Während viele Journalisten in Deutschland dem Phänomen Bürger Journalismus noch achselzuckend gegenüberstehen, wird andernorts bereits die dritte Form des Citizen Journalism umgesetzt: Etablierte Medien initiieren ein ganz neues Produkt, an dem Laien und professionelle Journalisten gemeinsam arbeiten.
Die Mischung aus Google und dem neu aufkommenden Bürgerjournalismus könnte sich als Giftmischung erweisen. Das meint Dr. Horst Pirker, Vorstandsvorsitzender der österreichischen Styria Medien AG, die unter anderem die „Kleine Zeitung” verlegt. Die Redaktion werde überflüssig, der Großteil der Inhalte im Internet werde künftig von den Nutzern selbst erstellt. „Die Zukunft wartet nicht auf die Zeitungen”, erklärte er beim BDZV-Internetkongress „Zeitung online 2005″ in Berlin. Dan Gillmor, ehemals Technologie-Kolumnist der „San Jose Mercury News”, hat gar seinen Job an den Nagel gehängt, um Bayosphere.com zu gründen, ein Citizen-Journalism-Projekt für das technologiegeprägte San-Francisco-Bay-Gebiet.
Neue Bindung schaffen
Das Versprechen des Internets war simpel, aber extrem machtvoll: ein Medium zu sein, durch das wir zusammenkommen und zusammenarbeiten können, zum Wohle aller. Genau das passiert jetzt”, erklärte Gillmor beim Weltkongress der Chefredakteure 2005 in Seoul. Doch auch traditionelle Medien ergreifen ihre Chancen: Steve Yelvington, bei der US-Zeitungsgruppe Morris verantwortlich für neue digitale Strategien, sieht eine Renaissance der Bindung zwischen Medien und ihren Nutzern. Proof of Concept bei Morris:
„BlufftonToday”, eine Mischung aus kostenloser Tageszeitung (Auflage: 16.500 Exemplare) und Internetangebot für die Gemeinde Bluffton, dessen Inhalte zum allergrößten Teil von den Einwohnern selbst erstellt werden.
Laien sind näher dran
Amerikanische Zeitungen werten „Citizen journalism” gerne als Trend zu gesellschaftlichen Engagement. Das Internet gebe den Bürgern die Mittel an die Hand, hyperlokale Inhalte zum Thema zu machen und sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Medien wie die britische BBC, das Internetportal MSN oder auch die norwegische Boulevardzeitung „VG” setzen dagegen ganz pragmatisch auf den Aktualitätsvorsprung, den ein Heer von mit Digitalkameras und Mobiltelefonen ausgerüsteten potentiellen Hobby-Korrespondenten im Vergleich zu einem professionellen Korrespondentennetz hat: Es waren Laien, nicht Profis, die kurz nach den Terroranschlägen Bilder aus der Londoner U-Bahn liefern konnten. Ähnlich war es bei der Tsunami-Katastrophe in Südostasien oder den Überschwemmungen in New Orleans.
Großes Spektrum
Ein ,,Citizen-Journalism”-Projekt zu sein, nehmen derzeit die unterschiedlichsten Initiativen für sich in Anspruch. Das Spektrum reicht von gemeinschaftlich betriebenen, auf Weblog-Technologie beruhenden Plattformen unabhängiger Online-Anbieter über die Einbindung von Bürgerzusendungen in traditionelle Medien bis hin zu wirklich neuen Angeboten, bei denen engagierte NichtJournalisten von einer professionellen Redaktion unterstützt und motiviert werden. Zur ersten Gruppe gehören neue Online-Angebote, die sich um Themen kümmern, die nach Einschätzung der jeweiligen Website-Betreiber von den „etablierten” Medien vernachlässigt werden. Meist sind die Initiatoren unabhängige Individuen oder eine kleine Gruppe mit journalistischem Anspruch. Sie schreiben viel selbst und animieren „ihre” Gemeinschaft, aktiv an der Gestaltung des Webangebots mitzuwirken – entweder durch eigene Beiträge oder durch Kommentare oder die Bewertung von Beiträgen anderer. Wer sich beteiligen will, muss sich registrieren. In der Regel werden Beiträge von Mitgliedern nicht redigiert – jeder Autor ist für die eigenen Texte und Bilder verantwortlich.
Die Angebote wachsen durch Mundpropaganda und werden mit minimalem technischem und finanziellem Aufwand betrieben. Die technischen Systeme unterstützen den Gemeinschaftscharakter des Angebots. Die neuesten, beliebtesten oder meistgelesenen Artikel werden häufig als eigene Kategorie geführt. Hierbei handelt es sich um Gegengründungen zu bestehenden Medien. Ein Beispiel hierfür ist
iBrattleboro.com, eine im März 2003 gegründete Plattform für die 12.000 Einwohner-Stadt Brattleboro. Einzelne Beiträge ziehen schon einmal 50 Kommentare nach sich – eine unerhört hohe Quote, wenn man die mögliche Grundgesamtheit der potenziellen Nutzer für ultralokale Themen heranzieht. Das Angebot wird ehrenamtlich von Christopher Groke und Lisa LePage betrieben. Nennenswerte Einnahmen gibt es nicht. Als Mitglied registrieren kann sich jeder Bürger von Battleboro. Die Einträge werden ohne redaktionelle Kontrolle online gestellt.
Gillmors
„Bayosphere”-Projekt ist ebenfalls der Kategorie des Gemeinschaftsangebots zuzuordnen, obwohl es hierbei nicht nur um hyperlokale Inhalte geht, sondern auch um neueste technische Entwicklungen, die eben die Einwohner von Silicon Valley in besonders hohem Maße interessieren. „Bayosphere” startete im Juni 2005. User, die nicht nur Kommentare abgeben wollen, werden angehalten, sich mit vollem Namen zu registrieren und Kontaktinformationen zu hinterlegen. Außerdem verpflichten sie sich, bei eigenen Beiträgen spezielle Standards einzuhalten, insbesondere fair zu berichten, ihre Quellen zu nennen, Fakten soweit möglich nachzuprüfen und eigene Interessenkonflikte offen zu legen.
Weblogs als Gegengewicht
Emanzipierte Nutzer, wie sie Horst Pirker als Schreckgespenst an die Wand malt, haben mit den Mitteln des Internets tatsächlich die Instrumente an der Hand, kollektiv etwas zu verändern und ein Gegengewicht zu den etablierten Medien zu bilden. Die Technologie bietet heute durch die vielfältigen Vernetzungsmöglichkeiten solchen Einzelinitiativen auch viel bessere Chancen, bekannt zu werden und sich durch Werbung zu finanzieren. Allerdings sind diese auf Idealismus gegründeten Initiativen bislang alle wirtschaftlich noch wenig erfolgreich. Die Abgrenzung von Citizen-Journalism-Projekten zu gemeinschaftlich betriebenen Weblogs, die es schon länger gibt, ist fließend und eigentlich nur durch das Ausmaß gegeben, in dem sich die Community beteiligen kann. Im einen Fall ist jedermann aufgerufen, eigene Beiträge zu schicken. Im anderen schreibt ein fester Autorenkreis, die User können nur kommentieren (siehe
minga.de, ein Blog für München).
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Dieser Artikel erschien ursprünglich in “Redaktion”, dem Jahrbuch für Journalisten. Es ist Teil des Lokaljournalistenprogramms der
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. “Redaktion 2006” wird im Medienfachverlag Oberauer verlegt und kann über die
Drehscheibe online bestellt werden.