Am Dienstag, den 27. Mai 2008, war Alexander Rahr, Experte für Russland und Energiepolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, zu Gast im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de. Er sprach über die Konferenz der Nordpol-Anrainerstaaten und über die russische Energiepolitik.
Moderator:
Herzlich willkommen im tagesschau-Chat. Im ARD-Hauptstadtstudio ist
heute unser Chat-Gast Alexander Rahr. Alexander Rahr ist bei der
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik unter anderem
zuständig für Energiepolitik und Russland und hat das Buch
„Russland gibt Gas" geschrieben – also der richtige Mann für
eine Diskussion über das strategische Wettrennen um Einfluss und
Öl am Nordpol. Vielen Dank, dass Sie zum Chat gekommen sind und
hier die erste Frage:
phlo:
Wieso entdecken die Anrainerstaaten des Nordpols erst jetzt seine
wirtschaftliche und politische Brisanz?
Alexander
Rahr: Die Rohstoffvorkommen am Nordpol sind sehr sehr schwer zu
fördern. Vor einigen Jahren hat man eine Förderung von Öl
und Gas am Nordpol als utopisch angesehen. Jetzt sind die Preise so
nach oben gesprungen, dass sich wiederum eine Investition in diese
schwierige Förderungsstruktur lohnt. Außerdem hat Russland
hier Gas gegeben und andere Staaten vor gewisse Fakten gestellt.
Russland sagt, dass die Öl- und
Gasreserven in der größten Nordpolregion auf dem
russischen Festlandssockel liegen würden, deshalb nicht einer
internationalen Kontrolle unterstehen und Russland sie alleine
fördern möchte. Das hat eine
Anti-Reaktion im Westen hervorgerufen. Es findet jetzt eine Konferenz
statt, die versuchen wird, die Ungereimtheiten zu lösen.
Rose:
Warum ist ein unterseeischer Festlandrücken für einen
Gebietsanspruch ausschlaggebend?
Alexander
Rahr: Das internationale Recht weist noch Lücken auf. Aber
das ist die Frage, die jetzt wahrscheinlich auch auf der Konferenz
beantwortet werden muss, inwieweit sich diese vermuteten
Rohstoffvorkommen in der Tat auf diesem Festlandsockel befinden oder
nicht. Es ist eine Diskussion, die jetzt von Fachleuten geführt
werden muss, und möglicherweise werden zwei gegensätzliche
Vorstellungen aufeinander stoßen. Möglicherweise die
russische und die norwegische. Aber nach dem bekannten Modell im
internationalen Recht kann schon ein Staat auf dessen Festlandsockel
sich Ressourcen befinden, diese für sich in Anspruch nehme, auch
wenn der Sockel sich auf dem Meer weit unter Wasser befindet. Deshalb
muss die Konferenz die Frage eindeutig klären, ob sich die
Ressourcen tatsächlich auf einem solchen Festlandsockel befinden
oder nicht. Die Definition wird sehr schwierig.
"Es gibt noch keinen Präzedensfall"
Moderator:
Falls Sie das für sich sagen können:
Benutzername:
Zu wem gehört der Lomonossow-Rücken denn Ihrer Meinung
nach, zu Russland oder zu Dänemark?
Alexander
Rahr: Die Frage ist wirklich sehr, sehr schwer zu lösen,
weil erst jetzt die internationale Gemeinschaft nach vielen Jahren
anfängt, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.
Wahrscheinlich ist das so ein typischer Aspekt, wo alle Seiten
irgendwie Recht haben. Die Gegend des Nordpols ist juristisch nicht
eindeutig definiert.
phlo: Gibt
es bereits vergleichbare Streitigkeiten, eine Art Präzedenzfall?
Alexander
Rahr: Es gibt im Vergleich zu diesem Fall heute keinen
eindeutigen Präzedenzfall. Jedenfalls nicht einer, der in der
jüngsten Geschichte irgendwie erkennbar war. Deshalb ist die
Suche nach einem Lösungsansatz, der für alle Seiten
annehmbar ist, auch relativ schwierig. Ich vermute, dass die
Entwicklung in der Nordpolregion vor allem auch deshalb so schwierig
zu definieren ist, weil die geologische Erforschung dieses Gebietes
hier auch nicht hundertprozentig stattgefunden hat.
Moderator:
Das heißt auch, es gibt noch keine Sicherheit, wie groß
die Ölvorräte dort möglicherweise sind?
Alexander
Rahr: Es gibt Vermutungen, aber keine verlässlichen Angaben.
Vielleicht gibt es geheime Angaben, die die russische Seite und die
amerikanische Seite gestützt auf Satellitenaufklärung
vorliegen haben. Aber eines steht fest: Der Wettbewerb um die
Kontrolle des letzten großen bedeutenden Rohstoffreservoirs
unseres Planeten hat begonnen. Das Zeitalter der Renaissance der
Ressourcen ist eingeläutet. Und
Russland möchte seinen Status als Energiesupermacht festigen.
Eine Kontrolle über den Lomonossow-Festlandsockel wird Russland
in die Situation bringen, dass es zu seinen fast unerschöpflichen
Reserven noch weitere große Gasfelder hinzuaddieren könnte.
"Russland ist noch keine hunderprozentige Energiesupermacht"
Moderator:
Dann wäre Russland die Energie-Supermacht der Zukunft.
Alexander
Rahr: Russland versucht, seinen Weltmachtstatus durch seine
Energiereserven und eine Energieaußenpolitik zu festigen.
Allerdings ist Russland noch keine hundertprozentige
Energiesupermacht, weil es alleine diesen Status nicht erheben kann.
Es wird für Russland von großer Bedeutung sein, inwieweit
es andere erdgasproduzierende Länder in seine
Energieaußenpolitik einbinden kann. Russland
versucht derzeit zusammen mit den zentralasiatischen Staaten und
möglicherweise mit dem Iran eine Gas-OPEC zu begründen, die
dann natürlich für den Westen eine enorme Herausforderung
werden würde. Diese OPEC könnte schon im Oktober 2008
stehen.
lebe!:
Besteht eine realistische Chance, dass Russland aus einer Förderung
von fossilen Brennstoffen am Pol ein ähnliches
energiepolitisches Gewicht bekommt wie es heute die OPEC hat? Und wie
wird der Rest der Welt reagieren? Hat Russland die Mittel und den
Willen seine Interessen mit (begrenzten) bewaffneten Konflikten
durchzusetzen? Wie groß ist die Gefahr, dass daraus ein offener
Krieg direkt vor der europäischen Haustür ausbricht?
Alexander
Rahr: Ich rechne nicht mit kriegerischen Auseinandersetzungen
oder einem neuen dritten Weltkrieg um Öl und Gas. Aber völlig
abwegig ist diese Vorstellung keinesfalls. Was
früher als unmöglich galt, wird heute eine Tatsache,
nämlich dass die Länder, die über Energieressourcen
verfügen, heute in der Lage sind, die künftige Weltordnung
zu kreieren. Russland gehört zu diesen Staaten genauso wie
andere Staaten des mittleren Ostens und die USA. Die EU verliert in
dieser Konstellation an Macht. Nichtsdestotrotz wird gerade die
Europäische Union von Energieimporten aus nicht-demokratischen
Ländern, die aber über Energieressourcen verfügen,
abhängig werden. Wir haben erst seit wenigen Monaten begriffen,
in welcher Lage wir sind. Und aus Sicht der russischen Führung
und aus Sicht der Regierung von Venezuela oder Algerien oder dem Iran
oder auch Turkmenistans scheint es legitim zu sein, die neuen
Instrumente (Waffen will ich hier nicht sagen) als Machtfaktoren in
der künftigen Weltordnung einzusetzen. Schauen Sie unsere
Reaktionen darauf an: Die CDU in Deutschland debattiert
beispielsweise über die Stärkung des
Bundessicherheitsrates, der, wenn es nach einigen führenden
CDU-Politikern gehen sollte, auch für die Sicherung der
Energietransportwege in den Westen zuständig sein soll.
Sarana:
Welche Ergebnisse erwarten Sie von der Nordpolkonferenz? Welche
Ansprüche werden sich durchsetzen?
Alexander Rahr:
Meiner Meinung nach wird diese Konferenz die Expertenebene nicht
verlassen. Es werden unterschiedliche Dokumentationen vorgelegt. Die
endgültigen Entscheidungen, wenn diese überhaupt noch
möglich sind, über die Aufteilung der Ressourcen am Nordpol
kann eigentlich nur die UNO regeln.
Rechtsstatus des Nordpols ist noch unklar
Ato: Was sagt denn
die UN zu den Ansprüchen der Staaten?
Alexander Rahr:
Die UNO besteht aus unterschiedlichen Staaten und die UNO spricht mit
zahlreichen Stimmen. Wir müssen die Ergebnisse dieser und vieler
anderer Konferenzen abwarten, bis wir einen Überblick darüber
haben wie der Rechtsstatus der Rohstoffreserven, der fossilen
Reserven, in der Nordpolregion dokumentiert und später auch
formal aussehen kann.
Baum: Ist es nicht möglich,
die Nordpolgebiete unter internationale Verwaltung zu stellen?
Alexander
Rahr: Das ist ein strittiger Punkt. Sie stehen im Prinzip unter
internationaler Verwaltung. Aber der Nordpol ist eine terra
incognita, in der die Ausbeutung von Bodenschätzen noch nicht
richtig beginnen konnte. Das Hissen der
russischen Fahne auf dem Meeresgrund im August letzten Jahres zeugt
aber davon, dass die Russen Teile der internationalen Gewässer
eben als eigenes Territorium betrachten, weil nach neuen geologischen
Erkenntnissen russischer Forscher der oben erwähnte
Lomonossow-Festlandsockel weit in die Tiefe des Meeres reicht und
alles, was sich in diesem Festlandssockel befindet, dann nicht unter
internationaler Kontrolle, sondern unter der Kontrolle Russlands
steht.
Moderator:
Für die Antarktis wurde 1959 ein Vertrag abgeschlossen, der
Gebietsansprüche und Ausbeutung zumindest „eingefroren" hat.
Halten Sie einen solchen Vertrag auch für die Arktis denkbar?
Also ein Moratorium, damit man erst einmal zehn oder zwanzig Jahre
Zeit zur Lösung des Konflikts bekommt?
Alexander
Rahr: Das war ja der Sinn der Sache, erst mal zu warten und nach
den geologischen Erkenntnissen Ausschau zu halten. Kein Staat sah
sich damals auch finanziell in der Lage die Energiereserven
auszubeuten. Daneben verfügen, wie gesagt, Länder wie USA
oder Russland über ganz andere Reserven, Öl- und Gasfelder,
die viel einfacher und viel billiger zu fördern sind.
Ich denke, das
symbolische Hissen der russischen Fahne im August letzten Jahres hat
aber nicht nur symbolisch einen Wettbewerb – um das milder zu
formulieren – um die letzten großen vermuteten
Energierohstoffreserven provoziert. Wenn die USA, Norwegen, Dänemark
jetzt nicht reagiert hätten, hätte Russland die Welt vor
vollendete Tatsachen gestellt. Ich glaube dass die Gas- und
Ölreserven des Nordpols auch in den nächsten zehn Jahren
von niemandem wirklich gefördert werden können. Dazu
müssten die Bohrtechnik und die Fördertechnik noch
ausgereifter werden. Aber der Versuch, sich der Kontrolle dieser
Ressourcen heute zu sichern, ist auch ein Bestandteil der
Energiegeopolitik deren Auswirkungen wir alle bald zu spüren
bekommen werden.
"Russland versteht sich mehr und mehr als Nationalstaat"
Moderator:
Zur internationalen Bedeutung haben Sie ja schon etwas gesagt, ich
würde die folgende Frage daher gerne erweitern mit dem Nachsatz
„in der russischen Öffentlichkeit".
Benutzername:
Wie viel tatsächliche Bedeutung kommt Russlands symbolischem Akt
zu, seine Flagge im Polarmeer zu hissen?
Alexander
Rahr: Wir wissen, dass Russland sich heute mehr und mehr als
Nationalstaat versteht mit einem ganz – vielleicht immer radikaler
werdendem – Nationalstolz. Wenn sie die russische Öffentlichkeit
ansprechen, so wollen die meisten Russen nach allen Umfragen heute
als Großmacht respektiert werden. Nach den Demütigungen
der 90er Jahre sind solche Symbolhandlungen wie das Hissen der
russischen Fahne auf dem Meeresboden des Nordpols Balsam für die
russische Seele.
Moderator:
Was waren die Demütigungen der 90er Jahre – können Sie das
noch näher erläutern?
Alexander
Rahr: In den 90er Jahren wachten die Russen von einem Tag auf den
anderen auf und sahen, dass sie einen Drittel ihrer Territorien des
alten russischen Reiches verloren hatten. Die Ersparnisse des alten
sowjetischen Mittelstandes waren über Nacht ausradiert, Russland
und seine Wirtschaft von westlicher Unterstützung und
Finanzkrediten zu hundert Prozent abhängig. Radikale Ideen
geisterten in den Köpfen der Eliten. Die NATO wurde zwei Mal bis
fast an die Grenzen Russlands erweitert. Russland ist heute so klein
wie in der Zeit Peter des Großen.
Moderator:
Eine Meinung von:
waterwalk: Wenn Russland als
Großmacht respektiert werden will, sollte es sich mal offener
und selber respektvoller gegenüber anderen Staaten verhalten.
Irgendwie missbillige ich diese arrogante Art, die die letzten Jahre
unter Putin an den Tag gelegt wurden. Ich hoffe, dass eher ein
Zusammenspiel mit der EU angestrebt wird, anstatt einer einseitigen
Abhängigkeit. Dies wird auf Dauer allen schaden.
Alexander
Rahr: Ich glaube es ist das Problem, von welcher Seite man die
Sache sieht. Genau das, was unser verehrter Leser den Russen
vorwirft, werfen die Russen uns vor: Dass wir russische legitime
Interessen in der Außen- und Wirtschaftspolitik Russlands
völlig ignorieren. Dass wir Russland in unser Wertesystem
hineinzwingen möchten, in das es nicht hinein will. Dass wir
Westler alle arrogant sind und Russland ständig nur belehren.
Aber ich muss jetzt ganz klar unterstreichen, dass aus meiner Sicht
einseitige Abhängigkeiten nicht entstehen werden. Die Russen
brauchen Europa und den Westen als Konsumenten für ihre
Energieprodukte, denn wir zahlen für russisches Gas und Öl
hohe Preise. Und das Geld benötigt Russland, um sich in den
nächsten zwanzig bis dreißig Jahren auf unseren Stand zu
modernisieren.
Moderator:
Hat sich eigentlich mit dem Präsidentenwechsel in dieser
Strategie etwas geändert?
Alexander
Rahr: Das ist noch nicht ersichtlich. Medwedjews Besuch in Berlin
in der nächsten Woche wird möglicherweise mehr Klarheit
schaffen. Aber aus der Wahlkampagne des neuen Präsidenten wissen
wir, dass er eine liberalere Sicht der Wirtschaft hat als Putin.
Gerade die deutsche Regierung sieht in Medwedjew einen wichtigen
Modernisierungspartner. Man glaubt mit ihm die strategische
Partnerschaft im Sinne Europas vertiefen zu können. Die
große Frage ist, wie unabhängig wird Medwedjew sein unter
einem übermächtigen Premier Putin.
Russland versteht Schelte für Schröder nicht
Moderator:
Bundeskanzler Schröder wurde schwer gescholten für sein
Engagement für eine Ostesseepipeline. Ist das aus russischer
Sicht nachvollziehbar?
Alexander
Rahr: In Russland versteht man nicht, wieso Deutschland seinen
alten Kanzler so arg gescholten hat für sein Engagement für
die Ostseepipeline. Russland hat seine eigene Sicht auf die
Diversifizierung seines Energieexports. Das russische Argument
lautet: Wir brauchen eine Pipeline, die unser Gas direkt an die
sicheren Konsumenten, wie Deutschland, liefert, weil die
herkömmlichen Leitungswege über Ukraine und Weißrussland
unsicher geworden sind. In Europa
herrscht derweilen ein Krieg über die Verlegung neuer Pipelines.
Der Status der „Energiesupermacht", den Russland für sich
anstrebt, kann nicht nur durch nachgewiesene Reserven an Öl- und
Gas gewonnen werden, sondern man muss auch die notwendigen Wege
finden, um die Energieressourcen an die Konsumenten zu liefern.
Es gibt aber auch andere Staaten in der
Europäischen Union, zu denen gehört Deutschland, die diesen
machtpolitischen Ansatz nicht teilen und für eine größtmögliche
Diversifizierung eintreten. Ich finde es
ist sehr wichtig, wenn wir russisches Gas über die
Ostseepipeline, aber auch über die Druschba-Pipeline über
Mittelosteuropa bekommen. Inzwischen geistert schon der Begriff
„Energie-NATO" in der westlichen Öffentlichkeit herum. Man
spricht von Solidarität mit den Staaten, denen möglicherweise
das Gas und Öl irgendwann einmal abgedreht werden könnte.
Die USA drohen vehement mit Sanktionen
gegenüber den Staaten, die ein Gaskartell errichten wollen. Sie
sehen: Wir werden in der Zukunft möglicherweise vor großen
Herausforderungen stehen.
Moderator:
Die Strategie in Sachen Transport der Energie ist also genauso
wichtig die Förderung.
Alexander
Rahr: Das eine kann ohne das andere nicht existieren.
Pipelines werden in den nächsten zehn bis
fünfzehn Jahren weiterhin die Haupttransportader für den
Weg nach Europa sein. Ob irgendwann einmal die Möglichkeit
bestehen wird, Flüssiggas so wie Öl per Tanker aus dem
Persischen Golf oder Lateinamerika nach Rotterdam oder Hamburg zu
schaffen, ist eine noch nicht hundertprozentig gelöste
technische Frage. Also werden wir
weiterhin auf das bewährte Pipelinesystem bauen müssen.
Allerdings werden ökologische Aspekte, siehe Umweltverschmutzung
durch möglicherweise lecke Pipelines in der Ostsee oder am
schwarzen Meer oder in der kaspischen See, an Aktualität
gewinnen.
Moderator:
Dass Energie teuer wird, haben inzwischen alle gemerkt. Haben Sie das
Gefühl, dass a) die deutsche und b) die europäischen
Politiker die Brisanz der künftigen Energieversorgung schon in
vollem Umfang erkannt haben?
Alexander
Rahr: Nein, wir erwachen langsam aus unserem Dornröschenschlaf.
Noch vor zweieinhalb Jahren haben wir die Ausmaße des heutigen
Krieges um Energiepipelines überhaupt nicht im Visier gehabt.
Wir haben auch den langjährigen Gaskonflikt zwischen Moskau und
Kiew überhaupt nicht beachtet. Die Preissteigerung auf den
Energiemärkten, die 1999 begann, hat alle Experten überrascht.
Bis heute sind die Ursachen für diese rapide Preissteigerung
nicht hundertprozentig klar. Es scheint, dass der größte
Auslöser der hohen Energiepreise der Energiehunger der
chinesischen und indischen Wirtschaften war. Aber auch die politische
unklare Lage im Nahen und Mittleren Osten, verschärft durch die
Kriege nach dem 11. September 2001, hat nicht zur Stabilität auf
den Weltenergiemärkten geführt. Es herrscht teilweise auch
im Westen eine Schönrederei. Zum Beispiel im Verhältnis zu
Russland. Es gibt Experten, die behaupten dass die Energiepreise bald
wieder unter 20 Dollar pro Barrel sinken werden und es dann mit der
russischen Arroganz vorbei ist. In meinem Buch „Russland gibt Gas"
folge ich einer anderen Argumentation, die sagt, dass die
Energiepreise eher noch steigen werden. Ein Land wie Russland sitzt
auf unermesslichen Öl- und Gasreserven. Wir kritisieren und
schimpfen auf Russland, das es nicht genug Öl- und Gas fördert.
Aber im Kreml sitzen gewiefte Schachspieler. Eiskalt wird nur das
gefördert, was heute verkauft werden kann. Indirekt werden die
Preise dadurch hoch gehalten. Auf dem Gasmarkt agiert Russland
genauso wie die OPEC-Staaten im Bereich Öl. Russland wird nur
dann mehr fördern, wenn es für sein Gas und Öl noch
mehr Geld bekommt. Und in Russland rechnet man, dass der Höhepunkt
des Öl- und Gaszeitalters um das Jahr 2025 erreicht werden wird.
Dann wird Russland in der Tat seinen Energiesupermachtstatus
manifestieren.
"Wir hätten pragmatischer sein sollen"
Klops: Sie sprechen von
„Dornröschenschlaf". Welche Reaktionen wären denn
angemessen gewesen?
Alexander
Rahr: Ich will nicht zynisch klingen: Aber diese unsägliche
Debatte über gemeinsame Werte gegenüber Russland und China
ist aus meiner Sicht noch ein Nachwirken der romantischen Phase der
90er Jahre, als der Westen sich als der große Sieger im Kalten
Krieg betrachtete. Aus meiner Sicht hätten wir die
Energieallianz mit Staaten wie Russland aber auch Kasachstan und
Turkmenistan viel pragmatischer, vielleicht auch aus unserer Sicht
eiskalt, vorantreiben müssen. Heute
beharren wir im Umgang mit Russland auf Gesetzesrahmenbedingungen der
90er Jahre, in die wir die energieproduzierenden Länder
hineinpressen wollten. Aber die Welt
verändert sich, so dass wir unser Regelwerk, mit dem wir in den
90er Jahren stark waren, im 21. Jahrhundert nicht mehr punkten
können. Nehmen wir zum Beispiel die
Energie-Charta: Noch heute fordern die naiven Europäer von
Russland, dass Moskau die Kontrolle über seine Energiepipelines
einer internationalen Obrigkeit unterstellt. Diese
Energie-Charta, die das einfordert, wird aber auch von Amerika und
Norwegen und auch von Algerien und anderen Öl- und Gas
fördernden Ländern nicht unterschrieben. Wir
müssen uns schleunigst auf Kompromisse einigen und ein Regelwerk
errichten, indem wir die Konsumenten, die Produzenten und die
Transiteure in der Energieweltwirtschaft auf eine Stufe stellen.
Moderator:
Die Schlussfolgerung heißt:
Dann: Dann
wird die Abhängigkeit des Westens von Russland wachsen?
Alexander
Rahr: Objektiv scheint es so zu sein. Aber Russland würde
sich zu früh freuen, wenn es eine solche Abhängigkeit
Europas von Moskau anstreben würde. Der
Westen ließ sich auch von der arabischen OPEC in den 70er
Jahren nicht unterkriegen. Über die gemeinsamen Abhängigkeiten
zwischen Produzenten und Konsumenten haben wir ja schon gesprochen.
Wenn unsere Abhängigkeiten von Russland so
groß werden würden, dass Moskau die europäische
Politik diktieren könnte, würden die Europäer
Milliarden ausgeben, um alternative Energiequellen zu erforschen.
Man würde das Ende des Gaszeitalters
einläuten und zur Atomkraft zurückkehren, was Länder
wie Italien und Frankreich schon längst tun. Aber
man muss nicht immer nur das Schlechte denken. Das russische oder das
algerische oder das turkmenische Erdgas ist eine der saubersten
Energiequellen, die es heute gibt. Es ist relativ leicht zu gewinnen
und über Pipelines relativ leicht zu befördern.
Anstatt den Faktor Gas so zu politisieren,
sollten wir versuchen, im möglichen Rahmen zu kooperieren. Ich
finde es sehr wichtig, dass gerade deutsche, französische,
italienische Energiefirmen inzwischen zusammen mit Gasprom direkt an
der Förderung russischer Energieträger beteiligt sind.
Dieser Prozess muss noch weiter verstärkt
werden. Aber man muss auch die Russen verstehen, die als
Gegenleistung für die Öffnung ihres Marktes ihre Konzerne
wie Gasprom stärker auf westlichen Konsummärkten platzieren
möchten. Aber auch diese Debatte ist bei uns höchst
politisiert.
Moderator:
Typisch deutsche Diplomatie ist ja das Vermeiden von lauten Worten
und offenem Streit und das Verhandeln hinter den Kulissen. Ist das
für die Bundesregierung der richtige Weg im Umgang mit Russland?
Alexander
Rahr: Ich will schon wieder nicht zynisch klingen: Wenn es in
Russland in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens und der
Politik noch eine Rechtlosigkeit gibt, muss das angesprochen werden.
Aber ich denke nicht auf Kosten einer sehr
wichtigen Zusammenarbeit in anderen wirtschaftlichen, politischen
Bereichen, von der die Stabilität Europas und möglicherweise
auch der Weltfrieden abhängen. Das
heißt nicht, dass wir den Russen den Strick verkaufen, an dem
sie uns dann aufhängen. Es geht darum, dass man auch mit
Ländern, die ein anderes Wertesystem haben als das unsrige,
vernünftige Kooperationen zusammenbringt. Ich
wage die folgende These: Hätte es in Russland Ende der 80er
Jahre nicht diesen radikalen Bruch von Kommunismus in Richtung
Demokratie gegeben, hätte es mit anderen Worten die
„Gorbatschows Perestroika" nicht gegeben, hätte Russland den
chinesischen Weg der Transformation aus der kommunistischen Ideologie
und Planwirtschaft Richtung Kapitalismus und Demokratie gewählt.
Die 90er Jahre wären von einem
autoritäreren Führungsstil im Kreml viel stärker
geprägt gewesen. Aber es hätte vielleicht nicht wie jetzt
im 21. Jahrhundert einen Rückschlag in Sachen Demokratie in
Russland gegeben. Was ich damit sagen
will ist, dass Russland uns vielleicht in den 90er Jahren eine
Demokratie vorgemacht hat, die wir als Durchbruch Russlands zum
Westen betrachteten, die aber in Wirklichkeit nur auf Sand gebaut
war. Ich bin wirklich alles andere als
ein Rassist. Aber in meinen monatlichen Reisen nach Russland in den
letzten zehn bis fünfzehn Jahren stelle ich nüchtern fest,
dass in einem Land wie Russland, in dem es nie Demokratie gab, das
Verständnis für das, was wir als liberale Werte empfinden,
in breiten Teilen der Bevölkerung nicht vorhanden
ist.
Deutschland als Russlands Anwalt gegenüber dem Westen
Moderator: Zum
Abschluss noch das Ergebnis unserer kleinen Umfrage, die wir im Chat
gemacht haben: „Glauben Sie, dass sich die Nordpol-Anrainerstaaten
über die Ressourcen-Ausbeute einigen werden?" Nur ein Achtel
glaubt daran, 86 Prozent nicht.
Alexander
Rahr: Der Besuch von Medwedew in Deutschland am 5. Juni wird
keine neue Ära der Freundschaft in den Beziehungen einleiten.
Aber es ergeben sich neue Chancen einer Vertiefung der strategischen
Partnerschaft. Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, dass die Russen
Deutschland weiterhin als einen ihrer Anwälte gegenüber dem
Westen betrachten. Und ich finde, dass Frau Merkel trotz ihrer
zögerlichen Haltung gegenüber Russland diese Anwaltsrolle
weiter spielen wird, so wie Helmut Kohl und Gerhard Schröder vor
ihr. Und diese Anwaltsrolle wird es auch ermöglichen, dass
letztendlich, das will ich hoffen, nicht nur ein loser Energiedialog,
sondern eine feste Energieallianz zwischen der Europäischen
Union und Russland entsteht.
Moderator: Das
waren 60 Minuten tagesschau-Chat. Mein Name ist Wolfram Leytz.
Herzlichen Dank, Herr Rahr, dass Sie Zeit für die Diskussion mit
den Lesern von tagesschau.de und politik-digital.de zu diesem
zukunftsträchtigen Thema hatten. Das Protokoll des Chats gibt’s
wie immer in Kürze auf den Websiten von tagesschau.de und
politik-digital.de. Das tagesschau-Chat-Team wünscht allen noch
einen schönen Abend!