Das Netz als Ökosystem
(3. August 2006) Das Internet der zweiten Generation soll sozialer, menschlicher, schlauer sein. Alles neu, alles besser? Was steckt wirklich hinter diesem Schlagwort? Peter Bihr beschreibt die Entwicklung, die mit dem Schlagwort Web 2.0 beschrieben wird.
Folksonomy, Tags, RSS, Cloud Tag, Podcasting, Social Software – Sie verstehen nur Bahnhof? Keine Sorge, es ist alles halb so wild. All diese Begriffe sind Teil einer Entwicklung, die im Internet für Aufsehen sorgt. Im Mittelpunkt dieser Entwicklung stehen Communities, soziale Netze, kurz gesagt: wir, die Netzbürger.
Eine klare Definition davon, was genau das Web 2.0 ist, gibt es nicht. Oder genauer: es gibt jede Menge Definitionen. Die Begriffsdefinition ist sehr schwammig und wird auch so verwendet, weshalb sie auch häufig als Marketing-Buzzword kritisiert wird. Zwei Hauptaspekte tun sich aber hervor – der eine technischer, der andere eher sozialer Natur, wobei die Grenzen fließend sind.
Benutzerfreundlich und sozial
Aus technischer Sicht steht das 2.0 für das Zusammenspiel einiger relativ junger Technologien, deren starke Integration das Verbreiten von Informationen vereinfacht und die Benutzerfreundlichkeit verbessert. Die technischen Details sind hier eher zweitrangig.
Wichtiger ist der soziale Aspekt: Nutzergemeinschaften filtern kollektiv Informationen, arbeiten und finden sich in sozialen Netzwerken zusammen. Dabei lernen sich nicht nur Gleichgesinnte kennen, viele Aufgaben lassen sich gemeinsam auch viel leichter bewältigen. Ein Beispiel: Indem jeder Nutzer diejenigen Informationen, die für ihn relevant sind, kategorisiert, ergeben die Wertungen aller Nutzer zusammengenommen ein recht aussagekräftiges Bild: Aus den Beiträgen der Nutzergemeinschaften entsteht ein System, das intelligenter und leistungsfähiger ist als die Summe seiner Teile.
Zusammenarbeit (engl: „collaboration“) und Teilen (engl: „Sharing“) heißen hier die Zauberworte, ganz gleich ob es sich um Bilder, Links, Wissen oder politische Interessen handelt: Wenn ein bestimmter Artikel meinen Freunden gefallen hat, könnte er mir auch gefallen; Wenn mein Freund dem Urteil dieser Person traut, kann ich ihrem Urteil ebenfalls vertrauen. Das Wir tritt an die Stelle des Ich, das Internet der zweiten Generation dreht sich um Gemeinschaften anstatt um Websites.
Am offensichtlichsten wird der Unterschied der Web 2.0-Angebote noch immer in Abgrenzung zu den Angeboten, die rückwirkend zur Version 1.0 erklärt wurden:
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Encyclopaedia Britannica (1.0) vs.
Wikipedia (2.0) - Persönliche Websites (1.0) vs. Weblogs (2.0)
- Dateiordner (1.0) vs. Tags (2.0)
Darüber hinaus sind vielen 2.0-Websites eine Reihe von Charakteristika gemeinsam: Die Grenze von Redakteur/Produzent auf der einen Seite und Leser/Konsument auf der anderen verwischt. Anwendungen sind hochspezialisiert, aber einfach zu bedienen. Durch offene Standards fließen Informationen von Anwendung zu Anwendung und können so neu vernetzt werden. Zudem sind die Systeme so angelegt, dass sie intelligenter und leistungsfähiger werden, je mehr Nutzer daran teilnehmen.
Das Netz als Ökosystem
Und wozu das Ganze? Damit das Internet ein reichhaltiges Informations-Ökosystem wird, sagt Autor Steven Johnson („Emergence – The Connected Lives of Ants, Brains, Cities and Software“), der sich seit längerem mit kollektiver Intelligenz beschäftigt und einen eingängigen Vergleich findet: Sehe man das Internet als Ökosystem, in dem Informationen die Rolle von Licht – also Energie – spielen, so gliche das Web1.0 einer Wüste, das Web 2.0 dagegen dem Regenwald.
All die Web 1.0-Seiten mit ihren plumpen Hyperlinks seien demnach wie Sonnenstrahlen, die auf die Wüste falllen – einige Wenige werden von Pflanzen/Benutzern wahrgenommen. Eventuell werden die Informationen weiterverwendet, falls sich jemand entscheiden sollte, die URL per eMail an Freunde weiterzusenden oder sie auf einer anderen Website zu zitieren. Der größte Teil der Informationen aber geht verloren und bleibt ungenutzt.
Ganz anders im 2.0-Modell des Regenwalds, wo tausende von Bloggern, Diensten und Anwendungen jedes Stückchen dieser Informationen genau untersuchen, jeden Interessanten Inhalt herausziehen, wiederverwerten, weiterverbreiten, sie auf neue Art weiterverwenden und an andere Online-Dienste weiterleiten. Alles, was so entsteht, kann wiederum auf zahllose neue Arten weiterverwendet und genutzt werden. Nichts geht mehr verloren: Web 2.0 ist vergleichbar mit dem komplexen Ökosystem eines Urwalds, wo nichts ungenutzt verkommt, keine Nische unbesetzt bleibt.
Gemeinsames Filtern
Wo die schiere Masse der verfügbaren Informationen zum Problem wird, zählt die Relevanz von Informationen mehr als ihre Vollständigkeit. Die relevanten Informationen aus der Masse herauszufiltern ist eine Aufgabe, der ein kollaborativer Filter eher gewachsen ist als eine Einzelperson. Erachten viele Leser einen Artikel für lesenswert und verlinken auf ihn, so ist das ein Hinweis auf die Qualität des Artikels. Gehören zu diesen Lesern auch Personen, deren Interessen man teilt und deren Urteilskraft vertrauenswürdig erscheint, ist ihre Wertung noch aussagekräftiger. Reputation und Vertrauen spielen im sozialen Netz eine wichtige Rolle.
Im Internet der Version 2.0 finden sich Menschen mit gemeinsamen Interessen unabhängig von ihrer geographischen Lage. Sie können sich zu diesen Interessen austauschen und ihr Wissen aus verschiedenen Hintergründen in einen gemeinsamen Wissenspool einfließen lassen. Damit tragen sie dazu bei, neue Vertrauensnetzwerke zu schaffen, die eine weitere, tiefergehende Zusammenarbeit ermöglicht. Das kollektive Wissen der Menschen kann die meisten Fragen beantworten – vorausgesetzt, die Informationen werden ordentlich vernetzt.
Mit dem Begriff Web 2.0 wird aber auch viel Missbrauch betrieben. Ein 2.0-Logo oder auch der öffentliche Testbetrieb (der sogenannte ewige Betatest) ist schon seit längerem ein beliebter Marketingtrick, der spätestens seit Googles eMaildienst
Gmail weithin akzeptiert ist. Auch die Idee, online zusammenzuarbeiten, ist nichts Neues – im Bereich der Softwareentwicklung ist das seit Jahren gängige Praxis. Daher gilt auch hier der alte Sinnspruch: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird – erstmal abwarten, der erste Sturm legt sich wieder. Dann wird sich zeigen, ob die Veränderungen tatsächlich so tiefgehend sind, wie es die
Propheten des Web 2.0 behaupten.
Neue Qualität der Wissensproduktion
Dennoch – die gegenseitige Vernetzung der 2.0-Angebote, ihre Integration, aber auch ihre soziale Vernetzung machen all diese Dienste so interessant. Die Netzgemeinde hat die neuen Dienste äußerst bereitwillig akzeptiert, die nötigen Tools sind frei verfügbar. Damit sind die besten Voraussetzungen dafür gegeben, dass das Netz sich wirklich nachhaltig verändert. Unsere Kommunikation und Wissensproduktion könnten eine neue Qualität erreichen.
Web 2.0 ist noch weniger linear als das traditionelle Web. Es ist noch tiefer und dichter vernetzt, teilweise wirkt es daher auch chaotisch. Aber zum Glück stehen wir diesem Chaos nicht mehr allein gegenüber: Tausende von Nutzern strukturieren den Informationsfluss, die kollektive Intelligenz des Netzes trennt die Spreu vom Weizen. Sogar während Sie diese Zeile lesen.
Sie fragen sich, was sich denn nun hinter den Wörtern
Folksonomy,
Tagging,
Tag Cloud,
RSS und
Podcasting verbirgt? Werfen Sie doch mal einen Blick auf
Wikipedia – die smarte Masse der Internetbenutzer hat dort sicher schon eine Definition parat.