Seit Menschengedenken prägen Maschinen die Entwicklungen der Menschheit mit. Spätestens seit den Erfahrungen des Lockdowns ist zudem deutlich geworden, dass eine neue Art von Maschinen angetrieben durch künstliche Intelligenz nun Teil des Alltags geworden ist. Ob Kommunikation, Konsum oder Unterhaltung diese Alltagshelfer sind überall. Aber wissen deren Nutzer überhaupt was diese Maschinen wirklich (mit ihnen) tun? Das Buch „Machine Habitus“ wirft einen neuen Blick auf eine alte Frage zur Beziehung von Mensch zu Maschine.
Alle Wege führen nach Rom aber jetzt mit Algorithmus
Zu Beginn seines Buches nimmt der Autor Massimo Airoldi seine Leserschaft mit auf eine Reise in die ewige Stadt, fern ab der großen Sehenswürdigkeiten und Touristenströme. Der Stadtteil Tor Pignattara hat wenig von dem Glanz der klassischen Postkartenmotive. Auf etwa zwei Quadratkilometern leben etwa 50.000 Menschen unterschiedlichster Ethnien auf engsten Raum zusammen. Die Heterogenität dieses Viertels ist hoch genau wie seine Arbeitslosigkeit. In dieser Umgebung wächst IAQOS auf. Allerdings IAQOS ist kein gewöhnlicher Bewohner, denn sein Name bedeutet übersetzt „Künstliche Intelligenz im Stadtteil mit Open Source“. Mithilfe dieser KI können die Einheimischen ihre Wünsche und Anliegen rund um die Entwicklungen des Stadtteils kommunizieren und mit diesem digitalen Bewohner austauschen. Langfristig auf besondere Weise „aufgewachsen“ sammelt IAQOS die verschiedenen Daten der Bewohner von Tor Pignattara, um schließlich selbst ein digitales Mitglied davon zu werden.
Was aber würde passieren, wenn IAQOS in einem wohlhabenderen Stadtteil mit einer ganz anderen Geschichte, Gesellschaft und Kultur aufgewachsenen wäre? Würde sich IAQOS gleich oder angesichts anderer Umstände anders „entwickeln“? Diesen Fragen zur Interaktion zwischen Mensch und Maschine widmet sich dieses Buch. Motiviert wird „Machine Habitus“ vor allem durch zwei Annahmen, welche Airoldi zu widerlegen versucht. Zum einen kritisiert der französische Soziologieprofessor, dass Maschinen und Technologie oft als Objekte außerhalb der Gesellschaft gesehen werden. Zum anderen stört den Autor die Behauptung, dass Algorithmen auf Basis von mathematischen Verfahren stets neutral seien. Zentrales Anliegen seiner theoretischen Überlegungen ist es ein Verständnis zu vermitteln, dass moderne lernende Maschinen nicht neutral sind, sondern mit ihren Entwicklern und Nutzern im Austausch stehen als gemeinsam deren Umwelt, Verhalten und Wahrnehmung reproduzieren und verändern.
Was wir mit Maschinen machen oder Maschinen mit uns
Eine Betrachtung der Beziehung zwischen Mensch und Maschine scheint zunächst nicht viel Neues zu bieten. Seit Menschengedenken haben sie diese genutzt, um ihre Ziele zu erreichen. Angefangen von der Entdeckung des Feuers bis hin zum Entzünden von Raketen, um ins Weltall zu fliegen haben sich diese Maschinen immer weiterentwickelt. Gleiches gilt auch für Algorithmen, welche bereits existiert haben, bevor es hierfür überhaupt ein Wort gegeben hat. Was allerdings neu ist, dass ist die Beziehung zwischen Algorithmen, Mensch und Maschine.
Wie sich die Menschheit weiterentwickelt hat, haben sich auch die Maschinen weiterentwickelt. Hierzu unterteilt der Autor die Geschichte in drei Epochen. Während der analogen Phase von der Antike bis etwa dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand Computer noch für Personen, welche Berechnung per Auftrag durchführten. Erste Ansätze mechanischer Rechenmaschinen unterstützen diese Arbeit, aber die Algorithmen dienten vor allem dazu, um bestimmte bereits vorgegebene Ziele zu erreichen. In der digitalen Phase von 1946 bis 19998 entstanden zunehmend leistungsfähigere Computer. Erste Ansätze von „Good-Old-Fashioned AI“ kamen auf. Basierend auf bestimmten logischen Bedingungen konnten diese Maschinen einfache kognitive Prozesse des Menschen abbilden. Hierbei folgten die Maschinen klaren vorgegebenen Regeln, wie beispielsweise im Schach. Zwar hat dieses Spiel viele Möglichkeiten, diese sind jedoch klar begrenzt und berechenbar. In der Phase der Plattformen, deren Beginn der Autor um 1998 verortet, änderte sich diese Beziehung jedoch. Ursprünglich gedacht als Aufbewahrungsstätte für Informationen änderte sich die Struktur des Internets grundlegend, als die Erfinder von Google Larry Page und Sergey Brin das PageRanking einführten. Von da an waren alle Seiten nicht mehr gleichberechtigt, sondern stehen nun in unterschiedlichen Verhältnissen. Manche Seiten erhalten ein höheres Ranking und damit mehr Aufmerksamkeit als andere Seiten. Kurz gesagt aus einem digitalen Aufbewahrungsort wurde ein Netzwerk. Quantitativ hat sich in dieser Epoche die Anzahl der Geräte stark erhöht, tragen heute doch die meisten ständig das Smartphone als Inbegriff des digitalen Zeitalters mit sich herum. Zugleich haben sich qualitativ die Möglichkeiten erhöht, was diese neuen Geräte leisten können. Anders als bei allen Phasen zuvor agieren die Maschinen nun zunehmend autonom, wobei Ziele und Zweck derselbigen vielfach undeutlich werden. Diese neue Generation verarbeitet selbstständig die unzähligen Daten, welche die Nutzer des Internets jeden Augenblick als Spuren ihrer Präsenz im digitalen Raum hinterlassen. Gleichzeitig agieren die Nutzer wiederum mit den Ergebnissen, welche diese Maschinen produzieren. In diesem Sinne reproduziert die Mensch-Maschine-Interaktion aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und soziale Zustände. Algorithmen, Maschinen und Menschen sind verbunden durch ein komplexes soziotechnologisches Netzwerk, das soziale und technische Prozesse miteinander verwebt.
Ein Wechselspiel zwischen Sozialisierung und Digitalisierung
Allerdings regen die Überlegungen des Soziologen dazu an, selbst darüber nachzudenken, worin die Grenzen bestehen zwischen Maschinen, die immer mächtiger werden und Menschen, welche diese zwar bedienen aber immer weniger verstehen können. Beide haben viele Gemeinsamkeiten wie das Beispiel aus Tor Pignattara zeigt. Sowohl Menschen als auch Maschinen müssen zunächst sozialisiert werden, um ihrer jeweiligen Rolle gerecht zu werden. Dies bedeutet die Regeln und Normen einer Gesellschaft zu erlernen, um als Mitglied innerhalb einer sozialen Gemeinschaft agieren zu können. Beim Menschen geschieht dies durch die Erziehung. Indem diese durch Bezugspersonen, das soziale Umfeld oder Institutionen wie die Schule erzogen werden, erhalten sie bestimmte Verfahren, um die Vielzahl der kulturellen Codes, welche die soziale Interaktion mit anderen Menschen produzieren zu verarbeiten. Abhängig davon, in welchen Umfeldern dieser Prozess erfolgt, können die Personen ganz andere Muster entwickeln, auf welche sie in bestimmten Situationen zurückgreifen können. Einen ähnlichen Habitus, wie ihn der Soziologe Pierre Bourdieu beschrieben hat, können auch Maschinen entwickeln. Diese lernen bestimmte kulturelle Codes, welche in maschinenlesbarer Form vorliegen, zu verarbeiten und zu strukturieren. Während Menschen jedoch durch Erfahrungen sozialisiert werden, geschieht dies bei Algorithmen durch die Eigenschaften welchen ihnen zugeschrieben werden. Allerdings sind Menschen immer durch ihre kulturellen Prägungen in gewisser Weise voreingenommen, weshalb diese Überlegungen danach fragen, warum das gleiche nicht auch für Algorithmen gelten könnten. Schließlich müssen diese auch erst „sozialisiert werden“ um ihre gesellschaftlichen Anforderungen erfüllen zu können.
Zentrales Argument des „Machine Habitus » ist es, Algorithmen nicht einfach nur als neutrale Maschinen, sondern als soziale Agenten zu begreifen, welche selbst gewisse Veränderungen herbeiführen können, somit eine gewisse Form von Macht ausüben können. Deutlich werden diese Überlegungen an Themen wie Filterblasen und Fakenews, oder der wachsenden Bedeutung von Bots, welche sich immer weniger von menschlichen Akteuren unterscheiden lassen. Ebenso wie Menschen, die sowohl als Individuum, als auch als Teil einer Gesellschaft agieren, sind Algorithmen soziale Agenten, welche in ein komplexes Netzwerk eingebunden sind. Jeder soziale Raum, sei dies die Gesellschaft oder soziale Netzwerke, ist eine Ansammlung von Beziehungen zwischen verschiedenen Positionen in der Gesellschaft. Diese Positionen werden durch das soziale Kapital bestimmt, sprich, die Möglichkeiten, welche sich für das Individuum ergeben, das über diese Verbindungen verfügt. Sowohl Menschen vergleichen ihre Position im sozialen Raum wie dies auch Maschinen tun. Beide unterscheiden sich lediglich darin, dass Menschen hierfür erlernte Muster nutzen, während Maschinen durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen die Beziehungen zwischen Menschen, Objekten und Informationen bestimmen. Allerdings liegt hierin der große Unterschied zwischen Menschen und den Algorithmen komplexer Maschinen darin begründet, dass menschliche Akteure ein Bewusstsein für die Zwänge und Einschränkungen haben, die ihr Umfeld ihnen auferlegt. Hierauf können menschliche Akteure emotional reagieren und versuchen diese Umstände zu verändern, während technische Akteure diesen keine normativen Bedeutungen zuschreiben.
Mensch und Maschine gegeneinander im Miteinander
Mit seiner Anregung eines „Machine Habitus“ möchte der Soziologieprofessor Massimo Airoldi vor allem dazu anregen, Algorithmen nicht mehr als black boxes, außerhalb der Gesellschaft zu sehen, sondern als zentrale Akteure im gesellschaftlichen Wandlungsprozess der digitalen Transformation zu begreifen. Hierzu bietet der Autor einige Ansätze für mögliche zukünftige Beziehungen zwischen den Algorithmen und deren menschlichen Nutzern. Zwar erhalten die Algorithmen durch deren Konstrukteure eine erste Sozialisierung. Allerdings erfolgt eine weitere Sozialisierung, indem diese in verschiedenen Kontexten eingesetzt werden. Ähnliches passiert auch in der menschlichen Entwicklung. Zwar erhält jeder eine gewisse Prägung durch die Kindheit, aber andere Kontexte wie etwa der Beruf führen zu einer zweiteren Sozialisierung. Egal ob Maschine oder Mensch, die zweite Sozialisierung bringt neue Muster hervor, die Beziehung von sich zu anderen Akteuren und dem Umfeld einschätzen zu können.
Ausblickend wird die Beziehung zwischen Menschen und Algorithmen als Maschinen vor allem durch zwei Faktoren bestimmt. Einerseits steht die Asymmetrie der Informationen, Je mehr die Algorithmen an Daten sammeln, desto besser können sie ihr Umfeld beschreiben, während Menschen immer größere Schwierigkeiten haben, die Funktionsweise der Algorithmen zu verstehen. Andererseits steht die Übereinstimmung der Ziele, welche der Algorithmus verfolgt und den Erwartungen, welche Menschen an deren Nutzung mitbringen. Hierbei können entweder Menschen den Habitus von Maschinen verändern oder aber Maschinen Menschen dazu anregen, ihre Verhalten zu verändern. Derart werden soziale Strukturen gleichsam reproduziert als auch grundlegend verändert je nach Beziehungsart.
Wer ist der Algorithmus?
Abschließend regt „Machine Habitus“ vor allem dazu an, selbst darüber nachzudenken, wie unser Alltagsleben zunehmend durch die Beziehung zu Algorithmen und Maschinen mitbestimmt wird, ohne dass wir es immer direkt merken. Allerdings wird auch deutlich, dass Maschinen nicht neutral sind, sondern die positiven, aber auch negativen Eigenschaften sowie Ungleichheiten der Gesellschaft reproduzieren. Jedoch anders als Maschinen können sich Menschen dessen bewusstwerden, denn als Ausblick gibt das Werk zu bedenken, dass wir am Ende als Menschen der eigentlich entscheidende Algorithmus sind, indem wir die Welt mit ihren vielen komplexen Zusammenhängen nach unseren Vorstellungen zu ordnen versuchen.
Text: CC-BY-SA 3.0