Der Online-Wahlkampf ist schnell, flexibel und günstig – und bleibt gegen das Fernsehen trotzdem ohne Chance. Ein Kommentar von Dr. Christoph Bieber.
Seit dem 22. Mai herrscht ein wildes Treiben in den Kampagnen-zentralen der Parteien – das vielleicht etwas vorschnelle Ausrufen von Neuwahlen hat zu einem hektischen Getümmel in den Planungs-zentralen, Agenturen und Beraterstuben geführt. Wie organisiert man in nicht einmal vier Monaten einen vollwertigen Bundestagswahlkampf inklusive Programmentwicklung, Listenaufstellung, Parteitagen und Fernsehduellen? Ein Szenario wie geschaffen für einen umfassenden Online-Wahlkampf – doch vielleicht täuschen die Hoffnungen auf spannende Auseinandersetzungen im Datenraum.
Die Organisation der Blitzkampagne wird zum Kraftakt für alle Beteiligten in Politik, Medien und Gesellschaft – ironischer Weise wird durch den künstliche erzwungenen Sprintcharakter der Wahlkampfkommunikation aber vermutlich das schnellste Massenmedium auf der Strecke bleiben: das Internet. War die digitale, interaktive Medienumgebung in den Bundestagswahlkämpfen von 1998 und 2002 als Kampagnenneuland schnell in den Fokus von Politik, Öffentlichkeit und Bürgern geraten, dürfte das Jahr 2005 im Internet wenig spannend verlaufen. Und das, obwohl die objektiven Bedingungen, schnell und flexibel auf den überraschenden Kommunikationsnotstand zu reagieren, am besten sind. Die Produktionszyklen für wahlkampfbezogene Online-Angebote sind kurz, die Kosten für Wahlkampf-Websites vergleichsweise günstig, die Distribution unter den mittlerweile weit mehr als 30 Millionen Internetnutzern gelingt nahezu ohne Zeitverlust – eine medien-adäquate Nutzung der interaktiven Kommunikationsumgebung würde sogar die Rekrutierung und Integration zusätzlicher, parteiexterner Unterstützer erlauben.
Und doch wird das Internet im Medienwahlkampf 2005 nicht aus seiner Nischenposition heraus treten.
Das klingt paradox und dieser Klang lässt sich sogar noch verstärken – ein herkömmlicher Wahlkampf ist teuer, der logistische Aufwand für die Direktansprache potenzieller Wählerinnen und Wähler ist hoch, Werbeflächen und Sendezeiten sind limitiert. Und: die „Kriegskassen“ der Wahlkämpfer sind bei weitem nicht so prall gefüllt wie noch vor vier Jahren, als die Wahlkämpfe von CDU und SPD etwa 20 Millionen Euro verschlangen – sparen ist angesagt. Es scheint selbstverständlich, dass gerade bei den teuren Posten die größte Kostenreduktion erzielt werden könnte – etwa bei großflächigen Plakatierungen, Anzeigen oder Wahlwerbespots. Auch die Transportkosten für die unvermeidli-chen Rundreisen der Parteispitzen sind hoch – insbesondere dann, wenn in kurzer Zeit möglichst viele „Straßen und Plätze“ im ganzen Land besucht werden sollen.
Neben dem Zeitfaktor scheinen auch Spareffekte die Verlagerung größerer Wahlkampfanteile in das Internet zu begünstigen. Doch es bleibt dabei: ein Wahlkampf im Jahr 2005 findet nicht großflächig im Internet statt und erst recht wird er dort nicht gewonnen.
Zwar mehren sich erste Stimmen, die einen schnellen, flexiblen und energischen Online-Wahlkampf voraussagen: virtuelle Parteizentralen, digitales Campaigning, Gegnerbeobachtung und –kontrolle, Online-Spenden, und vor allem Weblogs kursieren als vermeintliche Zauberworte. In Wirklichkeit sind dies längst eingeführte und erprobte, aber noch lange nicht ausgereizte Formate des Online-Wahlkampfs. Eine massive Blüte werden sie auch in einem möglichen Kurzstreckenwahlkampf nicht erleben, denn eine Ausarbeitung in professionelle und reichweitenstarke Wahlkampfinstrumente ist aufwändig und – unkontrollierbar. Nahezu alle innovativen Formate politischer Online-Kommunikation bergen die Gefahr, sich ins Ungewisse zu entwickeln. Damit laufen sie einem wesentlichen Ziel moderner Wahlkampfführung zuwider: der gerne als „source professionalization“ bezeichneten Kontrolle über Inhalt, Format und Richtung der Kampagnenbotschaften. Man könnte es als den Fluch des „cut & paste“ bezeichnen: die digitale Beschaffenheit der Kampagnenelemente erlaubt ein schnelles Kopieren, Manipulieren und Wiederveröffentlichen in gänzlich kampagnenfremden Kontexten. Das scheinbar so große Plus des dezentralen Datenraums, die (nahezu) gleichberechtigte Kommunikation (fast) aller Beteiligten ist jedoch der Alptraum der meisten E-Campaigner. Funktionierende Internet-Angebote bedürfen jedoch genau solcher offenen Komponenten, um aus dem Einerlei der Mainstream-Angebote heraus zu ragen – eine kampagnentechnische Zwickmühle.
Selbstverständlich gehören die Standardelemente moderner politischer Online-Kommunikation inzwischen zur Grundausstattung aller Parteien, doch werden sie stets nur als Ergänzung zum nach wie vor dominierenden Medienwahlkampf alter Prägung genutzt. Eine unerwartete Verkürzung im Wahlkampf-Zeitplan schwächt dieses Kräfteverhältnis jedoch keineswegs ab, im Gegenteil: gerade weil so wenig Zeit für medienwirksame Inszenierungen bleibt, werden diese dann umso intensiver ausgekostet. Die Wahlparteitage der Parteien werden auf mehrere Tage gestreckt, allein schon um sicher zu stellen, währenddessen möglichst große Anteile in den Nachrichtensendungen und der Presseberichterstattung zu erhalten. Die Fernsehduelle werden nicht nur zwei volle Abende blockieren, sondern mit exzessiver Vor- und Nachberichterstattung versehen, um möglichst lückenlose „TV-Events“ zu generieren. Das Interesse daran haben nicht die Parteien und Politiker allein – auch Sender und Journalisten profitieren von solchen XXL-Formaten, gute Quoten scheinen allen Beteiligten sicher. Die neuen Medien verkümmern so zum Annex eines wieder mal auf Hochglanz polierten Fernsehwahlkampfs – TV killed the Internet-Star.
Das ernüchternde Fazit: Online-Kampagnen sind und bleiben auch zehn Jahre nach dem Durchbruch des World Wide Web nicht mehr als die schwache Fortführung des Wahlkampfs mit digitalen Mitteln.