In einem Interview beleuchtet MdEP Patrick Breyer (Piraten) die jüngste Entwicklung und kommentiert den legislativen Prozess:
Wie bewerten Sie den Digital Services Act?
Breyer: “Der Digital Services Act soll die [Social Media] Plattformen regulieren, und der Wunsch war eigentlich, dass er das Problem des Überwachungskapitalismus von Grund auf angeht: Das heißt, dass man auf Schritt und Tritt überwacht wird, um mit Werbebotschaften und politischen Botschaften manipuliert zu werden. Wir wollten im Parlament das Thema Internetzensur angehen, die fehleranfälligen Uploadfilter, denen täglich unzähliges wichtiges Material zum Opfer fällt, weil die Filter zum Beispiel nicht zuverlässig Aufklärung über Terrorismus von Terrorismus-Propaganda unterscheiden können. Und wir wollten auch das Thema Interoperabilität angehen, das heißt die Monopolstellung der Internet Giganten aufbrechen, indem eine plattformübergreifende Kommunikation ermöglicht werden sollte. Im Grunde genommen ist nichts davon im Endergebnis durchgesetzt worden.”
Darf ich fragen warum?
Breyer: “Wir sahen uns da gegenüber einem Block von Widerstand seitens der EU-Kommission und seitens der EU-Regierungen, und zwar unter massivem Einfluss von Lobbyismus. Einmal Lobbyismus seitens der Technologiekonzerne selbst – das ist ja jetzt rausgekommen, dass Google zum Beispiel massiv lobbyiert hat um eine Regulierung des Überwachungskapitalismus und der Überwachungswerbung zu verhindern. Es wurde aber auch von anderer Seite interveniert, von Rechteinhabern wurde zum Beispiel in letzter Minute ein Vorstoß unternommen, Suchmaschinen und Suchergebnisse zu zensieren, und offensichtlich stand man da unter starkem Einfluss. Und außerdem, wenn es um das Thema digitale Grundrechte geht, zum Beispiel Recht auf Verschlüsselung, Recht auf Anonymität, Verbot der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, da waren dann die Regierungsinteressen stärker. [Sie] wollen das Internet nutzen, um maximal die Menschen zu kontrollieren und zu überwachen. Diesen Widerstand hat das Europäische Parlament letztlich leider hingenommen. Die Alternative wäre gewesen, eine Einigung zu verweigern und weiter zu verhandeln.”
Sie haben an anderer Stelle erwähnt, dass der Trilog ein intransparenter Prozess ist. Im Hinblick auf diese Verhandlungen würden sie dem wieder zustimmen?
Breyer: “Diese Triloggespräche […] sind absolut intransparent, weil die Verhandlungen vertraulich geführt werden. Alle Sitzungen sind nichtöffentlich, alle Dokumente sind nichtöffentlich. Es gibt nicht einmal eine offizielle Liste der Termine, zu denen man miteinander spricht. Auch Tagesordnungen werden nicht veröffentlicht. Es gibt auch nicht mal mehr ein Verzeichnis von Dokumenten, die man ausgetauscht hat. Das führt dazu, dass es oft genug zu unbefriedigenden Lösungen kommt, das heißt, dass sich Industrie- und Regierungsinteressen gegen Bürgerinteressen durchsetzen, weil die Öffentlichkeit davon gar nichts erfährt. Zum anderen führt es teilweise auch dazu, dass überraschend noch ganz andere Elemente einfließen, die in dem öffentlichen Teil, also wo sich Parlament und Rat positionieren, in dem öffentlichen Mandat gar nicht vorgekommen sind. Zum Beispiel: Beim Digital Services Act wurde plötzlich noch ein sogenannter Notfallmechanismus, also dass man im Krisenfall besondere Befugnisse der EU-Kommission gibt, um gegen Plattformen vorzugehen – Stichwort Ukraine, Stichwort Desinformation – das wurde völlig überraschend in dieser intransparenten, nichtöffentlichen Phase hinzugefügt, zu dem Digital Services Act, wovon vorher gar keine Rede gewesen ist.”
Was Sie jetzt schildern, klingt ja so ein bisschen wie das Schreckgespenst, das Verschwörungstheorie-nahe Menschen haben vom Deep State. Würden sie so weit gehen, das so zu nennen?
Breyer: “Also ich habe ja selbst am Verhandlungstisch mit gesessen und ich kann schon sagen, dass die Vertreter des Parlaments ehrlich bemüht waren, ihre Ideen und Vorstellungen auch im Sinne der Bürger vorzubringen und einzubringen, an den Verhandlungstisch zu bringen. Aber die Durchsetzung ist natürlich massiv geschwächt, wenn man nicht öffentlich Unterstützung auf seiner Seite hat, wenn man nicht viel Berichterstattung auf seiner Seite hat, wenn die Nichtregierungsorganisationen wenig Wissen über die Prozesse haben. Dann fällt es uns schwerer, im Sinne der Bürger Ergebnisse auszuhandeln. Man muss sagen, in der Praxis ist es schon so, dass spezialisierte Nachrichtendienste, oft leider bezahlpflichtig, ab und zu Informationen veröffentlichen oder leaken, dass auch Nichtregierungsorganisationen genauso wie andere Lobbyisten auf inoffiziellen Kanälen mehr oder weniger gut über den Verhandlungsstand informiert sind und informiert werden. Es ist so eine inoffizielle Teil-Transparenz, die wirklich unbefriedigend ist, denn es geht hier um Gesetze, an die sich alle halten müssen.
Wenn Sie die Frage ansprechen des Bürgerwillens: das ist wirklich der wunde Punkt der Europäischen Union, dass sie als Elitenprojekt gestartet wurde, dass die Verträge in der Hand der EU-Regierungen liegen und in den allermeisten EU-Staaten die Bürger nichts mitzubestimmen haben. Selbst bei Vertragsänderung, geschweige denn, dass es Elemente der direkten Demokratie gäbe, wie das ja in Deutschland eigentlich alle Bundesländer inzwischen haben: Volksinitiativen, Volksentscheide, dass man Gesetze wieder kippen kann, dass man eigene Gesetze initiieren kann. All das fehlt völlig auf EU-Ebene und das entfremdet die EU von den Bürgern und macht es Populisten leicht, die die EU angreifen, die sie schwächen wollen oder diese sogar einen Austritt betreiben, wie zuletzt in Großbritannien.”
Sie würden also sagen, der Brexit und der Wahlerfolg von EU-Skeptikern wie Marine Le Pen begründet sich zum Teil auch in der Struktur der EU?
Breyer: “Die EU macht es diesen Anti-Europäern, diesen illiberalen, autoritären Kräften leicht, sie anzugreifen: als bürgerfern und Elfenbeinturm. Weil es eben tatsächlich zu wenige Mechanismen gibt, um den Bürgern auch Macht in die Hand zu geben. Das betrifft direkte Demokratie, aber man müsste zum Beispiel auch digitale Werkzeuge einsetzen, damit Bürgerinnen und Bürger EU-Gesetzentwürfe kommentieren oder Fragen dazu stellen könnten. Man könnte sich vorstellen, dass man regelmäßig auch Konferenzen organisiert, Bürgerkonferenzen zu besonders umstrittenen Themen, wo man sich mit Bürgerinnen und Bürgern darüber austauscht und ihre Fragen beantwortet.”
Dann kommen wir noch zu einem aktuelleren Punkt: Der DSA enthält jetzt einige Auflagen für die Plattformbetreiber, nicht für die von News-Seiten, sondern die von Plattformen mit User-generierten Inhalten. Inwiefern betrifft das dezentrale Angebote wie Mastodon, wenn ich jetzt zum Beispiel meinen eigenen Server aufbaue?
Breyer: “Die sind auch betroffen, es gibt nur vereinzelte Ausnahmen für kleine Angebote. Aber es gibt generell Regeln für alle Vermittlungsdienste, zum Beispiel diejenigen, die Haftung regeln, also sie sind normalerweise nicht haftbar, wenn jemand etwas Illegales auf ihrem Server postet, es sei denn sie bleiben untätig, wenn es ihnen gemeldet wurde. Es gibt auch Regeln, die für alle Online-Plattformen gelten auch für die Kleinen […] Ich denke, die Entwickler von Mastodon müssen ihre Software noch mal überarbeiten, damit man diesen Anforderungen gerecht werden kann. Dafür gibt es jetzt auch eine gewisse Zeit, die zur Verfügung steht.”
Herr Breyer, vielen Dank für Ihre Antworten.
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Photo by Patrick Breyer
Text: CC-BY-SA 3.0