Seit Jahren ist bekannt, dass Deutschland bei der Digitalisierung hinterherhinkt. Vor allem das Verwaltungswesen hat enormen Nachholbedarf, wenn es um die Digitalisierung und infolgedessen um die Beschleunigung und die Vereinfachung von Arbeitsprozessen geht. Und das betrifft auch die höchsten politischen Ebenen: so befindet sich etwa der Rechtsstaat noch in der digitalen Steinzeit, obwohl die Voraussetzungen gegeben wären. Schon in den vergangenen Legislaturperioden wurde von den jeweiligen Regierungen ein Fortschritt bei der Digitalisierung der Justiz versprochen, jedoch ohne entsprechende Erfolge. Der amtierende Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann diskutierte dieses Thema am 24.11.2022 mit Dr. Valesca Molinari, Mitglied des Vorstands des Legal Tech Verband Deutschland e.V. im Rahmen des UdL Digital Talks unter der Moderation von Cherno Jobatey.
“Die Gürteltiere auf die Liste der bedrohten Tierarten setzen”
Unter der Überschrift “Aktendeckel zum Cyberspace – Wie digitalisieren wir den Rechtsstaat?” eröffnete Moderator Cherno Jobatey die Diskussion mit einer provokanten Aussage: Rechtsstaat und Digitalisierung seien für ihn Gegensätze und ein Fortschritt Utopie. Justizminister und ausgebildeter Jurist Dr. Marco Buschmann erwiderte, dass der Rechtsstaat auf Veränderungen in der Gesellschaft reagieren müsse und es dementsprechend viel Aufholbedarf bei dessen Arbeitsweisen gäbe. Doch gibt sich Buschmann direkt optimistisch für die kommenden Jahre seiner Amtszeit: die von Beamt*innen sogenannten “Gürteltiere”, also Akten, die so dick sind, dass sie mit einem Stoffgürtel zusammengebunden werden müssen, will er “auf die Liste der bedrohten Tierarten setzen”.
Dr. Valesca Molinari, General Counsel des Cleantech Unternehmens Sunfire, Vorstandsmitglied des Legal Tech Verband Deutschland e.V. und Mitglied im Advisory Board des Bundesverbands der Wirtschaftskanzleien in Deutschland e.V., betonte in ihrem ersten Statement an diesem Abend, dass ein digitaler Rechtsstaat keine Utopie sein dürfe. Jedoch sähe sie auch die Problematik, dass die Justiz eine eher konservative Branche ist, in welcher die Digitalisierung wenig Priorität hat. Sie forderte, dass Jurist*innen “in der Realität ankommen” sollten und die Digitalisierung in der Justiz priorisiert werden müsse, um effizienter arbeiten zu können.
Die Digitalisierung benötigt Leadership
Im Laufe der Debatte betonten die beiden Gäste immer wieder, wie wichtig Leadership bei der Digitalisierung des Rechtsstaates ist. Die Modernisierung muss von Oben eingeleitet werden, die Wirtschaft solle als Vorbild hierfür dienen. Doch das scheint nicht so einfach: Buschmann erklärte, dass Jurist*innen nicht darauf ausgerichtet seien, Changeprozesse durchzuführen, sondern ihre Aufgabe in der Bewahrung des Rechtes sähen. Um dies zu ändern und die Jurist*innen von den Vorteilen eines digitalen Rechtsstaates zu überzeugen, sei eine stete Mobilisierung und vor allem positive Beispiele von großer Bedeutung, da “der Case immer besser als die Predigt” sei. Als Beispiel nannte der Justizminister hierfür das Patentgericht in München, welches vollständig digitalisiert wurde und welche Erleichterung dies für die Justizbeamt*innen sei. Zudem lobte er seine eigene Partei, die FDP, und seine Arbeit als ehemaliger Parlamentarischer Geschäftsführer, in dem er darauf verwies, dass er die Digitalisierung der Fraktion trotz einiger Beharrungskräfte voranbringen konnte. Ein kleiner Seitenhieb an den Koalitionspartner Bündnis 90`/Die Grünen durfte auch nicht fehlen: Buschmann bemerkte, dass die Bundestagsfraktion der Grünen noch immer kaum digitalisiert sei und trotz ihrer Umweltpolitik fast alles auf Papier erledigen würde.
Auf die Frage des Moderators, warum es so schwer sei, neu zu denken und ob wir zu sehr im analogen verankert seien, antwortete Dr. Valesca Molinari, dass das Analoge nicht einfach in das Digitale übersetzt werden könne, sondern “die Vision gelebt werden muss”. Hierfür sei eine fachliche Diversität von größter Bedeutung. Außerdem warb sie für experimentelle Setups, in welchen neue Ideen getestet werden sollten. Buschmann fügte an dieser Stelle hinzu, dass er Hoffnung in die jüngere Justizgeneration setze, da diese in einer digitalen Lebenswelt aufgewachsen seien und die veralteten Prozesse in den Gerichten kaum hinnehmen werden. Hier fügte Molinari hinzu, dass auch das Jurastudium reformbedürftig sei und es unbedingt Schnittstellenkompetenzen erfordere, um die Digitalisierung voranzubringen.
Leere Versprechungen oder tatsächlicher Fortschritt?
All diese Vorhaben klängen schön und gut, jedoch hätten die Vorgängerregierungen ebenfalls Versprechungen zur Digitalisierung des Rechtsstaates gemacht, welche bisher nicht wesentlich erfüllt wurden, kritisierte Moderator Cherno Jobatey. Der Justizminister hingegen zeigte sich optimistisch, in den nächsten Jahren das Justizwesen zu reformieren, jedoch unter dem Vorbehalt, dass nicht allein der Bund hierfür verantwortlich sei, sondern aufgrund der föderalistischen Struktur in der Bundesrepublik die Länder mitziehen müssten.
Gegen Ende der Veranstaltung konnte das Publikum den Podiumsgästen Fragen stellen: hierbei wurden Themen wie “Robojudges”, also künstliche Intelligenzen zur Unterstützung der Gerichte, Blockchain-Projekte und der Bürokratieabbau angerissen.
Dass die Digitalisierung des Rechtsstaates noch viel Arbeit bedarf, wurde an diesem Abend deutlich. Insgesamt zeigten sich Justizminister Dr. Marco Buschmann und Dr. Valesca Molinari optimistisch, in den nächsten Jahren große Fortschritte erzielen zu können. Einiges wurde bereits in Bewegung gesetzt, doch ob die Versprechungen gehalten werden können, bleibt abzuwarten.
Text: CC-BY-SA 3.0
Foto: BPA auf Bundesministerium für Justiz