Vergleichstests legen nahe, Fortschritte im E-Government ließen sich an der Zahl der realisierten Online-Transaktionen festmachen. Für die Zielgruppe Bürger ist diese Prämisse jedoch nicht haltbar.
Der Volksmund pflegt gelegentlich zu sagen: „Viel hilft viel“. Vermutlich ist diese Weisheit häufiger falsch als richtig, dennoch wird häufig nach ihr verfahren. So auch im E-Government. Ein Beispiel dafür ist die von der Unternehmensberatung Capgemini im Auftrag der EU-Kommission von 2001 bis 2004 durchgeführte Untersuchung zur Online-Verfügbarkeit öffentlicher Dienstleistungen. Über die Jahre hinweg wurde untersucht, wie sich in zunächst 17 und zuletzt 28 Staaten die Umsetzung von 20 Online-Diensten, davon zwölf für Bürger und acht für Unternehmen, entwickelt hat. Mit einer Art Hitparade wurden die Fortschritte der einzelnen Staaten dann öffentlichkeitswirksam dargestellt. Die wesentliche Schwäche dieses Vorgehens besteht allerdings darin, dass zwischenzeitliche Erkenntnisgewinne systematisch ausgeblendet bleiben. Im hier beschriebenen Fall wird davon ausgegangen, dass Breite und Tiefe des Online-Angebots Auskunft über die E-Government-Entwicklung eines Landes geben. Das klingt plausibel, entspricht wohl auch immer noch der offiziellen EU-Linie, ist aber dennoch falsch.
Die bisherigen Erfahrungen weisen nämlich eindeutig in eine andere Richtung: So waren die allermeisten der zwischen 2000 und 2003 im Bremer MEDIA@Komm-Projekt entwickelten Dienste an Privatleute gerichtet, doch 90 Prozent der tatsächlichen Nutzung erfolgte durch professionelle Anwender und Unternehmen. Auch Erhebungen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass gerade einmal 9 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahre schon einen „Behördenbesuch per Internet“ durchgeführt hat, und lediglich 25 Prozent der Befragten bekundeten überhaupt Interesse an solchen Angeboten (siehe dazu „Grenzen der Akzeptanz“ in Kommune21 12/2005, S. 12-14).
Es spricht auch nicht viel dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit grundlegend ändern könnte: Der „Normalbürger“ hat nicht allzu viele Verwaltungskontakte, so dass es sich für ihn schlicht nicht lohnt, sich mit Online-Diensten der Behörden intensiver auseinander zu setzen. Ganz zu schweigen von der Mühsal, sich womöglich eine elektronische Signatur besorgen und ein Kartenlesegerät anschließen zu müssen. Aus seiner Sicht ist es überaus rational, sich mit Informationen und vielleicht auch noch Formularen aus dem Web auf den Behördengang vorzubereiten und den Rest der E-Government-Klaviatur zu ignorieren.
Dies vor Augen spricht viel dafür, sich von der Idee einer wie auch immer definierten „E-Government-Reife“ zu verabschieden und statt dessen darüber nachzudenken, wie die knapper werdenden Ressourcen zielgerichtet für eine bessere und günstigere Leistungserbringung verwendet werden können.
Verwaltungen wären gut beraten, stärker nach unterschiedlichen Zielgruppen zu differenzieren.
So wird es beispielsweise für Rechtsanwälte, Steuerberater und Unternehmer unterschiedlicher Branchen schon jetzt immer wichtiger, nicht nur Informationen online zu erhalten, sondern auch per Transaktionen in den ausschließlich elektronischen, also papierlosen, Geschäftsverkehr mit der Verwaltung einzusteigen. Weitere Beispiele sind die ELSTER-Steueranwendungen – in Bremen gehen bereits 80 Prozent der Umsatzsteuervoranmeldungen elektronisch ein – und der elektronische Rechtsverkehr.
Bei Bürgerdiensten hingegen sollte der Schwerpunkt darauf liegen, aktuell, verständlich und bedarfsgerecht zu informieren, Formulare zum Download bereitzuhalten und im übrigen die technikgestützte Reorganisation der Service-Stellen, die den Kontakt mit den Verwaltungskunden pflegen, in den Mittelpunkt zu stellen. Erscheint dann später die Weiterentwicklung zu Transaktionsdiensten sinnvoll, kann dafür dieselbe Infrastruktur eingesetzt wird, mit deren Hilfe heute die professionellen Anwendungen umgesetzt werden. So kann auch der Bürger mittelbar von B2G- beziehungsweise G2G-Entwicklungen profitieren.
Die Gestaltung von Informationsangeboten ist angesichts der einseitigen Konzentration auf Online-Transaktionen in den letzten Jahren ein wenig aus dem Blick geraten. Dabei sind wesentliche Fragen zur Darstellung und Aufbereitung der Informationen wie auch zur Organisation und Finanzierung des redaktionellen Betriebs nach wie vor ungelöst. Schließlich müssen Verwaltungsangebote in ein umfassendes, attraktives Stadtinformationssystem eingebettet sein, damit sie überhaupt wahrgenommen werden und sich die positiven Effekte – weniger Nachfragen, bessere Vorbereitung auf den Gang zum Amt – auch wirklich einstellen können.
Neben Finanzierungsfragen besteht eine der wesentlichen Herausforderungen darin, den Redaktionsverbund der relevanten Institutionen und Organisationen aufzubauen, die verlässlich und verantwortungsvoll ihren Beitrag zu einem attraktiven und aktuellen Angebot beisteuern. Dies werden sie nur dann tun, wenn es lohnend erscheint. Diese Sicht ist alles andere als neu und als Problem schon seit dem Aufbau der ersten Stadtinformationssysteme in den frühen 90er-Jahren bekannt. Unverständliche, unvollständige, veraltete oder auch schlicht falsche Darstellungen im Internet zeigen aber, dass wir auf wesentliche Fragen bis heute keine überzeugenden Antworten gefunden haben. Mit dieser Rückbesinnung auf weiterhin ungelöste Fragen verbindet sich die Chance wichtiger Korrekturen: Wenn Verwaltungen künftig stärker nach den Wünschen und Voraussetzungen ihrer unterschiedlichen Zielgruppen differenzieren, ist dies zugleich eine wichtige Voraussetzung, damit E-Government nicht länger auf schicke Online-Formulare reduziert, sondern als Instrument zur Reorganisation kompletter Leistungsprozesse begriffen wird.
Der Beitrag ist zuerst erschienen in der Zeitschrift
Kommune21, Ausgabe 2/2006.