Andreas Storm
Andreas Storm, CDU-Gesundheitsexperte, ist am 31. Juli 2003


zu Gast im tacheles.02 Live-Chat von tagesschau.de und politik-digital.de.



Moderator:
Herzlich willkommen im tacheles.02-Chat. tacheles.02
ist ein Format von tagesschau.de und politik-digital.de und wird unterstützt
von tagesspiegel.de. Heute begrüße ich im ARD-Hauptstadtstudio
den CDU-Bundestagsabgeordneten und Gesundheitsexperten Andreas Storm.
Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, kann’s losgehen?

Andreas Storm:
Jawohl. Ich bin gespannt auf die Fragen.

Moderator:
Keine lange Vorrede, eine ganze Menge Fragen gleich zu dem, was viele
bewegt:

Edgi: Trotz
der geplanten Gesundheitsreform heben 16 von 250 Betriebskrankenkassen
ihre Beitragssätze an diesem Freitag an. War das so von Ihnen gedacht
und was ist das für eine Strategie?

Gewusst wie:
Können Sie uns erklären, wie es sein kann, dass die Krankenkassen
jetzt angekündigt haben, ihre Beiträge erhöhen zu wollen?
Kann man dagegen nicht vorgehen?

Andreas Storm:
Die Krankenkassen, die heute bekannt gegeben haben, dass sie ihre Beiträge
zum ersten August erhöhen wollen, haben erklärt, dass diese
Beitragssatzerhöhungen nichts mit der Gesundheitsreform zu tun haben.
Sie sind vielmehr darauf zurückzuführen, dass die meisten der
betreffenden Kassen ihre Zahlungen an den Finanzausgleich zwischen den
Krankenkassen, den sogenannten Risikostrukturausgleich, zu niedrig angesetzt
haben. Ich halte es für sehr ärgerlich, dass die Kassenvertreter
beim gestrigen Spitzengespräch mit dem Gesundheitsministerium nicht
auf diese bevorstehende Beitragserhöhung hingewiesen haben. Deshalb
muss jetzt alles dafür getan werden, dass es nicht zu weiteren Beitragserhöhungen
kommt und die Krankenkassen, die gestern gemachte Zusage für stabile
Beiträge bis zum Jahresende auch einhalten. Dieses muss zur Not bei
der geplanten Verabschiedung der Gesundheitsreform im September im Bundestag
gesetzlich geregelt werden.

Garnix: Warum
haben gestern die Kassenvertreter gestern denn nichts gesagt? Methode?

Andreas Storm:
Das muss man die Kassenvertreter fragen. Ich möchte dazu bewusst
nicht spekulieren.

Cayser: Wird
durch die Beitragserhöhung von heute von einzelnen Kassen das Ziel
der Reform gefährdet? Und was werden Sie dagegen unternehmen?

Andreas Storm:
Wie bereits gesagt, handelt es sich bei den heute bekannt gegebenen Beitragserhöhungen
ja um ein Sonderproblem. Wenn es nicht zu einer Beitragserhöhungswelle
kommt, hat das keinen nachhaltigen Einfluss auf das Erreichen der Reformziele.

Nein: Die Stimmen
mehren sich, dass die Reform scheitern wird, wenn es darum geht, die einzelnen
Reformpunkte in Gesetze zu binden. Glauben Sie, dass die Reform in ihrer
jetzigen Form überleben wird?

Andreas Storm:
Die Eckpunkte der Konsensrunde müssen als Gesamtpaket umgesetzt werden.
Jeder muss wissen: Wer einzelne Teile des gefundenen Kompromisses in Frage
stellt, gefährdet damit die Reform als Ganzes.

Fischer: Die
CDU-Chefin Merkel hat eine Bürgerversicherung befürwortet, während
ihr Rivale, Hessens Ministerpräsident Roland Koch, die Kopfpauschale
bevorzugt. Also wieder ein Zwist wie bei der vorgezogenen Steuerentlastung?

Andreas Storm:
Diese Behauptung, die heute in der Presse zu lesen war, ist nachweislich
falsch. Frau Merkel lehnt eine Bürgerversicherung im Gesundheitswesen
nachdrücklich ab.

Angelika S:
Seehofer bezeichnet fast täglich den Gesundheitskompromiss als vorläufig
und setzt sich dafür ein, möglichst schnell eine Bürgerversicherung
einzuführen. Sind Sie seiner Meinung?

Bürger:
Herr Storm, was halten Sie von der Bürgerversicherung?

Andreas Storm:
Ich halte eine Bürgerversicherung aus vielen Gründen für
einen falschen Weg. Im übrigen sollten wir uns jetzt auf die Umsetzung
der gerade beschlossenen Gesundheitsreform konzentrieren. Die Frage nach
einem Systemwechsel sollte dann zu Beginn der nächsten Wahlperiode
geklärt werden.

Moderator:
Wieso erst dann? Solang braucht man doch nicht, um die derzeitigen Pläne
umzusetzen.

Andreas Storm:
Die jetzt geplante Gesundheitsreform enthält eine Reihe von neuen
Elementen, wie z.B. veränderte Zuzahlungen oder Zusatzversicherungen.
Wir müssen damit erst einmal Erfahrungen sammeln. Im übrigen
halte ich die beiden Alternativen für einen Systemwechsel, also die
Bürgerversicherung und die Kopfpauschale, noch nicht für so
überzeugend, dass sie bereits jetzt umgesetzt werden könnten.

Rüruppig:
Wer sich als Sozialpolitiker versteht und jahrelang mit dem bestehenden
Gesundheitssystem gekämpft hat, neigt der Bürgerversicherung
zu. Stimmt das so?

Andreas Storm:
Nein. Es gibt auch viele Sozialpolitiker, die das Kopfpauschalenmodell
für besser halten. Die öffentliche Debatte der letzten Tage
hat da vielleicht einen etwas verzerrten Eindruck hinterlassen.

Heiko: Wozu
brauchen wir so viele Krankenkassen? Kann man nicht per Gesetz eine einzige
staatliche machen? Man bedenke die vielen Verwaltungskosten, die eingespart
werden können. Bei Versicherungen wie der Arbeitslosenversicherung
geht das doch auch (Man stelle sich das Chaos mit 200 Arbeitslosenversicherungen
vor).

Andreas Storm:
Früher hatten wir über 1000 Krankenkassen. Heute sind es 315.
Von diesen 315 sind 253 Betriebskrankenkassen. Trotz der heute bekannt
gegebenen Beitragsanhebungen haben die Betriebskrankenkassen immer noch
deutlich niedrigere Beiträge als andere Krankenkassenarten. Das zeigt,
dass ein Zwang zur Fusion von Krankenkassen keineswegs die Beitragssätze
auf breiter Front reduzieren würde. Im Schnitt sind natürlich
die Beiträge niedriger.

Moderator:
Aber ist das nicht gerade ein Teil des Problems?: Die AOK kriegt die schlechten
Risiken (kranke Versicherte) die guten Risiken (höhere Einkommen,
gesünder) wandern in die Bebtriebskrankenkassen?

Andreas Storm:
Deshalb brauchen wir ja auch in Zukunft einen funktionierenden Finanzausgleich
zwischen den Krankenkassen. Die Konsensrunde hat beschlossen, im nächsten
Jahr den Risikostrukturausgleich zu überprüfen und faire Wettbewerbsbedingungen
zwischen den Krankenkassen zu ermöglichen.

Moderator:
Noch mal zur Beitragssenkung:

Anonymous:
Stoiber fordert, dass die Beiträge um nicht weniger als 0,8 Prozentpunkte
sinken sollen. Ist das erreichbar/realistisch oder Wahlkampf in Bayern?

Andreas Storm:
Bei der Umsetzung der Gesundheitsreform werden die Kassen im nächsten
Jahr um rund 10 Milliarden Euro entlastet. Davon sollen 3 Milliarden Euro
zum Abbau der Schulden bzw. zum Auffüllen der Mindestrücklagen
verwendet werden. Wenn die verbleibenden 7 Milliarden Euro vollständig
in die Beitragssenkung gehen, dann würde der durchschnittliche Beitragssatz
um 0,7 Prozentpunkte sinken.

Geld: Diese
10 Milliarden trägt der Bürger, oder?!

Andreas Storm:
Die Lasten der Gesundheitsreform werden auf nahezu alle Beteiligte im
Gesundheitswesen aufgeteilt. Neben den Versicherten und den Steuerzahlern
(Tabaksteuer) tragen auch die Leistungserbringer ihren Anteil an der Reform.
So müssen Ärzte und Zahnärzte im kommenden Jahr wieder
eine Nullrunde hinnehmen. Die pharmazeutische Industrie wird direkt mit
rund einer Milliarde Euro belastet. Selbst die Krankenkassen müssen
über gedeckelte Verwaltungsausgaben ihren Teil zu den Sparbemühungen
beitragen.

Seeblick: Die
gesetzlichen Krankenkassen erachten eine Bürgerversicherung nämlich
für sinnvoll, um die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
auch für die Zukunft zu sichern. Haben die Kassen denn nicht recht?

Andreas Storm:
Mit der Bürgerversicherung wäre ja in erster Linie eine Ausweitung
des Versichertenkreises auf die noch nicht gesetzlich Versicherten verbunden.
Neue Beitragszahler haben aber auch Leistungsansprüche, so dass die
Einbeziehung weiterer Personenkreise finanziell für die Kassen nahezu
zum Nullsummenspiel wird. Auch werden die langfristig zu erwartenden Ausgabensteigerungen
im Hinblick auf den demografischen Wandel durch eine Bürgerversicherung
nicht gelöst.

Moderator:
Wie sicher sind diese Rechnungen – was Bürgerversicherung oder Kopfpauschale
bringt oder spart?

Andreas Storm:
Die Berechnungen hängen natürlich sehr stark von den zugrunde
gelegten Annahmen ab. Neben der Betrachtung der reinen Finanzierungseffekte
ist es aber genauso wichtig, dass beachtet wird, welche gesamtwirtschaftlichen
Auswirkungen eine Veränderung der Finanzierung der Krankenversicherung
hat. Die jetzige Reform wurde ja vor allem deshalb gemacht, um über
eine Senkung der Beitragssätze einen Anreiz für die Schaffung
neuer Arbeitsplätze zu geben. Auch bei der Frage, ob man eine Bürgerversicherung
oder eine Kopfpauschale einführen soll, kommt den Konsequenzen für
den Arbeitsmarkt eine wichtige Bedeutung zu.

Kopfgeld: Die
Kopfpauschale entlastet obere Einkommen besonders, kommt also einer Umverteilung
von unten nach oben gleich. Das ist ungerecht Herr Storm!

Andreas Storm:
Weil die Kopfpauschale die unteren Einkommen stärker belastet, kann
sie nur dann ernsthaft in Erwähnung gezogen werden, wenn sie mit
einem starkem sozialen Ausgleich verbunden wird. Das Finanzvolumen für
diesen sozialen Ausgleich wird auf mindestens 25 Milliarden Euro geschätzt.
Für mich kommt das nur in Frage, wenn dieser soziale Ausgleich dauerhaft
sichergestellt und deshalb dem Zugriff des Finanzministers entzogen werden
kann.

Diego: Herr
Storm, wie hoch sind Ihre Bezüge als Beirat der Barmenia? Sind Sie
Lobbyist? Verträgt sich Ihre Tätigkeit für diese PKV mit
Ihrer Tätigkeit im "Gesundheitsausschuss" des Bundestages?
Und da Sie Herr Storm Beirat bei einer PKV sind, müssen Sie natürlich
GEGEN die Bürgerversicherung sein, nicht wahr?

Andreas Storm:
Ich gehöre dem wissenschaftlichen Beirat der Barmenia in meiner Funktion
als Arbeitsgruppenvorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfraktion an. Dieser
wissenschaftliche Beirat ist kein Entscheidungs- oder Kontrollgremium
wie ein Aufsichtsrat, sondern er führt Vertreter aus Wissenschaft
und Politik zusammen. In dem Gremium sind zahlreiche namhafte Gesundheitsökonomen
und Mitglieder der Bundestagsfraktionen vertreten. Dieses hat also schon
von der Aufgabenstellung nichts mit einer Geschäftstätigkeit
für das Unternehmen zu tun.

Moderator:
Noch mal zur Kopfpauschale und zum sozialen Ausgleich:

Apotheker:
Da der Staat aber häufig klamm ist, befürchten Kritiker der
Kopfpauschale, dass Politiker und Lobbyisten jedes Jahr einen Milliardenringkampf
veranstalten – Gesundheitsreformen würden zur Dauerinstitution.
Hätten sie Lust auf weitere Verhandlungen und steckt die letzte Ihnen
noch in den Gliedern?

Andreas Storm:
Knapp drei Wochen intensive Verhandlungen hinterlassen natürlich
ihre Spuren. Der Aufwand hat sich nach meiner Überzeugung aber gelohnt,
denn wenn die Reform umgesetzt wird, gewinnen wir Zeit für die Entscheidung
der Systemfrage am Beginn der nächsten Wahlperiode. Falls man sich
dann für den Systemwechsel zur Kopfpauschale entscheidet, muss von
vornherein sicher gestellt sein, dass der Zugriff auf die erforderlichen
Finanzmittel für die Finanzierung des sozialen Ausgleichs dem Finanzminister
entzogen sein muss.

Willy: Glauben
Sie, dass diese leichte Absenkung des Versicherungsbeitrages die Kaufkraft
ankurbeln kann? Andererseits müssen die Leute ja jetzt immer etwas
Geld auf der hohen Kante haben, falls sie mal krank werden.

Andreas Storm:
Entscheidend ist zunächst, dass der Teufelskreislauf aus steigenden
Sozialbeiträgen und wegfallenden Arbeitsplätzen durchbrochen
wird. Dabei ist klar, dass der durch die Senkung der Beitragssätze
gewonnene Spielraum von den Versicherten weitgehend auch wieder für
Gesundheitsausgaben aufgewendet wird muss. Per Saldo erwarte ich aber
schon einen Schub für mehr Wachstum und Beschäftigung durch
diese Reform.

Martinsch:
Ist es nicht ein Widerspruch, auf der einen Seite die Folgen der alternden
Gesellschaft auf die sozialen Sicherungssysteme zu beklagen, auf der anderen
Seite aber Leistungen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft aus
dem Leistungskatalog der GKV herauszunehmen bzw. in einem ganz erheblichen
Umfang zu kürzen?

Andreas Storm:
Im Gegensatz zu den ursprünglichen Plänen von Rot-Grün
wurden die Leistungen zur künstlichen Befruchtung ja gerade nicht
aus dem GKV-Katalog herausgenommen. Die zugegebenermaßen sehr hohe
Selbstbeteiligung von 50 % halte ich gerade noch für hinnehmbar

Moderator:
Ein Kommentar oder eine Frage, wie Sie wollen:

Pkv: Aber dieser
Teufelskreislauf wird doch nicht durchbrochen, wenn Sie den Beitragssatz
um 0,7 Prozent senken und gleichzeitig dem Bürger das doppelte Geld
wieder aus der Tasche ziehen! Glauben Sie wirklich, dass die Bürger
so dumm sind!

Moderator:
Und eine Nachfrage: Ist es nicht so, dass gilt: Es wird für die Versicherten
künftig definitiv nichts billiger, sondern am Ende alles teurer?

Andreas Storm:
Der Beitragssatz wird im nächsten Jahr zunächst auf unter 14%
und in den beiden folgenden Jahren auf 13% abgesenkt. Auch nach Inkrafttreten
der letzten Reformmaßnahmen, voraussichtlich 2007, ergibt sich für
die Versicherten im Durchschnitt selbst unter Anrechnung der Zusatzversicherungen
noch eine geringe Nettoentlastung im Vergleich zur derzeitigen Situation.

Moderator:
Aber nur eine "geringe"?

Andreas Storm:
In der Tat werden mit dieser Reform die Ausgaben im Gesundheitswesen künftig
etwas weniger über lohnbezogene Beiträge und mehr über
andere Finanzierungsformen wie höhere Selbstbeteiligungen oder Steuern
bezahlt. Eine drastische Verminderung der Ausgaben für das Gesundheitswesen
halte ich nicht für realisierbar. Zumindest dann nicht, wenn auch
weiterhin eine qualitativ hochwertige Versorgung für alle Versicherten
gewährleistet sein soll.

RolandKochForever:
Welchen Rückhalt hat Seehofers Meinung in punkto Buergerversicherung
eigentlich wirklich in der Union?

Andreas Storm:
Nach meiner Einschätzung gibt es derzeit in der Union – zumindest
in der CDU – keine Mehrheit für die Bürgerversicherung. Aber
Klarheit darüber werden wir erst haben, wenn ein Parteitag mit Mehrheit
über den künftigen Kurs in der Gesundheitspolitik befunden hat.

Moderator:
Liebe Gesundheitsreform-Interessierte, die Stunde ist vorbei. Herzlichen
Dank fürs Kommen, Herr Storm, vielen Dank an alle Teilnehmer für
die interessanten Fragen – wie immer sind noch viele liegengeblieben.
Das wird aber auch mit Sicherheit nicht der letzte Chat über die
Gesundheitsreform gewesen sein. Noch ein Hinweis: Die Transkripte aller
tacheles.02-Chats finden Sie auf den Webseiten der Veranstalter tagesschau.de
und politik-digital.de sowie des Unterstützers tagesspiegel.de.

Andreas Storm:
Ich bedanke mich für die interessanten Fragen. Tschüß.