Die großen Print-Duelle von Schröder und Stoiber in “Bild”/”Bild am Sonntag” im Juli und in „Süddeutscher Zeitung“/“Welt“ haben enttäuscht: Das mit Emotionen und Erwartung gepackte Live-Erlebnis einer direkten Konfrontation war gedruckt einfach langweilig. Die Fernsehleute frohlocken zu Recht: Sie werden es besser können. Welche Strategien verfolgen die Wahlkampfberater von SPD und Union jetzt für die TV-Debatten? Eine Analyse.
Was auch immer im einzelnen bei den TV-Duellen zwischen Schröder und Stoiber passieren wird: Mit großer Wahrscheinlichkeit wird sich die formale Kandidaten-Debatte im deutschen Wahlkampf als regelmäßiges Ritual festsetzen. Zwischen Kanzlerkandidaten, zwischen Ministerpräsidenten in spe und zwischen denjenigen, die Wahlkreisabgeordnete, Bürgermeister oder Landräte werden wollen. Schon jetzt laden immer mehr Jugendgruppen, Bürgervereine, Landfrauenverbände und Handelskammern dazu ein.
Zwar ist die Idee nicht ganz neu. In den dritten TV-Programmen hat es schon vor einigen Jahren manches prominente Duell gegeben, bei N3 etwa die Debatte Schröder vs. Christian Wulff im Februar 1998 vor der Landtagswahl oder Bürgermeister Henning Voscherau vs. Ole von Beust vor der Hamburger Bürgerschaftswahl im August 1996. Aber das erstmalige Kanzlerduell, das selbst zum großen öffentlichen Thema über ein halbes Jahr vor dem Wahltag werden konnte, gibt diesem Ritual einen ganz anderen Stellenwert.
Wer kneift, wird es künftig schwer haben. Das Risiko ist gestiegen. Künftig werden Amtsinhaber, die nicht Schröders Beispiel folgen, mit Vorwürfen der Feigheit konfrontiert werden. Und Herausforderer, die die Chance eines Duells nicht nutzen wollen, wird es nicht mehr allzu viele geben.
Hinzu kommt: Medien wittern ebenso wie bürgerschaftliche Vereine ihre Chancen, solche Debatten zu sponsern und damit selbst eine größere Rolle im Wahlkampfgeschehen. Sie haben gute Gründe dafür: Das Interesse des Publikums an einem solchen Ereignis ist im Vergleich zu anderen Wahlkampfaktivitäten sehr hoch – kein Wunder, denn gerade Fernseh- und Radioübertragung live steigern Drama und Unterhaltungswert ungemein. Die Bereitschaft, sich eine TV-Debatte anzusehen, ist weit höher als die, sich Parteienspots oder Polit-Plauderrunden anzusehen oder gar Parteiveranstaltungen zu besuchen.
Parteisympathisanten fühlen sich bestärkt und motiviert. Für eine kleinere Zahl von Bürgern bietet es eine Entscheidungshilfe. Auf jeden Fall können Debatten in der heißen Phase die Themen prägen, sie sorgen für Agenda-Setting. In regionalen und lokalen Wahlkämpfen tragen sie vermutlich mehr als im Bund dazu bei, dass die Wähler etwas mehr über die anstehenden politischen Sachfragen lernen.
Ein trügerischer Eindruck: Duell ohne Show
Zweifellos kann allein die Form des Schlagabtauschs in dieser Arena dazu beitragen, dass das Vertrauen in die Demokratie stabilisiert wird – denn der Zuschauer und Zuhörer kann sich ungefiltert ein vergleichendes Bild von den Kandidaten machen, er hört die Politiker in nicht einstudierter, freier Rede, er fühlt sich nah am Geschehen und dadurch besser informiert über Inhalte und Charakter der Kandidaten. Ob er es tatsächlich ist, ist eine andere Frage. Aber es entsteht nicht der Eindruck einer oberflächlichen Inszenierung, eher der einer fairen, ausführlichen und rationalen Auseinandersetzung ohne allzu offensichtliche Showelemente. Der Eindruck mag trügen, aber er ist da.
In Amerika sind bei den Wählern – nicht aber bei den Journalisten – die Debatten-Modelle besonders beliebt, bei denen es nicht so formal und steif zugeht, sondern wo möglichst viel Interaktion zwischen den Kontrahenten möglich ist und wo Bürger im Studiopublikum authentische Fragen stellen. Bürgerfragestunde statt formeller Debatte – das ist ein Rezept, auf dass sich SPD und Union nicht eingelassen haben. Gleichwohl sind die nach strikten Rederegeln aufgestellten Kanzer-Debatten, wie sie nach dem Modell amerikanischer und französischer Präsidentschaftsduelle ausgehandelt wurden, auch keine echten Debatten.
Streng genommen ist eine Debatte eine Konfrontation, in der es gleich verteilt, aber ausreichend Zeit gibt, eine ganz bestimmte politische These oder Position zu diskutieren, damit das Publikum am Ende über diese These oder Position abstimmen kann. Und: Bei einer echten Debatte streiten die Kontrahenten direkt miteinander, sie stellen sich gegenseitig Fragen und antworten direkt.
Im Parlament ist das so. Aber bei den typischen Fernseh-Debatten in den USA, Frankreich und jetzt auch bei uns stellen Journalisten die Fragen wie bei einer Pressekonferenz; statt einer politischen Fragestellung gibt es zehn, und für die Befassung mit derselben bleiben also nur drei bis zehn Minuten Gesamtzeit. Entsprechend eng getaktet wird die Moderation, und statt eines allmählichen Entwickelns und Beweisens von Argumenten geht es um hohe Schlagfertigkeit und das Einhalten der Spielregeln. Das ist nicht weniger anspruchsvoll oder weniger intellektuell. Das Modell ist aber statt von Sachthemen oder persönlichen Qualitäten der Redner allein von Medienlogik geprägt. Dass sich Schröder und Stoiber mit den Fernsehsendern auf das strikte Format 90-60-30 (90 Sekunden Antwort Kandidat A, 60 Sekunden Gegenstatement B, 30 Sekunden Gegen-Gegenstatement A) einigten, gaukelt zwar Fairness vor. Aber es ist keine Fairness den Themen gegenüber. Viele befürchten vorgestanzte Antworten auf vorgestanzte Fragen.
Wie anders sah es doch bei der Mutter aller Wahlkampfdebatten aus: Dem Duell zwischen dem späteren US-Präsidenten Abraham Lincoln und Senator Stephen Douglas, den Lincoln 1858 um seinen Senatssitz für den Staat Illinois herausgefordert hatte. Die beiden lieferten sich sieben Debatten, und dabei redeten sie zusammengerechnet schon mal bis zu 21 Stunden über ein einziges Thema (zugegeben, über eines wie die Sklaverei lässt sich auch ausdauernd streiten). Die Debattenserie war ein gut besuchtes Volksfest, und die Zeitungen liebten es; Lincoln verlor, aber er wurde durch die Debatten zum landesweiten Star – ein Ruhm, der ihn bis zur Präsidentschaft trug.
Inhaltlich war die auch hier zu Lande gern als Modell und Vorbild angepriesene TV-Debatte zwischen Kennedy und Nixon 1960 dagegen eine müde Schmalspurversion. Es dauerte 16 Jahre, bis wieder debattierende Präsidentschaftskandidaten im nationalen Fernsehen gegeneinander antraten. Aber das Kennedy-Nixon-Duell 1960 hatte dennoch einen nachhaltigen Eindruck: Schon in den Sechzigern verbreitete sich nämlich die Debattenidee auf fast allen politischen Ebenen.
Die Strategie der Manager vor, während, nach Debatten
Für Wahlkampfmanager bleiben Duelle der Spitzenkandidaten ein zweischneidiges Schwert. Aus strategischer Sicht kann man eine Debatte in drei Phasen gewinnen oder verlieren: Vor dem Ereignis, während der Debatte und auch danach.
Vor der Debatte geht es natürlich zunächst darum, ob sie überhaupt stattfinden soll: Wenn die Wahl eher knapp entschieden werden wird, werden sich Kandidaten eher darauf einlassen. Sie neigen zur Zusage, wenn sie sich Vorteile versprechen: Entweder durch die Debatte oder überhaupt durch den bloßen Akt der Teilnahme an einer Debatte. Für einen Herausforderer ist die Debatte weit wichtiger als für einen Amtsinhaber. Der Amtsinhaber weiß auch, dass er in einem Duell automatisch in der Defensive ist: Er muss seine Amtsbilanz verteidigen, während der andere munter angreifen kann.
Drängt sich ein dritter Kandidat in die Arena, wird die ganze Sache für die zwei Hauptkonkurrenten weit weniger interessant; aus dem simplen Grund nämlich, dass der Dritte ziemlich unberechenbar ist. Wäre FDP-Kanzlerkandidat Guido Westerwelle zu Stoiber und Schröder gestoßen, müsste er längst nicht so vorsichtig taktieren wie die anderen beiden. Andererseits besteht in einer Dreier-Variante auch die Gefahr, dass sich zwei gegen einen verbünden: Auch dies wäre kaum berechenbar.
Die Verhandlungen über Ort, Zeit, Moderatoren und Format müssen kontrollierbar sein. Taktisch werden auch die Verhandlungen schon für Wahlkampf genutzt, die “Debatte um die Debatten” ist ein Medienspiel für sich.
Vor der Debatte
Vor der Debatte geht es für die Wahlkampfmanager vor allem um eines: Sie müssen die Erwartungen von Journalisten und Öffentlichkeit an die Leistung des eigenen Kandidaten möglichst weit herunter schrauben. Im Falle einer Schlappe lässt sie sich so kleinreden, bei einem Unentschieden oder leichtem Vorsprung um so mehr aufbauschen. Dabei ist es für den Amtsinhaber weit schwieriger, sich um die hohen Erwartungen herum zu mogeln: Sein Amtsbonus steht ihm im Weg.
Ihm bleibt nur, Medien und Wähler in den Monaten vor der Debatte von der vorgeblich großen Redekunst und den Schnelldenkerfähigkeiten des Gegners zu überzeugen. Das ist natürlich in einer Wahlkampfsituation, in der man über den Gegner möglichst wenig Positives verbreiten möchte, auch nicht ganz leicht. So bleibt auch die Aufgabe, die erwarteten Defizite der Gegner-Performance im gleichen Atemzug immer wieder zu benennen – damit auch ja alle am Tag der Debatte darauf achten, egal, ob es nun die Neigung zu Plattitüden, zu Versprechern, Schachtelsätzen oder bestimmten Floskeln ist.
So gibt es für die Wahlkampfmanager vieles schon vor der Debatte zu tun. Vor allem aber eines: Den Kandidaten ordentlich vorzubereiten. In Amerika gibt es dafür Spezialisten, so genannte “Debate Coaches”. Sie spielen in nachgebauten Fernsehstudios den Sparringpartner, analysieren gemeinsam mit dem Kandidaten die Videobänder von eigenen und gegnerischen TV-Auftritten, und sie üben wichtige Gestik und Mimik, zentrale Aussagen und Argumente immer wieder – bis alles sitzt, und bis sie so getaktet sind, dass sie sich nicht im strikten Zeitformat verheddern. Das Problem: Wer zu viel einstudiert, hemmt die eigene Spontaneität. Und das ist vor Live-Kameras besonders tragisch.
Im US-Präsidentschaftswahljahr 2000 zog sich Al Gore tagelang zur Debatten-Klausur mit so vielen Trainern zurück, dass einige seiner Berater im Nebenraum sitzen und die Übungen nur am Bildschirm beobachten konnten. Zusätzlich ließen seine Hausdemoskopen kleine Gruppen von Bürgern die Übungsduelle beobachten und bewerten. Aber nicht nur die Analyse wurde übertrieben: Gore bestand sogar darauf, dass alles in seinem Trainingslager 1:1 realistisch abgebildet wurde, selbst die Raumtemperatur sollte so sein wie später im TV-Studio.
Hemdsärmeliger ging es bei der Konkurrenz zu: George W. Bush versammelte eine Handvoll Berater nach einem Barbecue-Grillabend in einer alten Kirche, in einem Provinztheater oder in einer kleinen Turnhalle, um dort die Debatten zu proben. Ihm war wichtiger, dass er die Sachfragen im Griff hatte und spontan auf jedes Thema mit Substanz antworten konnte. Und dass er auf jeden unfairen Trick der Gegenseite vorbereitet war: Weil Al Gore dafür bekannt war, dass er bewusst Spielregeln brach, um den Debattengegner aus dem Gleichgewicht zu werfen. Gore hatte bei früheren Debatten beispielsweise Papiere und Daten aus der Tasche gezogen, er hatte sein Pult verlassen und war zum Gegner hinüber gegangen, ihn zu einer Unterschrift unter eine politische Erklärung oder zu einem Handschlag genötigt. Außerdem fiel er seinen Gegnern permanent aggressiv ins Wort, log und polarisierte gekonnt. Um sich darauf zu trainieren, holte sich Bush einen befreundeten Politiker als Sparringspartner. Dem war der rhetorisch wenig begabte Bush zwar stets unterlegen, aber er hatte mit ihm das Cool-Bleiben und telegene Gelassenheit geübt, um gegen Gores Profitricks zu überleben. Und das funktionierte blendend: Weil er sich gegen den Ersteklasse-Debattierer Gore als talentloser Underdog gut behauptet hatte, stand er trotz inhaltlichen Patts in der Medienbewertung tendenziell als Sieger da.
Während der Debatte
Während der Debatte müssen sich die Kontrahenten darauf konzentrieren, frühzeitig eine klare, dominante Aussage zu treffen, die sie bei verschiedenen Fragen immer wieder aufgreifen und variieren können. Natürlich auch im Schluss-Statement. Es liegt auf der Hand, dass die meisten Zuschauer die meisten Einzelfragen und Detailantworten binnen Stunden wieder vergessen haben werden. Die zentrale Botschaft aber muss hängen bleiben.
Image und Inhalt eng verwoben
Diese ist verwoben mit dem Image, das sich der Politiker in der Debatte geben will. Er kann aktiv, aggressiv und fordernd auftreten und so seinen Führungsanspruch anmelden, dabei immer wieder auf eigene Initiativen und Vorschläge zu sprechen kommen. Oder er kann eher passiv und abwartend den kompetenten, ruhigen Entscheider geben, der im richtigen Augenblick die richtigen Wege wählt. Ob das Image eher in Richtung “netter Kerl” oder “treibende Kraft” gehen soll, ob es den Typus “verständnisvoller Staatsmann”, “effizienter Macher und Manager” oder “Werte-gebundener Erneuerer und Volkstribun” herausstreicht – immer sind rhetorischer Stil, Körpersprache und Inhalt eng gekoppelt. Darum ist es so schwer, gegen das Naturell des Kandidaten ein künstliches Image aufzubauen, dass auch in einer Live-Debatte standhält.
Nach der Debatte
Nur Minuten nach dem letzten Schluss-Statement in einer Debatte versuchen Wahlkampfteams, die Interpretation der Journalisten zu beeinflussen: Wer gewonnen hat, ob es ein Unentschieden gab, wie Patzer und Pannen kommentiert werden sollen, wie wichtig eine schlagfertige Antwort, ein Ausweichen oder ein Blackout bei einer wichtigen Frage waren – das sind Bewertungen, die nicht automatisch nach Redeschluss feststehen. Auch Journalisten reden erst einmal untereinander und mit zahlreichen anderen Beobachtern, bevor sie eine endgültige Analyse oder Meinung ausstrahlen oder drucken. Je besser koordiniert und abgestimmt die Sprachregelung zwischen den eigenen prominenten Spitzenleuten ist, die das Ereignis gegenüber Journalisten kommentieren, desto eher drückt man der sich bildenden Medien- und Eliten-Meinung seinen Stempel auf. Das lässt sich durch das Forcieren von Interviews, Umfrageergebnissen oder Leserbriefaktionen noch steigern. Am Ende ist klar: Erst das Medienecho zeigt, wer wirklich gewonnen hat. Und dieses ist für die endgültige Einschätzung der Wähler wichtiger als deren eigenes Erleben der Debatte am Bildschirm.
Dr. disc. pol. Marco Althaus, M.A. (USA), Diplom-Politologe, ist Leiter der Pressestelle des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft, Technologie und Verkehr.
Erschienen am 22.08.2002
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