Ein neues Leitbild beflügelt die Phantasie von Programmierern, Journalisten und Wissenschaftlern. Web 2.0. Spätestens seit Internet-Vordenker Tim O’Reilly im September den vielzitierten Artikel «What Is Web 2.0» veröffentlichte, bildet das Internet wieder Nährboden für Enthusiasmus und Utopien. Verlagschef O’Reilly zählte in einer Art Best-Practices-Liste eine Menge von erfolgreichen Websites, Tools und Technologien auf, die weite Verbreitung gefunden haben und das Web revolutionieren sollen.
Mit Web 2.0 hat O’Reilly eine einprägsame Parole für die Entwicklung des Internet ausgegeben. Die Versionsnummer 2.0 ist etwas missverständlich, denn sie suggeriert die Neuauflage einer Vorgängerversion. Doch das Web ist ein Kontinuum, und das macht eine Definition kompliziert.
Bei dem Konzept Web 2.0 geht es aber nicht nur um Technologie, sondern auch um ein soziales Phänomen. Die erwachsenden sozialen Kommunikations- und Interaktionsstrukturen scheinen bessere Voraussetzungen für politische Beteiligung zu bieten denn je. Besonders die altbekannte Utopie der Cyberdemokratie bekommt im Zuge der Debatte um das Web 2.0 neuen Aufwind.
Was ist nun neu daran? Manche Kritiker sind der Meinung, was Web 2.0 kennzeichnet, sollte das Web im Grunde schon immer sein. Aber nur langsam werden Potentiale ausgeschöpft, die dem Internet schon Mitte der Neunziger Jahre vorausgesagt wurden. Aus der viel beschworenen Revolution der Massenkommunikation ist eine Evolution geworden, die langsamer vonstatten geht als vermutet.
Die Web 2.0 – Bewohner und ihr Handwerkszeug
Im Web 2.0 sind statische Sites, die die User als passive Konsumenten ansprechen (Web 1.0, wenn man so will), out. In der Neuauflage wird das Web zu einem Ort breiter User-Beteiligung. Gemäß dem Gedanken «we are the web» tauscht eine große Schar von Aktiven ihre Inhalte unter Umgehung von etablierten Gatekeepern miteinander aus: Meinungen, Texte und Software werden selbstorganisiert und kollaborativ entwickelt und selbstbestimmt zusammengestellt.
Zum Handwerkszeug der Web 2.0-Bewohner gehören neben den bekannten Weblogs und Wikis z.B. Tags und Ontologien für gemeinsame Begriffssysteme, Location Based Services für die geographische Verortung von Informationen, öffentliche Bookmarks, Friend-of-a-Friend-Netzwerke und offene Schnittstellen für den automatisierten Austausch von Inhalten zwischen Blogs und Websites. Trotz des rapiden Fortschritts gilt mehr denn je die Devise «Keep it simple». Die Software ist so einfach zu bedienen, dass aus immer mehr Konsumenten Produzenten werden.
Die Zahl derer, die das Internet auf diese Weise mit Inhalten versorgen steigt rapide. Charakteristisch für 2.0 ist, dass der einzelne Output im kollektiven Produkt aufgeht. Aus der losen Sammlung von Websites wird eine riesige Computerplattform, auf der ein immer stärker verwobenes virtuelles soziales Netzwerk wächst. Selbstorganisation, Wissensaustausch und Kollaboration machen aus dem Web 2.0 einen Ort kollektivierter Individualität. In der Version 2.0 wird das Netz zum großen Teil isomorph mit den kommunikativen Interaktionsmustern seiner Bewohner. Lebenswelten werden zunehmend vom Web durchdrungen oder in den Cyberspace verlegt. Das Schlagwort für diese permanente Verwobenheit heißt «continuous computing».
Aus dem komplexen Geflecht des Web 2.0 sollen nun transformatorische Kräfte emergieren. Die technopolitische Vision setzt auf kommunikative Macht, die sich auf eine bottom-up-getriebene, deliberative demokratische Kultur stützt. Für Optimisten ist das Web 2.0 mehr als die Summe seiner Inhalte.