Bedeutende Kraft
Vielleicht das beste Beispiel für ein Bürgerjournalismusprojekt dieser Art ist die südkoreanische Website
OhmyNews, die am 20.02.2002 um 2 Uhr nachmittags ins Netz ging und sich mittlerweile zu einer so bedeutenden und unabhängigen Kraft unter den südkoreanischen Nachrichtenmedien entwickelt hat, dass der 2003 gewählte neue Präsident Roh Moo Hyun sein erstes Interview nach der Wahl nicht einer südkoreanischen Zeitung oder Fernsehstation gab, sondern OhmyNews.
Oh Yeon Ho, der heute 40-jährige Präsident und Chefredakteur, startete OhmyNews zusammen mit drei Journalistenkollegen. Der Name ist eine Variation der Phrase „Oh my god”, die um diese Zeit in Korea im Rahmen einer Komödie sehr bekannt wurde. Journalistischer Anspruch des jungen Mediums war, den rechtskonservativen Medien des Landes im Internet Paroli zu bieten. Das kleine Team betrieb knallharten investigativen Journalismus – und lud die Bevölkerung zur Mitarbeit ein. „Keine Meinung ist irrelevant”, betonte Oh Yeon Ho von Anfang an und propagierte das Recht jedes koreanischen Bürgers, diese auch zu sagen. OhmyNews wurde hierfür die Plattform. Nach nur zehn Monaten hatte OhmyNews 727 freie Mitarbeiter, die die Redaktion mit eigenen Texten und Bildern versorgten. Heute beschäftigt OhmyNews 54 fest angestellte Journalisten und wird von mehr als 40.000 Citizen Reporters unterstützt, von denen „mehr als die Hälfte mindestens einmal selbst einen Beitrag verfasst haben”, wie Oh Yeon Ho erklärt.
Mit Dualität zum Erfolg
Thematische Einschränkungen gab es und gibt es nicht: Jeder kann bei OhmyNews über die Themen schreiben, die ihn bewegen oder interessieren. Mindestanforderungen an Faktentreue und Informationsgehalt stellt die Redaktion allerdings. Rund 30 Prozent der eingereichten Beiträge werden abgelehnt. Mittlerweile gibt es auch eine internationale Version von OhmyNews in englischer Sprache. Rund 500 Citizen Reporter liefern dazu Beiträge. Wer nicht selber schreibt, kann Kommentare verfassen oder Anregungen liefern. Die Gemeinschaft ist sehr aktiv. Der Rekord liegt derzeit bei 3-500 Kommentaren und 100.000 Abrufen für einen einzelnen Artikel – unkommentiert bleibt kaum etwas.
Der Erfolg von OhmyNews beruht auf der Dualität zwischen professionellem Nachrichtenjournalismus und Beiträgen aus der Leserschaft. 700.000 bis zwei Millionen Besucher erreicht OhmyNews täglich. Rund 200 Beiträge werden pro Tag veröffentlicht. 70 Prozent davon stammen von Bürgerreportern. Die Redaktion kümmert sich dabei in erster Linie um die aktuelle Nachrichtenlage und versteht sich als „liberaler Gegenpol zu den 80 Prozent rechtskonservativen Medien Koreas”. Die Beiträge der User sind häufiger „Soft News”. Seit Mitte 2005 hat OhmyNews eine in Fachkreisen hoch angesehene Chefredakteurin. Myung Sook Seo leitete zuvor mehrere Jahre das Sisa Journal, eine einflussreiche politische Wochenzeitung.
Bürgerreporter werden bezahlt
Die Motivation für die User ist in erster Linie die Möglichkeit, die Öffentlichkeit mit eigenen Themen zu erreichen. Doch mittlerweile geht es um mehr als die Ehre. Wer gut ist, kann mit seiner Arbeit Geld verdienen – sogar 30.000 US-Dollar in drei Tagen – wie Oh Yeon Ho berichtet, Doch dieses imposante Ausnahmebeispiel macht sich wohl besser in den Promotion-Unterlagen des Unternehmens, als dass es angehenden Journalisten als Maßstab für eine realistische Einschätzung der Verdienstmöglichkeiten an die Hand gäbe.
Citizen Reporter werden bei OhmyNews bezahlt -allerdings nur, wenn die Redaktion den Beitrag für so gut hält, dass er auf der Startseite angekündigt wird. Fünf bis zehn usergenerierte Beiträge nehmen diese Hürde pro Tag. Je nach Platzierung erhalten die Autoren dafür zwischen zwei und 20 US-Dollar. Zwei bis drei Jahresgehälter eines Redakteurs gibt OhmyNews jährlich für seine Bürgerreporter aus. Die eigentliche Einnahmequelle für die Autoren sind „Trinkgelder”, die User für besonders gelungene Beiträge spenden. Bis zu zehn Dollar kann ein Leser seinem Lieblingsautor für einen Artikel zukommen lassen.
OhmyNews arbeitet profitabel und finanziert sich zu 70 Prozent aus Werbung, zu 20 Prozent aus dem Verkauf von Nachrichteninhalten an andere Medien und zu zehn Prozent aus sonstigen Einnahmen. Dazu gehören auch freiwillige Abonnementgebühren von Nutzern für die Zustellung der kostenlosen Ohmy News-Printausgabe, die einmal wöchentlich in einer Auflage von 150.000 Exemplaren erscheint.
Konkurrenz oder Ergänzung?
Sind diese „Bürgerjournalisten” nun Journalisten? Machen sie den Beruf kaputt und die Redaktion überflüssig? Das Beispiel OhmyNews zeigt, dass sich beide Welten sinnvoll ergänzen können. Neugegründete Websites wie Spymedia, Scoopt oder Celljournalist versuchen jedermann dabei zu helfen, spektakuläre Fotos professionell an Medien zu vermarkten. Bei Journalisten weltweit überwiegen allerdings Berührungsängste. Vielleicht liegt das auch an der Wortwahl. Nicht nur in der deutscher Übersetzung schwingt bei „Bürgerjournalismus” unterschwellig ein ethischer und politischer Anspruch mit, den die meisten „Bürgermedien” nicht einlösen – vielleicht nicht einlösen können, vielleicht aber auch gar nicht wollen. Alltagsthemen sind dort wichtig, Fotos, „Kleinkram”. „Diese Inhalte bringen eine Dimension des Lebens in das Produkt, die in unserer Betrachtungsweise von kommunalen Geschehnissen oft verloren geht”, verteidigt Steve Yelvington diese Herangehensweise mit Blick auf „BlufftonToday”. „Würden Sie zu einem Bürger- Hirn-Chirurgen gehen?”, zitierte dagegen die britische Journalisten-Website journalism.co.uk Anfang Oktober Simon Bucks von Sky TV News, der bei einer Veranstaltung zur Redaktion der Zukunft in London referiert hatte.
Windmühlen bauen
Irgendwie erinnert dieses Gerangel an die Auseinandersetzung von Geschwistern, bei denen der Ältere dem Jüngeren den Joystick zu entringen versucht, weil der „nicht richtig” damit zu spielen verstehe. Die Bedeutung von Weblogs lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass sie bei den Ergebnissen von Suchmaschinen sehr weit oben gelistet werden. Wie wichtig Weblogs innerhalb der kurzen Zeit ihres Bestehens geworden sind, zeigt überdeutlich, dass das Internet die Regeln der Kommunikation tatsächlich verändert. In welche Richtung dies führen könnte, zeigt exemplarisch der Flash-Film „Epic 2015″ von Robin Sloan und Matt Thompson, der spielerisch eine aldous-huxley-artige „schöne neue Welt” entwirft in der das riesige Konglomerat „Googlezon” alle Informationswünsche erfüllt und herkömmliche Medien vom Markt verdrängt hat. Ein Sprichwort sagt, dass bei aufkommendem Sturm ein Teil der Menschheit Schutzhütten baut, der andere Windmühlen. Journalisten sollten sich für die zweite Variante entscheiden.
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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “Redaktion”, dem Jahrbuch für Journalisten. Es ist Teil des Lokaljournalistenprogramms der
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. “Redaktion 2006” wird im Medienfachverlag Oberauer verlegt und kann über die
Drehscheibe online bestellt werden.