Am Donnerstag, 8. November, war Jan Korte, Bundestagsabgeordneter für DIE LINKE, zu Gast im tagesschau-Chat in Kooperation mit politik-digital.de. Er sprach über die Nachteile der Vorratsdatenspeicherung und welche Alternativen die Bundesregierung ergreifen könnte.

 

Moderator: Liebe Anhänger und Gegner von
gespeicherten Daten, herzlich willkommen im tagesschau-Chat. Am
Freitag, 9. November, wird der Bundestag aller Voraussicht nach
mit den Stimmen von Union und SPD die Vorratsdatenspeicherung und
die Neufassung der Telekommunikationsüberwachung beschließen.
Zu diesem Thema – aber natürlich auch zu allen anderen,
die Sie interessieren – haben wir Jan Korte eingeladen, Bundestagsabgeordneter
der Partei „Die Linke“ und Mitglied des Vorstands seiner
Partei. Vielen Dank, Herr Korte, dass Sie zu uns in ARD-Hauptstadtstudio
gekommen sind. Erste Frage:

Dreyhaupt: Welche Alternativen sehen Sie zur Vorratsdatenspeicherung
im Hinblick auf die Bekämpfung organisierter Kriminalität
bzw. von Straftat im Internet (Kinderpornografie, Rechtsextremismus
etc.)? Brauchen Sicherheitsbehörden hierzu nicht schlagkräftige
Handlungsalternativen?

Jan Korte
Jan Korte
Bundestagsabgeordneter für DIE LINKE

Jan Korte: Es gibt ja bereits heute
völlig sinnvolle und auch anwendbare Gesetzesvorlagen und auch
heute können beispielsweise Festplatten beschlagnahmt werden,
um Straftaten zu verfolgen. Es gibt eine ganze Reihe von Alternativen
bei der Bekämpfung von Terrorismus. Ganz wichtig ist eine friedliche
Außenpolitik, eine gezielte Entwicklungspolitik, Armutsbekämpfung
– gerade in islamisch geprägten Ländern. Die Vorratsdatenspeicherung
ist unverhältnismäßig. Das Gleichgewicht von Sicherheit
und Freiheit gerät damit völlig aus dem Lot, weil ohne
jeden Verdacht und Anlass sensible Daten von der gesamten Bevölkerung
gesammelt werden. Das hat es noch nie gegeben in der Geschichte
der Bundesrepublik.

csrss.exe: Gestern hat wieder ein Amokläufer
zugeschlagen (diesmal in Finnland). Seine Bluttat kündigte
er zuvor im Internet an. Gäbe es in Europa eine bessere Internet-Kontrolle
hätte das wohl verhindert werden können. Das ist nur ein
Beispiel von vielen Verbrechen, die im Internet geplant und vorbereitet
werden. Und da sollen wir die Internet-Überwachung nicht verschärfen?

Jan Korte: Das Entscheidende ist, dass ja heute
eine Internet-Überwachung existiert und dass es vor allem hier
an Personal mangelt, entsprechende Seiten einfach zu verfolgen und
zu lesen.
Dafür braucht man aber keine Vorratsdatenspeicherung. Gerade
Kanada und viele andere Länder (Belgien aktuell), welche die
Vorratsdatenspeicherung eingeführt haben, haben dort keine
positiven Effekte auf die Kriminalitätsstatistik gehabt. Es
geht also darum, dass es keinen rechtsfreien Raum gibt, sondern
dass es einen staatsfreien Raum geben muss, wo ich vor Überwachung
geschützt bin.

Moderator: Nachfrage von:

gkeuschnig: Was ist genau an den Daten "sensibel"?
Die Inhalte werden ja nicht gespeichert…

Jan Korte: Richtig. Praktisches Beispiel, um es
zu verdeutlichen: Es ist dasselbe als wenn es ein Gesetz geben würde,
dass die Post verpflichtet, sämtliche Adressen und Absender
von Briefen zu speichern und sie Ermittlungsbehörden und Geheimdiensten
zur Verfügung zu stellen. Hier ist es aber sogar noch schlimmer,
weil bei den heutigen Verbindungsdaten Bewegungsprofile, genaue
Ortung und punkt- und zeitgenaue Rückschlüsse auf die
Kommunikation von Menschen untereinander möglich sind. Das
ist ein absoluter Paradigmenwechsel und gerade die aktuellen Geheimdienstaffären
haben mehr als deutlich gemacht, wie wichtig ein effektiver Datenschutz
ist. Und es gibt den Grundsatz der Datensparsamkeit und vor allem
der Zweckbindung der Daten und dies ist bei der Vorratsdatenspeicherung
nachweislich nicht gegeben.

Aurora: Wenn es Alternativen gibt, die genauso
gut organisierte Kriminalität bekämpfen können, warum
ist man dann dennoch so erpicht auf die Vorratsdatenspeicherung?

Jan Korte: Das hat zum einen was damit zu tun,
dass es seit dem 11. September 2001 einen Dammbruch in Fragen von
Datenschutz und Eingriffen in Grund- und Freiheitsrechte gegeben
hat, der offensichtlich weit über das Ziel hinausschießt.
Meiner Meinung nach geht es aber auch gerade Schäuble und den
Konservativen um ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber
der eigenen Bevölkerung. Und es ist schon – das zeigt die Geschichte,
auch der Bundesrepublik – ein Anliegen der Konservativen und der
Großen Koalition in diesem Falle, soviel wie möglich
Informationen über die Bevölkerung zu sammeln. Nur damit
wird letztendlich die Unschuldsvermutung auf den Kopf gestellt.
Im Falle der Vorratsdatenspeicherung geht es auch ganz konkret um
einen drastischen Eingriff in die Pressefreiheit, die substantiell
für eine funktionierende Demokratie ist.
Hinzu kommt, dass weder Schäuble noch sonst wer in der Großen
Koalition zur Vorratsdatenspeicherung, zur Anti-Terror-Datei, zum
biometrischen Reisepass einen wirklichen Nachweis gebracht hat,
dass dies mehr Sicherheit bringt und verhältnismäßig
ist.

Moderator: Die Terror-Anschläge von Madrid
sind wegen der gespeicherten Handy-Verbindungsdaten aufgeklärt
worden, sagt Justizministerin Zypries. Ein ziemlich starkes Argument
für die Speicherung, finden Sie nicht?

Jan Korte: Sie werden ja bereits jetzt im Schnitt
zwei Monate gespeichert. Es gibt die Methode eines so genannten
Quick-Freeze-Verfahrens, wo man bei einem Verdacht auf eine Straftat
oder für die Verfolgung einer Straftat diese Daten "einfrieren"
kann. Das heißt, die Strafprozessordnung bietet schon heute
ausreichend Möglichkeiten, terroristische Anschläge und
Straftaten zu verfolgen.

Schorsch: An welches Ereignis denken Sie dabei,
wenn Sie schreiben "Wie die Geschichte zeigt"?

Jan Korte: Die Geschichte der Bundesrepublik hat
gezeigt, dass gerade die Konservativen immer Feindbilder brauchen
und auch aufbauschen, um verschärfte Sicherheitsbestimmungen
durchzusetzen. In den Fünfziger Jahren waren es die Kommunisten,
in den Sechziger Jahren radikalisierte Studenten, in den Achtziger
Jahren die organisierte Kriminalität und nun der internationale
Terrorismus, konkret der islamistische Terrorismus. Dabei ist nicht
abzustreiten, dass es islamistischen Terrorismus gibt. Ich bestreite
nur, dass die Mittel zu seiner Bekämpfung noch mit demokratischen
rechtsstaatlichen Grundsätzen zu vereinbaren sind. Es kann
und darf nicht sein, dass wir – um eine vermeintliche absolute Sicherheit,
die es nicht geben kann, zu erreichen – leichtfertig demokratische
Errungenschaften und demokratische Rechte, die in den letzten Jahrhunderten
unter großen Opfern erkämpft worden sind, einfach über
Bord schmeißen.
Vielmehr ist es dringend erforderlich, eine Gefahrenanalyse zu machen
und eine Debatte in der Öffentlichkeit und im Bundestag zu
führen, wie groß die Gefahr eigentlich wirklich ist.
Panikmache, wie sie zum Beispiel Innenminister Schäuble mit
seiner Behauptung, dass es nur eine Frage der Zeit sei wann ein
Anschlag mit nuklearem Material stattfinden würde, sind unverantwortlich,
stiften Panik und dienen einzig und allein dazu, umstrittene Gesetzesvorhaben,
wie die Vorratsdatenspeicherung, die Online-Durchsuchung, brachial
durchzusetzen.

Moderator: Jetzt wird es noch einmal ein bisschen
historisch: Wir haben wie immer in unserem "Warteraum"
vor dem Chat bereits Fragen gesammelt. Das hier ist die Nummer drei:

Klausi: Ist es nicht eine große Heuchelei
von CDU/CSU/SPD gegenüber der LINKEN, immer den Stasi- und
Bespitzelungsstaat DDR anzuführen, wenn es bei uns demnächst
noch schlimmer zugeht, wenn die Pläne von Schäuble und
Co umgesetzt werden?

Moderator: Die möchte ich ergänzen mit
diesen beidem zum gleichen Thema:

Rad77: Wodurch unterscheidet sich die Überwachung
im Namen der Terrorverhinderung durch das illegale Öffnen von
Briefen in Diktaturen wie z.B. der DDR?

chancelor: Lieber Jan Korte! Findest du es nicht
unglaubwürdig, dass sich die heutigen Sozialisten als Bürgerrechtspartei
profilieren möchten, obwohl sie selbst in der Vergangenheit
Überwachung als Mittel zum Machterhalt benutzten?

Jan Korte: Ich finde selbstverständlich die
Situation zurzeit nicht genauso oder gar schlimmer als die Überwachung
in der DDR. Denn ich zum Beispiel kann gerade hier sitzen und meine
oppositionelle Einstellung öffentlich machen und habe sogar
Medien, die diesem Auftrag nachkommen und diese öffentlich
machen, auch wenn sie dies nicht immer für uns machen, aber
gerade schon. Das müsste also klar gestellt werden! Das ist
auch der entscheidende Unterschied zwischen dem Öffnen von
Briefen in Diktaturen und der heutigen Situation, da zum Beispiel
bereits 7.000 Menschen Vollmachten zu einer Verfassungsklage in
Karlsruhe eingereicht haben und gerade in den letzten Jahren das
Bundesverfassungsgericht mehrfach Entscheidungen der Bundesregierung
zugunsten der Grundrechte bewertet hat. Das ist ein entscheidender
Unterschied und es ist auch so, dass wir vor dem Reichstag am Dienstag
mit über Tausend Menschen gegen die Vorratsdatenspeicherung
demonstrieren konnten.Vielleicht auch die Bemerkung, dass ich nicht
Sozialist bin, sondern demokratischer Sozialist.
Ich komme aus dem Westen, bin im Westen aufgewachsen und also persönlich
nicht verantwortlich für Unrecht in der DDR. Trotzdem ist mir
völlig bewusst, dass ich mit dem Eintritt (damals in die PDS,
jetzt in Die Linke.) natürlich ein Stück politische Verantwortung
– auch für die Geschichte – mit übernehmen muss. Und gerade
die Linke hat in den letzten siebzehn Jahren in einem wirklich umfassenden
Sinne ihre eigene Geschichte deutlich kritisch und selbstkritisch
aufgearbeitet.
Ich bin der festen Überzeugung dass wir auch diese Geschichte
weiter aufarbeiten müssen.
Warum wir uns deswegen für Bürgerrechte einsetzen in den
aktuellen Debatten, ist gerade eine Lehre aus unserer Geschichte,
die für mich auch persönlich klar gemacht hat, dass soziale
Rechte nicht wichtiger sind als politische Rechte. Und dass es auch
gerade umgekehrt gilt, das ist die Lehre, die ich und meine Partei
aus der Geschichte gezogen haben. Ich würde mir wünschen,
dass beispielsweise die CDU oder die FDP einmal darüber diskutieren
würden, was sie mit der Übernahme der Blockparteien übernommen
haben, dort habe ich noch keine kritische Aufarbeitung feststellen
können. Auch das muss einmal gesagt werden, auch wenn es uns
nicht daraus entlässt, uns selber kritisch mit unserer Geschichte
auseinander zu setzen.

Moderator: Die von unseren Usern als beste Frage
aus unserem Warteraum bewertete:

die.legende: Ein Beschluss der Bundesregierung
vom 28.09.2007 ist bekannt geworden, wonach Deutschland dem "Übereinkommen
des Europarats über Computerkriminalität" beitreten
soll. Dieser Beitritt würde 52 Staaten in Europa und weltweit
den Zugriff auf die ab 2008 in Deutschland zu speichernden Vorratsdaten
eröffnen, nicht nur zur Verfolgung von Computerstraftaten,
sondern jeglicher im Ausland mit Strafe bedrohter Handlung. Warum
informieren Sie die Bürger darüber nicht?

Jan Korte: Ich habe über den Sachverhalt
erst heute Morgen in meinem Büro Kenntnis genommen und bewerte
es ebenso als äußerst kritisch und ich kann versichern,
dass die Fraktion "Die Linke" die Thematik in die Öffentlichkeit
tragen wird und für eine kritische Auseinandersetzung sorgen
wird. Da ich im Detail noch nicht informiert bin, möchte ich
jetzt auch nicht zu viel dazu sagen, denn das ist eine Angewohnheit,
die ich versuche, mir gar nicht erst anzugewöhnen. Das heißt,
ich werde mir allerdings noch heute die entsprechenden Unterlagen
durchlesen.

Moderator: Und noch eine "Lernfrage"-
Das war die zweithöchst bewertete Frage.

Informatiker: Das Gesetz zur "Vorratsdatenspeicherung
" soll morgen (Freitag) im Bundestag zur Abstimmung gebracht
werden. Ein Gutachten zur polizeilichen Nutzung von Telekom-Verbindungsdaten
– mehr als 400 Seiten des Freiburger Max-Planck-Instituts (MPI)
für Strafrecht – ist zwar fertig, wird aber vom Justizministerium
nicht freigegeben. Die einzige unabhängige Entscheidungshilfe
zu diesem Thema wird den Abgeordneten vor der Abstimmung morgen
nicht zur Verfügung gestellt. Wie kann die Abstimmung ohne
Vorlage dieses wichtigen Gutachtens erfolgen?

Jan Korte: Das ist in der Tat eine beispiellose
Frechheit. Allerdings ist dieser Umgang zu Zeiten der Großen
Koalition gang und gäbe. Es gab eine Sachverständigenanhörung
zu dem morgen zu verabschiedenden Gesetzentwurf, in der im Prinzip
die übergroße Mehrheit aller Experten dieses Gesetzesvorhaben
zerrissen hat. Trotzdem wird dies am Freitag wohl leider mit der
Mehrheit der Großen Koalition beschlossen werden. Wir haben
versucht, an besagtes Gutachten zu gelangen. Dies wird uns aber
verwehrt. Und das hat offensichtlich Methode. Anderes Beispiel hierfür
ist eine Expertenanhörung des Innenausschusses zur Einführung
des biometrischen Reisepasses, in der fast alle Sachverständigen
und Wissenschaftler – auch die, die natürlich von uns nicht
benannt wurden – dargelegt haben, dass der neue "Bio-Pass"
weniger Sicherheit und weniger Grundrechte bedeutet, da der jetzige
Reisepass der sicherste weltweit gewesen sei. Hier geht es also
offensichtlich um eine ganz andere Gesamtrichtung der Politik, in
der dann auch Sachverständige und Wissenschaftler nicht mehr
wirklich gehört werden. Selbst BKA-Präsident Ziercke räumte
ein, das die deutschen Reisepässe weltweit absolute Spitzenprodukte
sind – und trotzdem seit ein paar Tagen die Einführung des
biometrischen Reisepasses.

Schorsch: Soweit mir bekannt, bieten FDP und Grüne
der Vorratsdatenspeicherung ebenfalls die Stirn. Wieso können
die "kleinen Parteien" sich gegenüber der Koalition
sich nicht ausreichend durchsetzen? Wo "hakt" es?

Jan Korte: Also zuerst ganz praktisch: Wir haben
einfach keine Mehrheit gegen die Große Koalition, versuchen
aber doch – bei allen Unterschieden, die es zum Beispiel bei den
Linken und der FDP geben mag – in Fragen der Bürgerrechte auch
zusammenzuarbeiten.
Nur allein reicht das allerdings nicht. Das entscheidende Mittel,
um weitere Eingriffe in die Grund- und Freiheitsrechte abzuwehren
und den demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu verteidigen,
ist eine größere Sensibilität in der Bevölkerung,
deutlich hörbarer Protest in der Bevölkerung und eine
gesellschaftliche Stimmung, die sich nicht einschüchtern lässt,
sondern mündig ihre Rechte verteidigt und bereit ist, dafür
auch auf die Straße zu gehen. Die Opposition kann dies im
Parlament nicht alleine leisten. Je größer die gesellschaftliche
Stimmung gegen diese Politik ist, umso größer ist die
Chance, auch im Bundestag den Weg in den Überwachungsstaat
aufzuhalten.
Insofern hat Mut gemacht, dass vor ein paar Wochen über fünfzehntausend
Menschen in Berlin unter dem Motto "Freiheit statt Angst"
demonstriert hatten. Besonders interessant war dort, dass Linke,
FDPler, Grüne, heimlich gesichtete Sozialdemokraten, Unternehmer
aus der IT-Branche, Ärztevereinigungen, Journalistenverbände
und Gewerkschaften gemeinsam demonstrierten. Das war nach meiner
Meinung ein entscheidender Schritt für Mehrheiten gegen diese
Innenpolitik zu streiten.

Moderator: So, jetzt geht es auch um uns:

Ina: Warum wurde in den Medien so wenig über
die Vorratsdatenspeicherung berichtet? Ich habe es nur mitbekommen,
da mein Freund in der Branche tätig ist, sonst wäre ich
immer noch der Meinung, das Gesetz sei abgeschmettert worden!

IchAusDemInternet: Herr Korte! Die Bevölkerung
weiß doch von nichts. Was soll sich denn da an Widerstand
bzw. Bewusstsein bilden?

Moderator: Ist das auch Ihr Eindruck?

Jan Korte: Die erste Problematik bei der Vorratsdatenspeicherung
ist ihr Name.
Vielleicht hätten auch wir als Opposition von der Totalprotokollierung
der Telekommunikationsdaten sprechen müssen, damit die Leute
mit diesem Begriff etwas anfangen können. Meines Erachtens
haben die Interessierten und aufklärerischen Medien recht ausführlich
über die geplanten Maßnahmen berichtet, aber offensichtlich
immer noch zu wenig. Ich habe oft den Eindruck, dass – das
sage ich auch selbstkritisch an meine eigene Partei – wir neben
der sozialen und ökonomischen Situation in der Bundesrepublik,
die extrem kritikwürdig ist, wir aber dabei vielleicht die
Frage der Entwicklung von demokratischen Rechten beziehungsweise
dem Abbau von demokratischen Grundrechten noch etwas zu wenig in
den Vordergrund gestellt haben. Darum werden wir uns jetzt noch
wesentlich stärker bemühen.
Zum anderen ist es natürlich relativ schwierig, an der Vorratsdatenspeicherung
für die Bürgerinnen und Bürger sofort ganz deutlich
zu machen, was das für sie eigentlich bedeutet. Ein praktisches
Beispiel, was es ganz konkret bedeutet, ist zum Beispiel, dass das
ärztliche Vertrauensverhältnis extrem gestört wird.
Indem zum Beispiel Menschen, die in einer seelischen Notlage sind,
nicht mehr vorbehaltlos ihren Arzt per Telefon oder E-Mail anrufen
oder schreiben würden. Das ist eine ganz konkrete Folge, eine
ganz konkrete weitere Folge ist, dass die Pressefreiheit massiv
beschädigt wird. Fälle aus Belgien zeigen ganz deutlich,
dass der Kontakt von Informanten, die die entscheidende Grundlage
der journalistischen Arbeit ist, massiv gestört würden,
weil sie befürchten mussten enttarnt zu werden. Praktisch bedeutet
das, wenn sich Informanten – aus welchen Gründen auch immer
– an die Presse wenden, um auf einen Korruptionsskandal aufmerksam
zu machen, sie dieses heute – nach der Vorratsdatenspeicherung –
nur noch schwerlich tun können und sich wahrscheinlich, wenn
sie es überhaupt noch tun, auf einer dunklen Brücke im
Nebel treffen müssten, sofern diese nicht bereits videoüberwacht
wäre.

Moderator: Hier muss der Moderator mal ausdrücklich
dem Gast zustimmen. Für investigativ recherchierende Journalisten
– gerade im Bereich von Verfehlungen etwa durch Behörden –
ist das ein Problem. Das hört man in Berliner Kollegenkreisen
sehr wohl. Das Thema ist aber wiederum recht speziell, denn die
Pressefreiheit als "Arbeitsmittel" ist nun sicher nicht
die Sorge von "Otto Normalverbraucher". Daher die Frage:

Talkmaster: Viele Menschen reagieren, auf die Vorratsdatenspeicherung
angesprochen, vor allem mit den Worten "Ich habe nichts zu
verbergen ". Was setzen sie diesen entgegen?

Jan Korte: Das Entscheidende bei der Vorratsdatenspeicherung
ist, dass es genau umgekehrt ist.
Es wird unterstellt, dass die Leute offensichtlich etwas zu verbergen
hätten, die gegen die Vorratsdatenspeicherung angehen. Grundgedanke
des demokratischen Rechtsstaates ist aber die Annahme, dass alle
erst einmal unschuldig sind und dass man ihnen etwaige Schuldigkeit
beweisen muss. Man kann solchen Menschen deutlich antworten, dass
sie einmal überlegen müssen, ob sie eigentlich wollen,
dass andere – in diesem Falle der Staat – alles über sie wissen,
ob sie bereit wären zum Beispiel ihre Steuererklärung,
ihr Einkommen, ihre Liebschaften, überhaupt ihr Privatestes,
öffentlich zu machen. Ich zumindest habe keinen Bock, überall
von Videokameras beobachtet zu werden, ich habe keinen Bock darauf,
dass der Staat immer mehr Daten über mich sammelt und ich traue
einfach auf Grund der Skandale der letzten Monate und Jahre auch
den Geheimdiensten nicht übermäßig.
Es gibt das so genannte Recht auf informationelle Selbstbestimmung,
was Verfassungsrang hat, was im Kern besagt, dass jeder Mensch selbst
bestimmen kann, was für Informationen und in welchem Licht
er sich in der Öffentlichkeit darstellt und was er über
sich preisgibt. Meines Erachtens ist das für eine Demokratie
ganz extrem wichtig, damit Leute auch Räume, vielleicht auch
Rückzugsräume für ihre Probleme und ihre Gedanken
untereinander haben, denn der Mensch ist ein soziales Wesen und
ich finde es wichtig, dass Leute sich austauschen, unbeobachtet
miteinander diskutieren können, um mündig zu werden, um
sich politisch engagieren zu können und aufrecht in der Gesellschaft
zu agieren. Denn das ist die Vorraussetzung dafür, um demokratische
Teilhabe zu garantieren und ein Bewusstsein dafür zu haben,
sich nicht alles gefallen zu lassen. Und auch zu dieser Frage ist
ein Blick in die Geschichte wichtig, denn es zeigte sich immer,
dass in totalitär organisierten Systemen die Leute eben Mündigkeit
verlieren.
Dem muss man mit größtmöglicher demokratischer Teilhabe
entgegen wirken. Daher ist es unerlässlich, jeden Tag erneut
um die Errungenschaften der Grundrechte zu verteidigen.

Moderator: Eine Frage nach der Kompetenz Ihrer
Parlamentskolleginnen und -kollegen:

Alle Ahnungslos: Wie viele von den abstimmenden
Politikern haben auch nur im Ansatz eine Ahnung, was sie dort morgen
verabschieden werden? Und ich meine das nicht als technische Frage!
Hier wurde doch sicherlich nur oberflächlich die Thematik überflogen.

Jan Korte: Ich bin mir relativ sicher, dass zumindest
die Innen- und Rechtspolitiker sehr wohl wissen, was sie morgen
abstimmen. Sie wissen genau, was sie tun, das ist ja der Skandal.
Und ob meine anderen Kolleginnen und Kollegen die ganze Tragweite
der morgigen Entscheidung am Freitag überblicken, kann ich
nicht einschätzen. Es ist aber auf jeden Fall zu beobachten,
dass zumindest in der SPD-Fraktion diese Frage umstritten ist. Und
ich kann auch nur hier die SPD dazu auffordern, nicht nur Korrekturen
in sozialen Fragen vorzunehmen, sondern dem Parteitagsbeschluss
Taten folgen zu lassen – in dem sie nämlich erklärt haben
"Die SPD ist die Partei der Bürgerrechte und der rechtsstaatlichen
Terrorbekämpfung".
Das kann sie morgen unter Beweis stellen, wenn sie (die SPD) es
denn ernst meint.

DerReisende: Welche Chancen räumen Sie einer
möglichen Verfassungsklage nach der Verabschiedung ein?

Jan Korte: Ich räume einer Verfassungsklage
große Chancen ein, das hat die Rechtssprechung der letzten
Jahre deutlich gezeigt – etwa die großen Einschränkungen
des "Großen Lauschangriffs", das Urteil zum Luftsicherheitsgesetz
und einige andere Entscheidungen. Deswegen denke ich, dass es gute
Chancen gibt, dass die Massensammelbeschwerde eine recht große
Chance auf Erfolg hat.
Vielleicht noch ein Hinweis, der auch ganz wichtig ist: Es läuft
zurzeit eine Klage Irlands vor dem Europäischen Gerichtshof,
welche die Vorratsdatenspeicherung-Richtlinie der Europäischen
Union für rechtswidrig hält. Dieser Klage wird von allen
Seiten eingeräumt, dass sie auf jeden Fall siegreich sein wird.
Das heißt: Es ist geradezu absurd, dass der Bundestag morgen
bereits die Vorratsdatenspeicherung beschließen wird, anstatt
sich noch ein paar Monate Zeit zu nehmen und die anhängige
Klage vor dem Europäischen Gerichtshof abzuwarten.

Ina: Wo kann ich die Vollmacht zur Verfassungsklage
einreichen? Ich möchte da gerne mitmachen.

Jan Korte: Dafür kann ich empfehlen, unbedingt
auf die Seite "vorratsdatenspeicherung.de" zu gehen, dort
gibt es detaillierte Hinweise, wie man sich dort engagieren kann.
Genauso wichtig ist aber, dass man sich politisch engagiert, sich
organisiert, mit Vereinen und Verbänden in Kontakt kommt, um
politisch etwas in diesem Land zu verändern. Je mehr sich politisch
engagieren – gegen den Weg in einen Überwachungsstaat – umso
größer sind die Chancen, dass es eine andere Politik
– auch im Bundestag – geben kann.

Moderator: Jetzt ist die Linkspartei-Analyse des
politischen Gegners gefragt:

Joerg: Die SPD hat aber meiner Meinung nach, wie
so oft in der großen Koalition, mal wieder komplett nachgegeben,
anstatt ihren Standpunkt beizubehalten. Warum lässt man sich
bei so etwas Relevantem "unterdrücken"?

Jan Korte: Das ist eine äußerst berechtigte
Frage, die ich mir seitdem ich nun seit zwei Jahren Mitglied des
Bundestages bin, jede Woche stelle. Ich finde die Entwicklung der
SPD – auch in der Innenpolitik – fatal. Sie hat den alten Leitspruch
Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" geopfert und sich
zum Erfüllungsgehilfen von Innenminister Schäuble machen
lassen. Bei allen relevanten Fragen der letzten Monate und Jahre
– Stichwort Antiterror-Datei, Vorratsdatenspeicherung, Telekommunikationsüberwachung
– hat die SPD groß angekündigt "Nicht mit uns!"
Und geschehen ist genau das Gegenteil – sie haben alles mitbeschlossen.
Auch hier ist es ganz entscheidend, dass sowohl wir als linke Opposition
Druck machen, aber dass auch Bürgerinnen und Bürger, Wählerinnen
und Wähler, sich direkt an die Verantwortlichen in der SPD
wenden und eine andere Politik einfordern. Bei der CDU kann man
sich das schenken, denn sie sind grundsätzlich autoritär
orientiert.

Schorsch: Manchmal hilft es, vom Nachbarn abzuschielen.
Wie wird das Thema Terrorismus denn in Frankreich oder in den Niederlanden
behandelt? Gibt es hier ähnliche Überlegungen zur Datenspeicherung?

Jan Korte: Da kann ich leider nicht viel zu sagen.
Ich weiß aber, dass es gerade in Frankreich und Italien recht
großen Widerstand gegen weitere Sicherheitsverschärfungen
gibt, der eng gekoppelt ist mit einer recht starken Friedensbewegung
in diesen Ländern und der breit von den Gewerkschaften mitgetragen
wird. Auch das würde ich mir für die Bundesrepublik mehr
wünschen, Die Linke wird sich – um hier eine europäische
Harmonisierung auch des Widerstandes zu befördern – auf dem
Parteitag der Europäischen Linken Ende des Monats in Prag auch
zu diesen Fragen verständigen.
Denn all diese Fragen sind natürlich europäische Fragen.
Von der Vorratsdatenspeicherung beispielsweise sind eben nicht nur
achtzig Millionen Bundesbürger betroffen, sondern alle Einwohner
der Europäischen Union.

Moderator:
Zwei Fragen stellvertretend für andere:

Observer: Wie kann man sich vor der staatlichen
Überwachung schützen? Welche Möglichkeiten habe ich
als Bürger, meine Daten zum Beispiel zu verschlüsseln?
Wo erhalte ich Informationen zum Thema "Selbstschutz gegen
Überwachung "?

Aurora: Gibt es für den durchschnittlichen
Bürger Möglichkeiten dieser Überwachung zu entgehen?

Jan Korte: Ich bin kein Techniker, allerdings
findet man einige Hinweise auf der Seite "www.vorratsdatenspeicherung.de"
und – eine kleine Werbung in eigener Sache – auch auf meiner Homepage
jankorte.de,
wo wir Tipps zum Datenschutz zusammengestellt haben. Wichtig ist,
dass jeder sich genau überlegt, wo er auch freiwillig seine
Daten herausgibt. Ich weise hin auf Payback-Karten, auf Preisausschreiben
und viele andere Dinge, wo wir allzu leichtfertig sehr sensible
Daten, wie Geburtstag, Geburtsort und Anschriften preisgeben. Hier
sollte jeder immer wieder überlegen, ob er seine Daten herausgeben
will. Das Entscheidende aber ist politisches Engagement gegen die
Politik der zunehmenden Überwachung und Kontrolle, denn nur
so wird sich etwas ändern in der Bundespolitik. Dazu kann jeder
Einzelne etwas beitragen, indem er diskutiert, sich organisiert
und in seinem Umfeld auf diese Problematiken hinweist.

Moderator: Aus den einlaufenden Fragen spricht
viel Skepsis für die Zukunft des Datenschutzes. Es ist ja ausdrücklich
nicht so, dass ab 2008 jeder Beamte beliebig in diese Daten schauen
kann. Dafür braucht es schon richterliche Entscheidungen. In
diesem Zusammenhang aber die Frage an den Abgeordneten: Wie gut
funktioniert für Sie die Kontrolle durch das parlamentarische
Kontrollgremium?

Jan Korte: Das Problem dabei ist, dass ich es
nicht beantworten kann, weil wir keinerlei Informationen aus diesem
Parlamentarischen Kontrollgremium bekommen dürfen und auch
nicht bekommen. Ich halte allerdings die Kontrolle, die das Parlament
hat, eigentlich für geradezu ungenügend, da uns zum Beispiel
im Innenausschuss die Bundesregierung de facto gar nicht informiert…

Moderator: … aber es sitzt ein Mitglied
Ihrer Fraktion im Parlamentarischen Kontrollgremium, nämlich
Herr Neskovic …

Jan Korte: … Ja. Der darf mir aber kein
Wort erzählen, was in diesem Kontrollgremium geschieht, nicht
einmal dem Fraktionsvorsitzendem. Trotzdem gehe ich davon aus, dass
er seine Aufgabe hervorragend wahrnimmt und versucht, so viel Kontrolle
wie möglich zu machen. Das Entscheidende aber an Kontrolle
ist, wenn sie wirklich kontrollieren soll, dass sie öffentlich
ist, dass zumindest die gewählten Abgeordneten soweit wie möglich
informiert werden. Wir bekommen im Innenausschuss zehnmal mehr Informationen
aus der Presse als wir Antworten auf unsere Fragen durch die Bundesregierung
bekommen. Diese Erfahrung habe ich in den letzten zwei Jahren dutzend
Mal machen müssen.

Moderator: Noch mal in eigener Sache: Unser Umfrage
hat ergeben, dass die meisten User am liebsten abends chatten würden.
Wir werden uns also überlegen, wie wir den Spagat zwischen
Terminmöglichkeiten unserer Gäste und den User-Wünschen
am besten hinkriegen. Wenn Sie Vorschläge zu den Chats haben:
Mail an internet@ard-hauptstadtstudio.de.
Das war es leider schon, unsere 60 Minuten tagesschau-Chat sind
vorbei. Vielen Dank Herr Korte, dass Sie Zeit für den Chat
hatten und vielen Dank an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des
Chats für Ihr Interesse und Ihre Fragen. Das tagesschau-Chat-Team
freut sich, wenn Sie wieder dabei sind und wünscht noch einen
schönen Abend!

Jan Korte: Ich bedanke mich auch für die
Möglichkeit, Gegenöffentlichkeit zu machen und werde morgen
im Bundestag selbstverständlich "Nein“ zur Vorratsdatenspeicherung
stimmen und würde mich freuen, wenn viele Leute sich für
soziale und politische Rechte engagieren würden.