!
Leider konnten wir nicht alle Fragen stellen. Herzlichen Dank, Florian
Meesmann, für Ihre Zeit! Grüße von Berlin nach Neu Delhi! Das Team von
tagesschau.de wünscht allen noch einen schönen Tag.
Florian Meesmann: Herzliche Grüße in die Heimat!
Der Chat wurde moderiert von Thomas Querengässer, tagesschau.de.