Jochen Dieckmann, NRW-Finanzminister (SPD), ist am 13. März 2003
zu Gast im tacheles.02-Live-Chat von tagesschau.de und politik-digital.de.
Moderator: Herzlich
willkommen im tacheles.02-Chat. tacheles.02 ist ein Format von tagesschau.de
und politik-digital.de und wird unterstützt von tagesspiegel.de.
Wir haben eine Stunde Zeit, Herr Dieckmann sitzt in Köln und tippt
selber. Kann es losgehen, Herr Dieckmann?
Jochen Dieckmann:
Ja, ich bin soweit.
Moderator:
Herr Dieckmann, Sie waren von 1990 bis 1999 Hauptgeschäftsführer
des Deutschen Städtetages und Geschäftsführer des Städtetages
NRW. Sie kennen daher die schwierige Finanzlage der Städte und Gemeinden.
Welchen Ausweg wollen Sie wählen?
Jochen Dieckmann:
Es wird darauf ankommen, die Einnahmen zu verstetigen und zugleich alles
zu tun, um die Entwicklung der Ausgaben weiter "im Griff zu halten".
Andi_Hammer:
Ein Teil des Geldes für das Investitionsprogramm der Kommunen
soll aus verbrauchten Flutopfer-Hilfen kommen sowie aus der geplanten
Steuer-Amnestie für Schwarzgeld. Weitere 300 Mio. Euro sollen mit
dem Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen aufgebracht werden.
Kritische Stimmen zweifeln, ob bei den letztgenannten Maßnahmen
tatsächlich derartige Summen eingenommen werden. Wie sieht ihrer
Einschätzung aus?
Jochen Dieckmann:
Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Einnahmen aus der
"Steueramnestie" nicht präzise im Vorhinein ermitteln lassen.
Jeder Euro ist willkommen. Aber man sollte keine überhohen Erwartungen
haben.
Mechtersheimer:
Der Kanzler will ja nun angeblich die Kommunen mit billigen Krediten unterstützen.
Wie soll das denn zum Beispiel in Duisburg gehen? Die Stadt ist vollkommen
pleite. Die darf gar keine Kredite mehr aufnehmen. Was soll das bringen?
Jochen Dieckmann:
Ja. Deshalb reicht ein Kreditprogramm allein nicht aus. Dazu
muss der Verzicht auf die Flutopferhilfe kommen.
Moderator:
Wenn Sie keine hohen Erwartungen haben, was schlagen Sie konkret
vor?
Jochen Dieckmann:
Einen Mix: Verstetigung der Gewerbesteuer, Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, Steuervergünstigungsabbaugesetz
(auch das hilft ja den Kommunen, weil sie an den Mehreinnahmen beteiligt
sind!!).
Moderator:
Ist die Zusammenlegung in der SPD durchsetzbar?
Jochen Dieckmann:
Das wird zu diskutieren sein.
Mechtersheimer:
Wie viel wird denn der Verzicht auf die Flutopferhilfe bringen.
Ist das nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein – gerade in Nordrhein-Westfalen?
Jochen Dieckmann:
Bundesweit bringt das einen 3stelligen Millionenbetrag, für
NRW erfahrungsgemäss davon etwa 10%. Genaueres weiß man aber
erst Ende Mai, weil bis dahin noch Anträge gestellt werden können.
Accountability:
Mehr Geld für die Kommunen – also, den Kuchen zu vergrößern
– das ist doch einfach nicht "drin", maximal eine Rückführung
auf das Einnahmeniveau von 2000. Wie sollen die Kommunen aus Ihrer persönlichen
Sicht unter den gegebenen Rahmenbedingungen noch mehr sparen – und welche
Rahmenbedingungen würden Sie ändern, damit Kommunen ihre Ausgaben
noch mehr senken können (als bisher)?.
Jochen Dieckmann:
Wenn das Jahr 2000 der Bezugsrahmen wird, ist schon einiges erreicht.
Rahmenbedingungen zu überprüfen, ist eine Aufgabe auf allen
Ebenen. Die Landesregierung NRW hat vorgestern eine Aktion gestartet,
alle Landesgesetze auf den Prüfstand zu stellen. Das kann auch den
Kommunen nutzen.
Moderator:
Ist das Entbürokratisierung?
Jochen Dieckmann:
Auch. Im Kern ist das eine Aufgabenkritik. Wir müssen uns
die Frage stellen, welche Aufgaben Staat und Kommunen in Zukunft unbedingt
weiter erfüllen müssen.
Moderator:
Welche stehen zur Diskussion?
Jochen Dieckmann:
Der Finanzminister hat da keine Vorgaben zu machen. Ich lade
alle ein, ihrerseits Vorschläge zu machen. Man wird dann schnell
sehen, wie schwer das ist. Es ist leichter, den Status quo zu verteidigen
als an Einschnitte heranzugehen.
Moderator:
Nachfrage zu ihrer Rechnung von eben:
z-werner:
Ein dreistelliger Millionenbetrag und davon zehn Prozent – das
macht bestenfalls 99 Millionen Euro. Wie viel Schulden haben die Ruhrpott-Städte?
Das bringt doch keinen Spielraum.
Jochen Dieckmann:
Ich bin ja Realo. Man kann auch keine Wunder erwarten. Es kommt
darauf an, jede Chance zu nutzen.
rg90: Die
kommunalen Steuereinnahmen brechen ein (2001 – 5,4 %, 2002 – 4,1 %). Das
ist deutlich mehr als bei Bund (2002 – 1,6 %) und Ländern (2002 –
0,2 %). Reichen da die Maßnahmen der Regierung und was planen Sie?
Jochen Dieckmann:
Schwierige Frage. Die Einnahmen in einzelnen Ländern sind
ja auch massiv eingebrochen. NRW musste seine Erwartungen wesentlich stärker
zurückschrauben als 0,2 %. Wir haben für den Landeshaushalt
2003 zweimal 1,4, Mrd. € ausgleichen müssen.
Moderator:
Ist eine Neuverschuldung geplant?
Jochen Dieckmann:
Ohne Neuverschuldung geht es derzeit nicht. Wir brauchen sie
schon deshalb, weil nur sparen gleich "kaputt sparen" wäre.
Moderator:
Letzte Frage zu dem Thema, danach zur morgigen Rede Schröders:
Sfdfdg: Haben
die Kommunen nicht auch einfach über ihre Verhältnisse gelebt?
Jochen Dieckmann:
Das mag im Einzelfall so sein. Das Gute an der kommunalen Selbstverwaltung
ist, dass die Wähler und Wählerinnen darauf eine Antwort geben
(können).
Moderator:
Die Erwartungen an die Rede Schröders sind hoch. Einige
Fragen der UserInnen dazu:
KleinHanna:
Bundeskanzler Gerhard Schröder soll in seiner Regierungserklärung
am Freitag ein 17-Mrd.-Euro-Programm ankündigen. Sollte der Staat
nicht, wie vom BDI gefordert, seinen Konsolidierungskurs fortsetzen, anstatt
sich neu zu verschulden?
Jochen Dieckmann:
Er muss beides tun. Es gibt ja schon Einschnitte. Nur sparen bringt genauso
problematische Ergebnisse wie eine unbedingte Kreditpolitik.
Moderator:
Aber die Gewichtung ist entscheidend. Wie soll er gewichten?
Jochen Dieckmann:
Dafür gibt es kein Patentrezept oder eine mathematische
"Formel".
Moderator:
Aber ihre Meinung, die würde uns interessieren?
Jochen Dieckmann:
Die Obergrenze für eine Kreditpolitik ist das Stabilitätsziel
nach Maastricht. Den Rest muss eine Konsolidierung bringen. Ich erinnere
daran, dass wir auch eine Verstetigung der Einnahmen brauchen. Wer einen
leistungsfähigen Staat mit Lehrern, Justiz, Uni, Straßenbau
und Kulturangeboten will, muss auch bereit sein, Steuern zu zahlen.
Moderator:
Das sind die meisten Bürger auch, nur wollen sie nicht mehr
Steuern zahlen.
Tut: Wie
kann Minister Eichel in einer Konjunkturkrise 48 Steuererhöhungen
vorschlagen?
Jochen Dieckmann:
Wir haben die niedrigste Steuerquote seit Jahren und so niedrig
wie kaum ein anderes europäisches Land.
Trienkens:
Wir sind doch auch bereit ,Steuern zu zahlen. Aber die Verhältnismäßigkeit
muss gewahrt werden. Sonst driftet man ab in die Schattenwirtschaft.
Jochen Dieckmann:
Die Steuerquote in USA liegt bei 22,7, in der Schweiz (!) bei
22,6 und bei uns sind es 21,7.
Trienkens:
Warum empfinden die Menschen das ganz anders?
Jochen Dieckmann:
Es ist wohl wie beim Chill-Faktor beim Wetter. Die Politik hat
sicher auch nicht alles getan, um über die Steuerentlastungen aufzuklären.
sonnenschein:
Wirtschaftsvertreter erwarten von der Regierungserklärung
Schröders morgen einen radikalen Kurswechsel. Inwieweit wird Schröder
einer solchen Forderung nachkommen?
Jochen Dieckmann:
Da müssen Sie den Bundeskanzler fragen.
Moderator:
Ihre Einschätzung?
Jochen Dieckmann:
Ich glaube nicht, dass es dazu kommt. Die Bereitschaft zu Radikalität
ist in Deutschland nicht sehr entwickelt.
Sonnenschein:
Was halten Sie vom Vorschlag des IWF, den Stabilitätspakt
zu verletzen, wenn die konjunkturelle Lage so schlecht wie jetzt ist?
Moderator:
Ist das radikal?
Jochen Dieckmann:
Nein, nicht radikal. Es ist mir zu einfach. Gerade die Deutschen
haben auf dieses Limit hingewirkt. Das macht wenig Sinn, jetzt als erste
dessen Aufhebung zu verlangen. Dieser "Ausweg" ist mir zu billig.
Moderator:
Welchen Ausweg sehen Sie?
Jochen Dieckmann:
Wir müssen die schon beschriebene "Mischung" von
Konsolidierung, Kreditpolitik und Einnahmenverstetigung fortsetzen.
Moderator:
Zu den Reformen im Einzelnen:
Christian
Legner: Zur geplanten Lockerung des Kündigungsschutzes:
Welche konkreten arbeitsmarktstimulierenden Impulse verspricht sich die
Regierung davon?
Jochen Dieckmann:
Die Bereitschaft, mehr Arbeitnehmer einzustellen.
gh***: Aha.
Und warum?
Jochen Dieckmann:
Weil die Arbeitgeber augenscheinlich manchmal zögern, sich
dauerhaft zu binden.
Dortmund:
Können Personal-Service-Agenturen ihrer Meinung die Arbeitsämter
entlasten? Ich habe von einem Fall gehört, in dem eine verschuldete
Firma verschwunden ist, dann wieder mit der selben Geschäftsidee
auftauchte?
Jochen Dieckmann:
Ich bin sicher, dass die Agenturen eine wichtige Bereicherung
sind. Es gibt aber nicht den einen Weg in der Arbeitsmarktpolitik. Andererseits:
Man darf auch von einem schwarzen Schaf nicht auf die Farbe der ganzen
Herde schließen.
S.Solomon:
Führt eine Lockerung des Kündigungsschutzes aber wirklich
zur Bereitschaft mehr Arbeitnehmer einzustellen, wenn die Lohnnebenkosten
dadurch nicht gesenkt werden? Denn an ihnen hängt es doch eigentlich,
oder liege ich da falsch?
Jochen Dieckmann:
Ich sehe das Problem nicht nur in einer Ursache. Deshalb muss
auch an der Senkung der Nebenkosten gearbeitet werden.
Lordoftherings:
Mal ein ganz anderes Thema: Aus dem Bekanntenkreis höre
ich von mittelständischen Unternehmern ganz ohne Jammerei herbe Kritik
an den Flächentarifverträgen. Das ist für Leute, die fünf,
sechs Menschen in einer schwierigen Branche (Verlag) beschäftigen,
ein echtes Problem. Warum sind SPD und Gewerkschaften hier so unbeweglich?
Das würde meines Erachtens mal wirklich Bewegung in den Arbeitsmarkt
bringen.
Jochen Dieckmann:
Tarifverträge sind keine Entscheidungen von Parteien.
Moderator:
Aber auch der Länder, wo Berlin letztens ausgestiegen ist.
Wollen Sie dem folgen?
Jochen Dieckmann:
Nein. Eine Tarifgemeinschaft ist auch Schutz der Arbeitgeber
– gegen punktuelle Arbeitskämpfe.
Lordoftherings:
Wie sieht es denn mit der Mehrwertsteuererhöhung aus. Die
ist doch nur eine Frage der Zeit, oder? Würden Sie eine Wette dagegen
halten, dass sie nicht kommt – sagen wir mal bis 2006?
Jochen Dieckmann:
Ausschließen kann und sollte man das nicht. Im übrigen:
ich wette nie.
Lordoftherings:
Wie viele SPD-Abgeordnete im Landtag in Düsseldorf sind
in der Gewerkschaft? Wenn die SPD hier eindeutig Stellung beziehen würde,
würde sich auch bei den Gewerkschaften in Sachen Flächentarifverträgen
was ändern, oder glauben Sie etwa nicht?
Jochen Dieckmann:
Eine Äußerung einer Partei würde – zu Recht –
als Verletzung der Tarifautonomie (Art.9 GG) angesehen. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder
kenne ich nicht. Das steht in www.landtag.nrw.de.
Tut: Drastische
Steuersenkungen des Bundes scheuen die Länder wegen der Belastung
ihrer Haushalt. Ein Konflikt zwischen Eichel und Ihnen?
Jochen Dieckmann:
Auch Herr Eichel weiß, dass die Länderhaushalte "am
Limit" sind. Einige schon darüber hinaus.
Moderator:
Die Unionsmehrheit im Bundesrat hat angekündigt, dass so
genannte Steuervergünstigungsabbaugesetz abzulehnen. Wie ist ihre
Position zu dem Gesetz?
Jochen Dieckmann:
Ich bin grundsätzlich dafür. Wenn es in den Vermittlungsausschuss
geht, wird man über Kompromisse reden müssen. Insgeheim sind
ja auch die CDU-Länder vielfach dafür.
Moderator:
Wer genau?
Jochen Dieckmann:
Eingeplant hat die Mehreinnahmen in Höhe von 140 Mio. €
z.B. Hessen. Ich bin gespannt, wie Herr Koch sich verhält.
Moderator:
Zur aktuellen weltpolitischen Lage gibt es Fragen:
financialt**:
Welche Auswirkungen auf die Wirtschaft in NRW wären eigentlich
mit einem Irak-Krieg zu erwarten?
Jochen Dieckmann:
Genaues weiß man nicht. Jedenfalls wäre es sehr negativ.
Zusätzlich zu der ohnehin schlechten Lage.
Moderator:
Im Falle eines Irak-Krieges hält jedoch Finanzminister Eichel
ein erneutes Überschreiten der Drei-Prozent-Grenze durch Deutschland
für denkbar. Im Falle eines Krieges werde man sich früher vom
Versuch verabschieden, die drei Prozent einzuhalten. Das Ende des strengen
Konsolidierungskurses?
Jochen Dieckmann:
Eine kriegerische Auseinandersetzung dieser Dimension ist immer
eine Ausnahmesituation. Man darf sie aber nicht fest einplanen.
Moderator:
Aber auch nicht nutzen?
Jochen Dieckmann:
Das ist doch nicht "nutzen", wenn die Möglichkeiten
durch Konjunktureinbruch geringer werden.
Moderator:
Wie würden Sie gegensteuern?
Jochen Dieckmann:
Dafür habe ich (noch) kein Rezept. Auch habe ich die letzte
Hoffnung nicht aufgegeben, dass der Krieg vermieden wird.
Lischen: Was
halten sie vom Irak-Kurs der Bundesregierung?
Jochen Dieckmann:
Der Kurs findet eine Unterstützung in der Bevölkerung,
die mich beeindruckt und beruhigt.
Pedropan:
Man muss aber inzwischen von so einer kriegerischen Auseinandersetzung
ausgehen. Und als guter Planer haben Sie die Pflicht, worst- case-Szenarien
in der Tasche zu haben. Dieser nähern wir uns gerade. Wie sieht das
worst-case-Szenario aus, Herr Dieckmann?
Jochen Dieckmann:
Ich halte es nicht für vertretbar, solche Szenarios, wenn
man sie denn hätte, in der Öffentlichkeit auszubreiten. Das
würde auch unzutreffenderweise den Eindruck erwecken, man hätte
die Folgen eines Krieges "im Griff". Das Gegenteil ist der Fall.
Moderator:
Nachfrage:
Benebiene:
Aber als Mensch mit einer öffentlichen Aufgabe haben Sie
auch die Pflicht, wahrheitsgemäß zu informieren und nicht Politikerspielchen
zu spielen.
Jochen Dieckmann:
So allgemein ist das zutreffend. Politiker haben aber auch die
Pflicht, nicht vordergründig mit Ängsten und Emotionen der Öffentlichkeit
zu spielen.
Liebe Chat-Freunde, unsere Gesprächsrunde ist leider vorbei. Herzlichen
Dank, Herr Dieckmann, dass Sie am Chat teilgenommen haben und vielen Dank
an alle UserInnen für Ihr Interesse. Vielen Dank auch für die
Unterstützung durch unseren Partner in Köln www.europa-digital.de.
Noch ein Terminhinweis: Am Mittwoch, den 19.März, werden wir mit
Friedbert Pflüger, dem außenpolitischen Sprecher der Unionsfraktion
im Bundestag, sprechen. Der Chat findet wieder zwischen 17:00 und 18:00
Uhr statt. Wir würden uns freuen, wenn Sie wieder dabei sind. Die
Transkripte aller tacheles.02-Chats finden Sie auf den Webseiten der Veranstalter
tagesschau.de und politik-digital.de.
Jochen Dieckmann:
Auch ich sage Danke. Auf Wiedersehen! 8-):
Moderator:
Vielen Dank und Tschüß!