Moderator: Herzlich willkommen im tagesschau-Chat.
In dieser Woche wird im Bundestag der Haushalt 2008 verabschiedet.
283 Milliarden Euro will der Bund ausgeben. Und trotz sprudelnder
Steuereinnahmen reicht es immer noch nicht zu einem ausgeglichenen
Haushalt. Zwölf Milliarden Euro neue Schulden kommen damit
auf den Schuldenberg noch drauf – der liegt inzwischen bei
deutlich über 900 Milliarden Euro. Im ARD-Hauptstadtstudio
begrüße ich jetzt Anja Hajduk, haushaltspolitische Sprecherin
der Grünen. Als Oppositionsvertreterin hat sie den Haushalt
kritisch im Blick. Vielen Dank Frau Hajduk, dass sie zum tagesschau-Chat
gekommen sind. Die erste Frage:
Ferdy: Warum immer sparen? Ist es nicht dringend
Zeit für einen "Schluck aus der Pulle "?
Anja Hajduk
Haushaltspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen
Anja Hajduk: In Zeiten einer guten
Konjunktur – so wie im Moment – ist man gut beraten, Vorsorge zu
treffen für schlechtere Zeiten. Deswegen sind wir dafür,
die jetzige Situation zu nutzen und weniger neue Schulden zu machen.
Zukunftsinvestitionen, die wichtig und richtig sind, können
viel stärker durch Subventionsabbau finanziert werden.
dondolo006: Weniger neue Schulden…
Und unter welchen Bedingungen kann man anfangen, Schulden abzubauen?
Anja Hajduk: Schuldenabbau gelingt insgesamt erst,
wenn man einen ausgeglichenen Haushalt erreicht hat, wenn man also
keine Nettokreditaufnahmen mehr braucht. Ich halte es für realistisch,
dies für den Bund bis 2009 zu erreichen. Dann kann man beginnen,
Schulden abzubauen.
Meine Heimatstadt Hamburg hat dies schon jetzt angepackt. Wollen
wir hoffen, dass es der Bund auch bald schafft.
Moderator: Wenn der ausgeglichene Haushalt kommt,
in welcher Größenordnung müssten dann jährlich
Schulden getilgt werden, damit man von dem Schuldenberg herunterkommt?
Anja Hajduk: Das kann man erst seriös festlegen,
wenn man die dann aktuellen Rahmenbedingungen kennt, z.B. die dann
aktuelle Konjunktur oder Arbeitslosigkeit. Umgekehrt -bei starkem
Wirtschaftswachstum ist eine Schuldenrückführung leichter
möglich. Klug ist, die Rückführung der Neuverschuldung
konjunkturreagibel zu gestalten. In guten Zeiten sind Überschüsse
für den Schuldenabbau möglich, aber in schlechten Zeiten
wird das dann wohl auch mal aussetzen müssen.
Zülpich: Kann Steinbrück mit seiner
Bilanz zufrieden sein?
Anja Hajduk: Steinbrück kann mit den wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen, unter denen die große Koalition arbeitet,
zufrieden sein. Das hilft ihm, dass seine Bilanz auf den ersten
Blick gut aussieht. Aber Herr Steinbrück ist klug genug zu
wissen, dass er auch einige Niederlagen hat einstecken müssen.
Zum Beispiel hat er sich erfolglos dagegen gewehrt, dass der Bund
in den nächsten Jahren 14 Milliarden Euro an die Krankenversicherungen
überweisen muss, ohne dass die große Koalition hierfür
eine Gegenfinanzierung geschaffen hat. Ebenso gibt es Ausgaben im
Arbeitsmarktbereich für die Kosten der Unterkunft, wo er Zahlungen
an die Gemeinden leisten muss, die er in dem Ausmaß nie wollte.
awa: Stichwort Konjunktur: Es kommt ja oft der
Vorwurf, ein Aufschwung käme nur bei großen Unternehmen
an. Wie sehen Sie das?
Anja Hajduk: Ich glaube schon, dass das sehr
differenziert zu sehen ist. Es gibt auch kleine und mittlere Unternehmer,
die eine bessere Auftragslage haben und es gibt große Unternehmen,
die wegen der Dollarschwäche auch Probleme haben, z.B. Airbus.
Wichtig ist, dass die Politik sich ein realistisches Bild macht,
wo die größten Probleme liegen. Hier, glaube ich, ist
immer noch die Langzeitarbeitslosigkeit zu nennen.
Rollbrett: Die Haushaltsdebatte gilt ja eigentlich
als Königsdisziplin im Bundestag. Wie haben Sie den Tag heute
erlebt? Ist das mit der Großen Koalition vorbei?
Anja Hajduk: Die Haushaltsdebatte und gerade der
Auftakt der Finanzdebatte am Dienstag ist schon eine besondere Debatte,
weil sie ebenso wie die so genannte Elefantenrunde die Möglichkeit
eröffnet, über die grundsätzliche Linie der Regierungspolitik
zu diskutieren Haushaltspolitik erfordert ein gewisses Generalistentum.
Ich finde diese Debatte persönlich immer eine große Herausforderung,
weil es mein Anspruch ist, oppositionelle Kritik sowohl pointiert
als auch in der Sache begründet darzustellen. Heute musste
ich als Grüne auch zum Haushalt Stellung nehmen mit Blick auf
unsere eigenen Parteitagsbeschlüsse am Wochenende.
Moderator: Darauf, zum Thema Grundsicherung und
Oswald Metzger kommen wir gleich: Wir haben vor dem Chat wie immer
bereits die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Das war die Nummer
zwei, eine einfache Frage:
meier: Warum wird soviel Geld für Rüstung
ausgegeben?
Anja Hajduk: Die Rüstungsausgaben liegen
so hoch, weil der Verteidigungsminister seine Hausaufgaben nicht
ausreichend gemacht hat. Es werden jährlich noch vier bis sechs
Milliarden. Euro für Projekte ausgegeben, die nicht mehr mit
heutigen Einsatzszenarien vereinbar sind, oder die überdimensioniert
sind. Zum Beispiel beschaffen wir zu viele Eurofighter oder U-Boote
oder zu teure Fregatten. Wir haben von grüner Seite allein
für den Haushalt 2008 Einsparungen von 1,4 Milliarden vorgeschlagen.
Moderator: Das Problem sind ja häufig langfristige
Verträge für Rüstungsvorhaben – zum Beispiel beim
Eurofighter. Gibt es wirklich keine Möglichkeit, aus den Verträgen
herauszukommen?
Anja Hajduk: Ich glaube, dass bei der Entscheidung
für solcherlei Finanzierungen eine größere Flexibilität
notwendig ist. Häufig sind es ja immer wieder dieselben Firmen,
die hier Aufträge erhalten, sodass man sagen kann, dass bei
vielen Beschaffungen auch industriepolitische Gründe unter
dem Stichwort Arbeitsplatzsicherung eine starke Rolle spielen, ohne
dass der tatsächliche Auftrag bzw. das Projekt aus rein verteidigungspolitischen
Gründen erforderlich ist.
Im Interesse des Steuerzahlers und der Sache wäre es gut, auch
Ausstiegsklauseln in Verträgen möglich zu machen, da man
vielleicht ein "veraltetes Projekt" durch neue Aufgaben
oder Herausforderungen ersetzen könnte.
Hd2: Was sagen Sie zum Parteiaustritt von Oswald
Metzger?
Anja Hajduk: Ich habe seit vergangener Woche damit
gerechnet. Einerseits finde ich es als haushaltspolitische Kollegin
schade, aber andererseits hatte ich auch den Eindruck, dass Oswald
Metzger nicht mehr richtig interessiert war, innerhalb der Grünen
für eine seriöse und nachhaltige Haushaltspolitik zu streiten.
Aber man kann wohl Reisende nicht aufhalten.
Gruenschnabel: Was bedeutet der Weggang von Oswald
Metzger für die Finanzpolitik der Grünen?
Anja Hajduk: Oswald Metzger hat seit Mitte der
90er Jahre bis 2002 die Haushaltspolitik der Grünen stark mitgeprägt.
Wir haben in der Bundestagsfraktion auch in den wirtschaftlich schwierigen
Jahren ab 2002 eine nachhaltige haushaltspolitische Linie weitergeführt,
in den letzten Jahren auch ohne ihn. Da wird es im grünen Grundverständnis,
eine generationengerechte Politik zu vertreten, keine Änderung
geben.
brian: Halten sie den Parteiaustritt von Oswald
Metzger für konsequent?
Anja Hajduk: Ja, ich empfinde ihn schon als konsequent
in dem Sinne, dass er sich mit seiner viel zu undifferenzierten
Kritik z.B. an Sozialhilfeempfängern von einem grünen
Grundkonsens verabschiedet hat. Der Anspruch, eine realistische
Politik zu machen, die Prioritäten für Bildung aber auch
soziale Integration setzt und dabei den Haushalt im Blick behält,
bleibt für uns weiter wichtig.
Pommes rotweiß: Was meinen Sie, in welche
Partei Herr Metzger wechselt?
Anja Hajduk: Wenn er es noch nicht weiß,
woher soll ich das wissen? Die FDP hat ja anscheinend die größere
Werbung betrieben.
Moderator: Noch einmal zu den inhaltlichen Differenzen
zu Metzger:
Gründiger33: Aber hat Metzger nicht letztlich
nur mal offen ausgesprochen, was viele insgeheim denken?
Anja Hajduk: Falls Sie Ihre Frage auf sein Urteil
über Sozialhilfeempfänger beziehen, möchte ich deutlich
sagen, dass ich diese Pauschalkritik anmaßend finde und ein
Politiker sehr selbstkritisch sein sollte, ob er sich da nicht auf
Kosten anderer medial profiliert. Darüber hinaus war ich bei
Oswald Metzgers Kritik z.B. auch gegenüber unserem Parteitagsbeschluss
erstaunt, wie wenig kenntnisreich er über den immensen Bildungsinvestitionsanteil
war.
Moderator: Wie ist Ihr persönliches Verhältnis
zu Oswald Metzger?
Anja Hajduk: Wir haben uns persönlich immer
sehr gut verstanden. Ich habe als seine Nachfolgerin im Bundestag
z.B. einen ausgezeichneten Mitarbeiter übernommen. Wir hatten
durchaus immer mal wieder Kontakt, weil ich sein haushaltspolitisches
Urteil interessant fand. Deswegen bin ich persönlich auch ein
bisschen enttäuscht, dass er nicht mehr inhaltlich in unsere
Sozialdebatte eingestiegen ist, sondern im Wesentlichen abwesend
war oder auf uns geschimpft hat.
Cujo: Kommt Metzgers Rücktritt nicht zu einem
ungünstigen Zeitpunkt, wo der Parteitag so auf Harmonie getrimmt
war?
Anja Hajduk: Der Parteitag war gar nicht mal auf
Harmonie getrimmt, sondern in der Sache sehr anspruchsvoll. Die
Diskussion um ein Grundeinkommen versus eine bedarfsgerechte Grundsicherung
ist politisch sehr komplex. Die Kontroverse war in der Sache insofern
richtig zugespitzt, in der Form allerdings sind wir alle fair miteinander
umgegangen. Das fand ich positiv und angemessen. Insofern ist es
schade, dass einer an der Sache orientierte Entscheidung des Parteitags
in einem gesellschaftspolitisch wichtigen Thema jetzt von Oswald
Metzgers Abgang überlagert wird.
Moderator: Aus der Fragensammlung vor dem Chat
die Nummer eins:
n.o.w.: Sie beschuldigen die aktuellen Koalition,
nicht konsequent genug zu sparen, weil für den Haushalt 2008
zwölf Milliarden. Neuschulden aufgenommen werden. Gleichzeitig
möchte Ihre Partei im Falle der Regierungsbeteiligung 60 Milliarden
Euro mehr in soziale Belange investieren! Die Frage nach der Finanzierung
wurde hinreichend gestellt und immer nur vage beantwortet. Bitte
erklären Sie im Detail, wie diese 60 Mrd. erwirtschaftet werden
sollen. Was halten Sie Oswald Metzger entgegen, der den Grünen
Illusionismus vorwirft?
Moderator: Vielleicht kann man ein Beispiel machen,
wo es durchgerechnet wurde.
Anja Hajduk: Wir haben für den Haushalt 2008
ein Finanztableau vorgelegt mit unseren Einsparungen und neuen Prioritätensetzungen.
Sie können das ganz genau in unserem Entschließungsantrag
zum Haushalt 2008 nachlesen. Da landen wir bei einer Halbierung
der Neuverschuldung.
Moderator: Hier
der Link dazu.
Anja Hajduk: Zu dem 60 Milliarden-Programm, das
wir auf dem Parteitag beschlossen haben, ist erst mal grundsätzlich
anzumerken, dass dies ein Beschluss ist, der ausdrücklich nur
über mehrere Jahre umgesetzt werden kann. Dies ist darin auch
ausdrücklich festgehalten worden. Richtig und wichtig an diesem
Beschluss ist, dass er im Bereich der Bildungsinfrastruktur – dies
betrifft insbesondere die Länder und Gemeinden – Ausgabensteigerungen
von 30 bis 35 Milliarden Euro vorsieht. Dies ist gerade vor dem
Hintergrund unserer demographischen Entwicklung eine wichtige Prioritätensetzung
bei den öffentlichen Ausgaben. Eine Gegenfinanzierung in dieser
Dimension kann und muss zwischen Bund, Ländern und Gemeinden
entwickelt werden. Hier fordere ich, dass wir in der Föderalismuskommission
II den Weg frei machen für eine Bundessteuerverwaltung, die
laut Bundesrechnungshof 14 Milliarden Euro erwirtschaften kann –
das soll eine konservative Schätzung sein. Wir Grünen
sind auch bereit, für weitere Kosten im Bildungsbereich die
Erbschaftssteuer zu erhöhen. Eine verfassungsgemäße
Reform des Ehegattensplitting würde weitere fünf Milliarden
Euro ermöglichen. Sie sehen also, es gibt Potential, auch solche
großen Herausforderungen zu stemmen. Einen Teil unseres Parteitagsbeschlusses,
zum Beispiel die Anhebung der Regelsätze beim ALG II, haben
wir schon in unserem Finanztableau des Haushalts 2008 gegenfinanziert.
Zugegeben, ein präzises Finanzierungsprogramm der Beschlüsse
vom Wochenende wird noch weiter zu leisten sein, das ist im Übrigen
ganz normal bei Parteitagsbeschlüssen. Einige Dinge, z.B. die
konzeptionelle Gestaltung einer Kindergrundsicherung und der Familienförderung,
müssen auch noch präziser gefasst werden. Von daher –
mein letzter Satz hierzu: Für uns Grüne gilt das Prinzip
der Gegenfinanzierung. Wir werden unsere sozial- und bildungspolitischen
Ziele nicht gegen eine nachhaltige Haushaltspolitik ausspielen.
Moderator: Noch eine Information: Während
des Chats haben wir einen kleine Umfrage gemacht: "Hat die
Große Koalition den Sparkurs aufgegeben?" Da ist das
Chat-Publikum doch gespalten: 46 Prozent meinen ja, 54 Prozent nein.
60 Minuten tagesschau-Chat sind vorbei – vielen Dank an Frau
Hajduk, dass Sie ins ARD-Hauptstadtstudio gekommen sind. Das tagesschau-Chat-Team
freut sich, wenn Sie wieder dabei sind. Einen schönen Tag noch
wünschen tagesschau.de und politik-digital.de.
Anja Hajduk: Es hat viel Spaß gemacht!