(7. Juli 2006) Die Frage nach dem Einfluss des Internets auf soziale Beziehungen innerhalb der Gesellschaft wurde und wird häufig pessimistisch beantwortet. Hat die Kommunikation via Internet zur Folge, dass sich die sozialen Bindungen zwischen Menschen oberflächlicher entwickeln? Führen die modernen Formen der Kontaktaufnahme letztlich sogar zu einer Isolation der Individuen?
Die Ergebnisse einer
Studie lassen zumindest für die US-Gesellschaft auf das Gegenteil schließen: Das Internet verstärkt soziale Bindungen in einer modernen Gesellschaft und unterstützt die Bildung von „social capital“.
Von der gruppen- zur netzwerkbasierten Gesellschaft
Die Untersuchung des
Pew Internet & American Life Projects kommt zu dem Ergebnis, dass sich menschliche Gemeinschaften im Internet-Zeitalter keineswegs auflösen, sondern wandeln. Die amerikanische Gesellschaft zeichnet sich demnach zunehmend durch Gemeinschaften aus, die sich an geographisch verstreuten sozialen Netzwerken orientieren. Die traditionelle (Gruppen-)Orientierung an physischer Nähe, wie beispielsweide Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft, verliert hingegen an Relevanz. Die neuen Netzwerke enthalten neben Freunden und Arbeitskollegen gleichwohl eine solide Anzahl an Nachbarn und Verwandten, der traditionellen Basis von Gemeinschaft.
„networked individualism“
Moderne Kommunikationsmittel wie eMail oder Mobiltelefone verändern die Art der Kommunikation und schaffen eine neue Basis für menschliche Gemeinschaften, die der Co-Autor der Studie, Barry Wellman, als „networked individualism“ bezeichnet: Der einzelne Mensch versucht in seinem Netzwerk für bestimmte Probleme oder Situationen die jeweils geeignete(n) Person(en) zu kontaktieren. Die einseitige Orientierung an (s)einer (traditionellen) Gemeinschaft wird aufgegeben.
Dieser Bedeutungswandel geht laut Studie aber nicht mit einem Qualitätsverlust sozialer Bindungen einher. Der direkte Kontakt oder die Anzahl der Gespräche über das herkömmliche Telefon mit Personen im direkten Umfeld verringern sich nicht. eMail und Mobiltelefone ergänzen demnach die Kommunikation, die ein Individuum mit Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld pflegt. Die modernen Kommunikationsmittel, so die Autoren der Studie, tragen sogar dazu bei, soziale Bindungen zu erhalten und gelegentlich auch zu stärken. In diesem Zusammenhang wird der Begriff „glocalization“ eingebracht: Die Nutzung von eMails verbindet sowohl entfernte Freunde und Verwandte als auch solche, die in der Nachbarschaft leben. Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis der Studie ist, dass der Zeitaufwand für den Umgang mit dem Internet auf Kosten verhältnismäßig unsozialer Aktivitäten, wie Schlafen oder Fernsehen, geht.
Das Internet unterstützt soziale Netzwerke
Die Besonderheiten des Internets unterstützen vor allem die Kommunikation in großen Netzwerken. Dieses Ergebnis der Studie liegt auf Hand: Es ist zeitaufwendiger und schwieriger, den Kontakt zu 30 Personen aufrecht zu halten als zu 5 Personen. Eine erhebliche Vereinfachung bietet hier der Kontakt durch eMail. Ihre asynchrone Natur erlaubt es den Mitgliedern eines Netzwerks etwa, zu unterschiedlichen Zeiten zu kommunizieren. Zudem macht es, was den Aufwand betrifft, kaum einen Unterschied, ob man eine eMail an eine oder mehrere Personen versendet.
Interessanter ist ein anderes Ergebnis der Studie: Internet-Nutzer in den USA haben mehr soziale Bindungen als Nicht-Nutzer. Die Autoren unterscheiden zwischen sehr engen Bindungen („core ties“) und verhältnismäßig engen Bindungen („significant ties“). Während die Ersten bei beiden im Mittel den gleichen Wert aufweisen, haben Internet-Nutzer durchschnittlich drei Kontakte der Kategorie „significant ties“ mehr als Nicht-Nutzer. Dabei sind „significant-ties“ keineswegs lose Bekanntschaften. Die Autoren definieren sie als potentiell wichtige Kontakte, deren Hilfe und Ratschlag Menschen in ihren Netzwerken nachfragen.
Bei der Suche nach Unterstützung oder Hilfe in wichtigen Lebensfragen spielt die soziale Kommunikation über das Internet der Untersuchung zufolge eine bedeutende Rolle. US-Bürger nutzen das Internet, um ihre sozialen Netzwerke zu aktivieren. Und diese Aktivierung hat praktischen Nutzen. Die Studie weist nach, dass Internet-Nutzer im Vergleich zu Nicht-Nutzern mit größerer Wahrscheinlichkeit Hilfe bei der Bewältigung ihrer Anliegen bekommen. Im Vorteil sind dabei insbesondere diejenigen, die über viele „significant ties“ verfügen und Kontakt zu Personen aus einer großen Bandbreite von Berufsfeldern haben. Menschen, die es verstehen, mit den Bedingungen des „networked individualism“ umzugehen, scheinen also den größten sozialen Nutzen von der Internet-Kommunikation zu haben.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass laut Studie etwa ¼ der US-Bevölkerung (60 Mio.) angaben, das Internet habe in den letzten zwei Jahren (2004/05) beim Treffen mindestens einer bedeutenden Lebensentscheidung Hilfestellung gegeben. Zudem ist die Zahl derjenigen, die sich bei wichtigen Entscheidungen auf die Unterstützung durch bzw. über das Internet verlassen seit 2002 um 1/3 gestiegen.
Die Studie speist sich aus zwei Untersuchungen aus den Jahren 2004 und 2005: Beide dauerten einen Monat, befragt wurden jeweils 2200 volljährige US-Amerikaner telefonisch nach dem Zufallsprinzip.