Universitätsprofessor
Hans Joachim Kleinsteuber war am 17. Oktober 05 zu Gast im tagesschau-Chat
von tagesschau.de und politik-digital.de. Kleinsteuber sprach über
die Rolle der Medien im Wahlkampf und das Verhältnis der beiden
Schwesterparteien CDU und CSU.
Moderator: Liebe Politik-Interessierte, herzlich
Willkommen im tacheles.02-Chat. Unsere Chat-Reihe ist ein Format
von tagesschau.de und politik-digital.de. Heute chatten wir mit
Professor Hans J. Kleinsteuber, der am Institut für Politische
Wissenschaft an der Universität Hamburg lehrt. Guten Tag Herr
Professor Kleinsteuber, können wir beginnen?
Hans J. Kleinsteuber: Einen schönen guten
Tag, wir können beginnen!
Moderator: Herr Professor Kleinsteuber, Heute
lesen wir von neuerlichem Zank zwischen CDU und CSU – Merkel
soll versucht haben, Stoiber auszutricksen, der hat prompt zurück
geschossen. Übliche Kabbeleien unter Schwestern oder doch ein
ernster Machtkampf?
Hans J. Kleinsteuber: Tatsache ist, dass es unter
Politikern eigentlich keine Freundschaften gibt, sondern nur Zweck-Beziehungen.
Es gibt das bekannte Wort der Begriffssteigerung: Freund – Feind
– Parteifreund. Was betont, dass es in der Politik nicht um persönliche
Freundschaften gehen kann. Sicherlich sind Parteivorsitzende Angela
Merkel und Edmund Stoiber auch seit vielen Jahren Rivalen und im
Moment pflegen beide ihre Vorgärten. Das kann man Zank nennen,
aber es geht zugleich darum, unter Bedingungen unterschiedlicher
Interessen um Gemeinsamkeiten zu ringen.
MasterMouse: Ist die Medienschelte des Kanzlers
in seinem Auftritt in der Elefantenrunde berechtigt gewesen, oder
bloß pure Eitelkeit?
Hans J. Kleinsteuber: Die Medienschelte des Kanzlers
hat zwei Dimensionen: Die erste ist, dass Politiker eitel sind,
aber das sind auch Journalisten. Fast alle Politiker fühlen
sich in Berlin von Journalisten verfolgt und schlecht behandelt.
Dem geben sie dann schon einmal – vielleicht auch unangemessen –
Ausdruck und das gilt sicherlich auch hier für den Kanzler.
Die zweite Dimension allerdings ist, dass in den Wochen vor der
Wahl in Auflagenstarken Zeitungen, vor allem auch in einer Boulevardzeitung,
sehr viel Berichterstattung zu finden war, die vor allem Rot-Grün
kritisierte und deren Politikern schwere Vorwürfe machte. Darauf
reagieren die angesprochenen Politiker entsprechend sensibel und
lassen dann am Wahlabend ihren Ärger auch raus.
Kassenschlager: Wie sehen Sie die politische Zukunft
von Gerhard Schröder?
Hans J. Kleinsteuber: Die politische Zukunft von
Gerhard Schröder wird wahrscheinlich sehr unpolitisch sein.
Wenn nicht eine internationale oder europäische Institution
ihn aufnimmt, was eher unwahrscheinlich ist, so wird er voraussichtlich
zum Privatier. Spitzenpolitiker, Helmut Schmidt oder Helmut Kohl
sind hier gute Beispiele, können nach Ende ihrer Karriere gut
von ihrem Ruf leben. Sie schreiben Memoiren, lassen sich zu Vorträgen
einladen, übernehmen repräsentative Auftritte im Ausland,
übernehmen vielleicht auch Leitungsfunktionen in Kommissionen
und Ähnlichem. Sie sind dann, was wir ‚Elderly Statesmen’
nennen, und das ist eine im Prinzip recht angenehme Form des Tagesvertreibs.
chemnitz77: Schwächen Stoiber und Merkel
mit ihrem Streit nicht ihre Verhandlungsposition mit der SPD? Die
Sozis müsste es doch freuen.
Hans J. Kleinsteuber: Ich denke, der Fragende
hat mit seiner Unterstellung Recht, CDU /CSU geben derzeit nicht
das beste Bild ab. Die SPD hat mit ihrer schnellen Benennung der
Ministerkandidaten ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten demonstriert.
Wir wissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, dass CDU/CSU ein
besonders heterogenes Parteiengeflecht darstellen. Hier sind die
Kosten der Konsensbildung deutlich höher und entsprechend ist
auch mehr Zeit erforderlich.
Wahlver Aka Schröder: Wird die Koalition
der beiden Unionsparteien die Legislaturperiode überstehen?
Hans J. Kleinsteuber: Ich werde keine Prognosen
aufstellen, damit kann man schnell auch daneben liegen. Ich kann
Ihnen allerdings versichern, dass der Streit zwischen CDU und CSU
Jahrzehnte alt ist. Denken Sie an Helmut Kohl und Franz-Joseph Strauß
und deren Konkurrenzen um die höchsten Ämter. Bisher haben
sich die Beteiligten immer wieder zusammenraufen können und
ich denke, dass wird auch für die nächsten vier Jahre
der Fall sein.
Moderator: Es ist die Rede von dem beeindruckenden
Personaltableau der SPD in der Ministerriege und dass Merkel nicht
richtig nachziehen kann. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung?
Hans J. Kleinsteuber: Also ich denke die SPD hat
einen guten Job gemacht und eine Ministerriege angeboten, die unter
den zentralen Aspekten der politischen Erfahrung, des Alters, des
Geschlechts und der regionalen Herkunft ausgewogen erscheint. CDU/CSU
arbeiten offensichtlich noch daran. Aber noch einmal: Für die
Unionsparteien gilt, dass wegen der vergleichsweise heterogenen
Ausgangslage das Erarbeiten von Übereinkünften besonders
viel Zeit und Energie kostet. Allen gemeinsam aber ist die Neigung,
gemeinsam politische Ämter zu erobern und politische Macht
auszuüben und das zwingt auch ganz unterschiedliche Politiker
und Positionen dazu, sich für die nächsten vier Jahre
zu einigen.
Lissy: Ist die Art und Weise dieser Koalitionsverhandlungen
nicht ungewöhnlich – bevor über die Inhalte gesprochen
wird, wird das Personaltableau verabschiedet?
Hans J. Kleinsteuber: In der Tat ist Ihre Beobachtung
richtig. Dass derzeit mehr von Ministerposten als von Regierungsprogrammen
die Rede ist. Dies umso mehr, da man uns ursprünglich versprochen
hatte, erst die Inhalte zu klären und danach nach qualifizierten
Personen zu suchen. Ich denke, dies liegt an der ungewöhnlichen
Formation der Großen Koalition, bei deren Konstituierung man
sich auf das Personengleichgewicht von jeweils acht Parteirepräsentanten
im Kabinett geeinigt hat. Aber natürlich kann man politische
Positionen nicht von Ministerkandidaten trennen, so sind mit den
Personen auch schon erste Festlegungen erfolgt.
Mourinho: Glauben Sie, dass die Kompromisse, die
SPD und Union bei der Gesetzgebung eingehen werden, gut für
Deutschland sind? Oder wird es dann nichts Halbes und nichts Ganzes?
Hans J. Kleinsteuber: Politik besteht aus Pragmatismus
und Kleinschrittigkeit. Die großen Entwürfe klangen im
Wahlkampf noch gut, mit dem Alltag des Regierens in Berlin haben
sie wenig zu tun. Dies gilt für jede Regierung und jede Koalition.
Der Kompromiss zwischen beiden großen Parteien birgt immer
die Gefahr des Stillstandes in sich. Dies umso mehr, da zu befürchten
ist, dass die beiden großen Parteien sich gegenseitig blockieren.
Das Regierungsprogramm würde dann aus einem Mittelweg des kleinsten
gemeinsamen Nenners bestehen. Das wäre sehr bedauerlich. Aber
auch ein Gegenentwurf ist denkbar: Die rot-grüne Regierung
war blockiert, weil sie die Mehrheit im Bundesrat verloren hatte.
Die neue Regierung verfügt dagegen über eine sichere Mehrheit
im Bundesrat und kann deswegen auch komplizierte Gesetzgebungsprojekte
reibungslos durch die zweite Kammer leiten. Damit besteht die Chance,
dass Reformprojekte erfolgreicher in Angriff genommen werden können,
als bisher. Insofern bietet die Große Koalition die Chance,
von deutschem Immobilismus wegzukommen. Nach vier Jahren werden
wir sehen in welche Richtung die Regierungsarbeit tatsächlich
ging.
erjotes: Warum um alles in der Welt wird Wolfgang
Schäuble Innenminister und damit der Bock zum Gärtner
Anbetrachts der immer noch ungeklärten Spendenaffäre um
Schreiber, Max Strauß und Pfahls? Da wird die Politik doch
erst recht unglaubwürdig, wenn solche Verschleierer an die
Schalthebel der Macht, den Geheimdienst kommen.
Hans J. Kleinsteuber: Wolfgang Schäuble war
früher schon als Innenpolitiker tätig und er hat in diesem
Bereich große Erfahrungen. Welche Rolle er tatsächlich
in der Spendenaffäre spielte, wird wohl nie aufzuklären
sein. Er ist nie bestraft worden und sollte daher als Ehrenmann
angesehen werden. Da er einer der Politiker mit der größten
Expertise überhaupt ist, gilt er allemal als ministrabel. Gehen
Sie allgemein davon aus, dass viele Politiker irgendwann in Skandale
einbezogen wurden und vielen hat dies nicht dauerhaft geschadet.
Außenminister Fischer z.B. war noch kurz vor der Wahl in den
Visa-Skandal verwickelt und konnte gute Ergebnisse für die
Partei einholen, deren Spitzenkandidat er war. Politik findet in
einem ruppigen Umfeld statt, und manch ein Politiker hat im Verlauf
seiner Karrieren schon einmal Federn lassen müssen.
Moderator: Ist Angela Merkel nicht eingekeilt
von drei Personen: Stoiber, Müntefering und auch Wolfgang Schäuble?
Hans J. Kleinsteuber: Ganz sicherlich ist sie
das und ich denke eine Kanzlerin Angela Merkel wird besonders schwierige
Startbedingungen haben. Aber Spitzenpolitiker haben viele Jahre
des Sammelns von Erfahrungen, also der politischen Sozialisation
hinter sich und müssen wissen wie sie mit Widersachern und
potenziellen Konkurrenten umzugehen haben. Frau Merkel hat mehrfach
bemerkenswertes politisches Gespür demonstriert, z.B. bei der
Wahl des Bundespräsidenten Horst Köhler. Es ist zu hoffen,
dass es ihr gelingt, die Riege der drei genannten selbstbewussten
Männer im Zaum zu halten und damit zu dem Regierungsgeschäft
als ‚business as usual’ zu kommen.
Ihr Benutzername2: Ist die Männerhochburg
Politik geeignet für eine Kanzlerin Merkel, die eine labile
Koalition führen muss?
Hans J. Kleinsteuber: Politik denke ich ist heute
keine Männerhochburg mehr, die erste deutsche Kanzlerkandidatin
steht für den allmählichen Wandel. Und denken Sie z.B.
daran, dass unter den acht sozialdemokratischen Ministerkandidaten
drei Frauen zu finden sind. Auf der anderen Seite sagt man, dass
das öffentliche Handeln der beiden Geschlechter doch recht
unterschiedlich ist. Männer im Sinne von "Hahnenkämpfen",
eher die Konfrontation, Frauen dagegen im Sinne von "Familienfrieden"
eher den Ausgleich suchend. Ich hoffe, dass dies auch für eine
Kanzlerin Merkel gilt, und es ihr in besonderer Weise gelingt, die
mitunter im Stammtischton auftretenden Männer mit Charme und
sicherem Gefühl für die mittlere Linie zu domestizieren.
Moderator: Gleich mehrere Fragen zur Personalie
Seehofer:
Tom: Wie hat es Seehofer geschafft…? Seehofer
hat ja immer für eine Bürgerversicherung gesprochen –
wird dieses vielleicht (endlich) eine Option der großen Koalition?
Derrick: Ist der Ministerposten für Seehofer
nicht auch ein Hinweis auf eine kommende Bürgerversicherung?
Hans J. Kleinsteuber: Ich denke, dass das eine
falsche Einschätzung ist. Die Personalie Seehofer wird ja als
Agrar- und Verbraucherminister gehandelt. Damit allein stellt man
schon sicher, dass er in den nächsten Jahren in die Kabinettsdisziplin
einbezogen ist und zu gesundheitspolitischen Fragen nicht mehr Stellung
beziehen wird. Gleichzeitig ist die Nominierung Seehofers ein interessantes
Beispiel dafür, wie man versucht, potenzielle politische Querulanten
in die Regierungslinie mit einzubinden. Bei Seehofer mag dazu kommen,
dass Stoiber seinen Vize aus dem CSU-Präsidium auch nominiert
hat, um Kanzlerin Merkel dafür abzustrafen, dass sie zuvor
mit seinem Parteikollegen Glos über das Verteidigungsministerium
gesprochen hatte.
aef: Wie beurteilen Sie die Vertrauenswürdigkeit
von Politikern im Allgemeinen, wenn diese zuerst gegeneinander,
wie vor der Wahl, und dann plötzlich miteinander arbeiten?
Kann man denen überhaupt noch vertrauen, oder ist jeder Glaube
an die Politik als Naiv einzustufen?
Hans J. Kleinsteuber: Wir sollten immer skeptisch
sein, wenn Politiker uns große Versprechungen machen, deswegen
werden sie uns häufig wenig vertrauenswürdig erscheinen.
Aber wir müssen sehen, dass Politiker immer auch Rollen spielen
müssen. Vor der Wahl die eines Kandidaten für ein politisches
Mandat, nach der Wahl als Minister, Oppositionschef oder vielleicht
Präsident des Deutschen Bundestages. Die Übernahme solcher
Rollen ist wichtig und notwendig für das funktionieren des
parlamentarischen Prozesses. In Wahlen sollen uns die Kandidaten
vorspielen, welche politischen Positionen und Optionen zur Verfügung
stehen. Erst in dieser streitigen Darstellung – z.B. in Fernsehduellen
– erhalten unterschiedliche politische Programmpunkte deutliche
Konturen. Dies erleichtert dem Wähler die Findung seines Kandidaten
und seiner Partei; gleichzeitig gilt aber auch, dass Regieren immer
aus Zwischenschritten besteht und gerade die schnellen und großen
Versprechen niemals umzusetzen sind. Insofern würde ich sagen,
die meisten Politiker erscheinen mir vertrauenswürdig, gleichwohl
ist es in den nächsten vier Jahren unsere Pflicht, sie auf
transparente Amtsführung zu verpflichten und ihnen bei der
Arbeit kritisch auf die Finger zu schauen.
Dr.Medicus: Welche Linie wird es in Deutschland
künftig geben? Denken Sie, dass eher die Konservativen sich
für Änderungen stark machen können, oder können
die Sozialdemokraten ihre Route annähernd beibehalten?
Hans J. Kleinsteuber: So oder so werden wir in
Deutschland zu erheblichen Veränderungen kommen müssen,
etwa in den Feldern Haushaltssanierung, Arbeitsplätze, Steuern,
Gesundheit. Diese Veränderungen kann man in ein simples Schema
von rechts und links oder konservativ gegen Sozialdemokratie nicht
einordnen, wichtiger hierbei ist, dass deutliche Mehrheiten im Bundestag
und Bundesrat sich zu wichtigen Reformschritten zusammenraufen und
dafür mag eine große Koalition sogar günstigere
Voraussetzungen bieten, als eine Regierungsverbindung, die nur eine
schwache Mehrheit im Parlament hat.
sldkf: Ich hatte die Ankündigung dieses Chats
so verstanden, dass es vor allem um die Art der Kommunikation gehen
soll. Ich hoffe auch um Sprache. Ludwig Stiegler wurde erwähnt.
Wie ist eine solche Polter-Rhetorik einzuschätzen, die doch
die Konsensverliebte Bevölkerungsmehrheit eher abstößt?
Welche Funktion hat das?
Hans J. Kleinsteuber: Sehen sie, in der Politik
tritt ein breites Spektrum von unterschiedlichen Akteuren im Namen
einer Partei oder politischen Richtung auf. Da gibt es die Vordenker,
die intellektuell Brillianten, die Macher und letztlich auch die
Ausputzer. Die Parteien wissen, dass einige in ihrer Wählerschaft
das grobschlächtige Argument lieben und darum gibt es immer
auch einzelne Politiker, die diesen Markt bedienen. Denken Sie z.B.
an Franz-Joseph Strauß oder Edmund Stoiber und ihre Bierzeltauftritte.
Ludwig Stiegler übernimmt – nicht ganz zufällig auch aus
Bayern – diese Rolle in der SPD und ich denke, die SPD Parteispitze
ist froh, das sie ihn zuverlässig einsetzen kann, wenn sie
einmal wieder meint, dass das grobe Wort angebracht ist.
Moderator: Der Cicero-Fall interessiert gleich
mehrere User:
Journalist_48: Wie bewerten sie das Vorgehen von
Schily im Cicero- Fall? Sehen sie eine Bedrohung für die Pressefreiheit?
Pirarucu: Hallo Herr Kleinsteuber, wie bewerten
Sie die Affäre des scheidenden Innenministers um die Durchsuchung
der Privaträume des Cicero-Journalisten?
Hans J. Kleinsteuber: Ich bin auch Professor für
Journalistik und stehe deswegen prinzipiell auf der Seite derer,
die die Pressefreiheit verteidigen. Wir haben im Deutschen Presserecht
das hohe Institut des Zeugnisverweigerungsrechtes und dies darf
durch Polizeiaktionen a la Cicero nicht unterlaufen werden. Schily
hat in dieser Affäre eine Art ich-bin-der-Staat-Mentalität
an den Tag gelegt, und dies ist nicht akzeptabel, selbst wenn es
um Geheimnisverrat geht. Zumal hier die Straftaten wohl eher im
Bundeskriminalamt, also im Einflussbereich Schilys zu suchen sind,
als in dem von Durchsuchungen betroffenen Redakteur und der Redaktion.
Meine persönliche Interpretation ist, dass Schily sowieso das
Ende seiner Karriere als Minister gesehen hat und die Situation
nutzt, um mit seinen Lieblingsfeinden, den Journalisten, noch ein
letztes Mal öffentlich abzurechnen.
Moderator: Ist diese Affäre auch ein Zeichen
dafür, dass Politiker ab einem gewissen Alter nicht immer rational
handeln? Schily ist jenseits der siebzig – Altersgrenze für
Politiker?
Hans J. Kleinsteuber: Also viele erfolgreiche
und bekannte Politiker hatten ein fast biblisches Alter, ich erinnere
etwa an Adenauer oder Reagan. Mag sein, dass ein Politiker in höherem
Alter in der einen oder anderen Situation nicht mehr ganz auf der
Höhe der Zeit ist, auf der anderen Seite meine ich aber, dass
man auch Jahrzehntelange pol. Erfahrungen nicht unterschätzen
sollte. Im Fall Schily allerdings sehe ich keinerlei Altersschwäche,
eher eine jugendliche Angriffsfreude, so als wäre die Jahre
an ihm spurlos vorbei gegangen. Ich hätte auch keine Sorge,
ihm weiterhin ein Ministeramt anzutragen, aber vielleicht war es
gerade die Affäre Cicero, die dazu geführt hat, dass die
SPD dann doch auf seine Weiterbeschäftigung als Minister verzichtet
hat.
Humussalat: Inwiefern wird Angela Merkel einem
Vergleich mit Thatcher gerecht? Muss Angela Merkel sich jetzt durch
Härte beweisen?
Hans J. Kleinsteuber: Der Vergleich wischen Merkel
und Thatcher ist natürlich alt. Beide werden oder waren in
ihrem Land die erste Regierungschefin / sein. Gleichwohl meine ich,
dass die Parteien, die sie an die pol. Spitze gebracht haben – in
GB die Conservative Party, in Deutschland die CDU – von recht ungleicher
Statur sind. Die Konservativen in GB haben immer den neoliberalen
Positionen, wie sie die "eiserne Lady" durchgesetzt hat,
näher gestanden, als die christliche Volkspartei CDU. So verfügt
die CDU auch über einen starken Arbeitnehmerflügel, in
der Partei institutionalisiert vor allem über die Sozialausschüsse.
Die werden dafür sorgen, so schätze ich es ein, dass CDU/CSU
über eine gemäßigt-konservative Politik nicht hinausgehen
werden und z.B. Grundprinzipien der Sozialstaatlichkeit nicht in
Frage stellen werden.
Thomas: Merkel hat vor der Wahl den Versuch unternommen
mit dem Wähler probeweise ehrlich umzugehen (Mehrwertsteuer
etc.) und wurde bestraft. Muss man als Resümee nicht sagen,
der Wähler will nicht ehrlich behandelt werden, oder hat es
nicht verdient?
Hans J. Kleinsteuber: Ich denke, dass die schlechten
Wahlergebnisse für CDU / CSU nur teilweise mit der Spitzenkandidatin
Merkel und ihren Äußerungen zur Mehrwertsteuer zu tun
hat. Im Übrigen hat sie ja auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer
unmittelbar verbunden mit einer Verminderung der Abgaben für
die Arbeitslosenversicherung. Von daher denke, ich, dass man diesen
Bereich nicht überschätzen sollte. Gleichwohl muss man
sehen, dass die Welt sich nach der Wahl viel nüchterner darstellt,
als in den sonnendurchstrahlten Politikerreden während des
Wahlkampfes. So wird schlicht das Geld für Steuerermäßigungen
fehlen, die fast alle Parteien vor der Wahl versprochen haben. Wir
können hier nur an den gesunden Menschenverstand seitens der
Wähler appellieren, die nicht jeder überzogenen Versprechung
gleich auf den Leim gehen sollten.
Moderator: Das war unsere Chat-Stunde, vielen
Dank für Ihr Interesse. Herzlichen Dank Herr Professor Kleinsteuber,
dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wir wünschen allen einen
schönen Tag!
Hans J. Kleinsteuber: Vielen Dank dem Moderator
und vielen Dank den vielen Fragestellungen. Ich war über die
Qualität der Fragen positiv erstaunt und denke, es steht nicht
schlecht um die Republik, wenn sich viele Menschen für solche
Fragestellungen interessieren. Auf Wiedersehen.