Vor einigen Jahren fragte politik-digital schon einmal, wie verschiedene Generationen Internet den digitalen Wandel erleben und entdecken. In Zeiten der Pandemie ist das Internet als Fenster in die virtuelle und reale Welt immer wichtiger geworden. Wie hat sich der digitale Blick darauf im Lockdown verändert? Dieser Beitrag prüft und fragt, ob es noch zeitgemäß ist, zwischen Digital Natives und Digital Immigrants im Netz zu unterscheiden.
Eine Technikfrage, viele Generationenfragen
Zur Jahrtausendwende prägte der US-amerikanische Lehrer Marc Prensky den Begriff der „Digital Natives“. Hierunter sind Mitglieder jener Generation zu verstehen, welche wie selbstverständlich mit digitalen Technologien wie Computern und Computerspielen, heute eher Smartphones und Sozialen Medien, aufwachsen. In Ausgabe 5 des Magazin “On the horizon” definierte Prensky 2002 Digital Natives als “‘native speakers’ of the digital language of computers, video games and the Internet”. Hingegen müssten “Digital Immigrants” diese Sprache erst erlernen und würden doch ihren besonderen Akzent nicht gänzlich verlieren können. Bis heute hält sich die Ansicht, dass junge Menschen qua Geburt in der Lage sein müssten, souverän mit digitalen Medien umgehen zu können.
Ältere Generationen gelten hingegen als weniger technikaffin, somit eher skeptisch im Umgang mit den neuen digitalen Medien. Amy Orben, Psychologin an der Cambridge University, sieht hierin ein bewährtes Muster. In ihrem Konzept des „Sisyphean Cycle of Technology“ beschreibt sie den wiederkehrenden Effekt, dass jede neue Technologie zunächst auf Ablehnung und Bedenken, vor allem durch ältere Generationen, stößt. Einige historische Beispiel verdeutlichen, wie sehr neue Technologien oft zunächst kritisch und sogar schädlich angesehen werden. Angesichts des digitalen Wandels wird heute kontrovers um die Folgen einer zunehmenden „Digitalen Demenz“ nach Manfred Spitzer diskutiert. Unter dem Begriff “Digitaler Demenz” warnt Spitzer davor, eine starke Nutzung digitaler Medien würde sich negative auf die Intelligenz von Kindern und Jugendlichen auswirken. Zum Vergleich: In den 1940er Jahren entfachten sich heftige Diskussionen um die gesundheitlichen Folgen von übermäßigem Radiokonsum bei Kindern und Jugendlichen, was heute im Rückblick unterhaltsam wirken mag. Andere Beispiele sind Kritik an aufkommender Lesebegeisterung im 17. und 18. Jahrhundert oder aber auch die Einführung der Schrift im antiken Griechenland. Bereits Platon warnte im Dialog des Phaidros davor, die Möglichkeiten der Schrift zu überschätzen. Dort bemängelte er: „Nicht also für die Erinnerung, sondern für das Erinnern hast du ein Mittel erfunden und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst.“
Digitalisierung (er-)lernen
Insbesondere die Möglichkeiten, aber auch die Notwendigkeit von Home-Office machen deutlich, wie unverzichtbar digitale Medien für unseren Alltag geworden sind. Allerdings ist ein kompetenter Umgang mit diesen Technologien nötig, um sich in der “neuen Welt” zurechtzufinden. Nicht immer bedeutet digital zugleich besser. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi fragt in seinem Werk „Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft“ danach, für welches gesellschaftliche Problem Digitalisierung eine Lösung darstellen könnte. Anhand dieser Frage offenbaren sich Ziel und Zweck der Digitalisierung, aber auch Zweifel an den daraus resultierenden Veränderungen. Damit ist Digitalisierung zunächst weniger eine technische als vor allem eine gesellschaftliche Frage, welche Ziel und Zweck bestimmt.
Ganz im Sinne des „Sisyphean Cycle of Technology” wäre eine einfache Reaktion darauf, eine verbesserte Technik zu entwickeln, welche selbst eine Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen im Umgang mit Technik finden könnte. Die Technik wird derart zur Lösung ihrer selbst erklärt. Die Folge wäre, dass kein kritischer Umgang zu Grenzen und Chancen digitaler Medien mehr gelernt werden müsse. Viel eher wären pädagogische Fragen zu technischen Fragen verkürzt. Die Technik würde somit bestimmen, was zu lernen sei, um als menschliche Nutzer souverän mit der Technologie umzugehen.
Aber wer bestimmt in diesem Zusammenhang was unter besser oder schlechter zu verstehen ist? Worin liegt der Unterschied zwischen Machine Learning und menschlichem Lernen? Betrachtet aus einer informationstechnischen Perspektive ist Lernen ein Prozess von optimierter Wahrscheinlichkeitsrechnung. „Lernen“ in diesem Zusammenhang ist lediglich eine Rückkopplung von Berechnungsprozessen. Bildung als emanzipatorisches Ziel der Herausbildung von selbstbewussten und selbstbestimmten Subjekten würde dadurch entfallen. Der Mensch als Bezugsgröße würde zu einem Algorithmus verkürzt, wie die Autoren Nemitz und Pfeffer in ihrem Buch „Prinzip Mensch“ anmahnen.
Aus Zugang wird Umgang
Diskursiv ist der Begriff Digital Natives sehr normativ aufgeladen. Er vermittelt die Vorstellung, dass jüngere Generationen qua Geburt in der Lage sein müssten, kompetent mit digitalen Medien umzugehen. Diese Betrachtung ist jedoch verkürzt, da ein regelmäßiger Zugang zu digitalen Medien noch keinen kompetenten Umgang mit diesen sicherstellt. Vielmehr muss diese Kompetenz in der aktiven Anwendung erlernt werden. Ein Kerngedanke der Pädagogik ist „Technology follows didactis“ festzuhalten. Zuerst werden die Lernziele definierte (didactics) und dann folgen die Überlegungen, welche Technik dazu beitragen könnte, diese zu erreichen (technology). Daraus wird ersichtlich, dass Digitalisierung nicht nur von der Technik aus, sondern auch bezogen auf die Menschen, mit ihren jeweiligen Anforderungen und Erwartungen, gedacht werden muss. Anders ausgedrückt, es sind die Lernenden, welche bestimmen, zu welchem Zweck der digitale Umgang erlernt werden soll.
Dies ist zu bedenken, da die Technik allein noch keine gute Lehre garantiert, wie aktuelle Beispiele des Homeschooling oder der Online-Lehre an Universitäten zeigen. In anderen Worten, die Qualität einer Vorlesung etwa bemisst sich nicht daran, ob sie online oder offline stattfindet, sondern wie diese didaktisch ausgestaltet ist. Es gilt abzuwägen, welche Medien für einen bestimmten Kontext am besten geeignet sind.
Ein Fenster mit vielen Perspektiven
Vor einiger Zeit befragte politik-digital verschiedene Generationen über das Internet als ihr Fenster zur Welt. Alle blicken durch diese digitalen Fenster und haben doch unterschiedliche Ausblicke. Die Unterscheidung zwischen Digital Natives, welche als Pioniere souverän die neue digitale Welt erforschen, und Digital Immigrants, welche diese Welt nur langsam betreten, greift angesichts der zunehmenden Durchdringungen der Digitalisierung zu kurz.
Laut den Erhebungen des Digitalindex der Initiative D21 sind 86% aller Deutschen regelmäßig online. Diese teilen sich wiederum auf in digitale Vorreiter*innen (44%), digital Mithaltende (38%) und digital Abseitsstehende (18%). Während insbesondere die Zahl der digitalen Vorreiter*innen zum Vorjahr um 7% gestiegen ist, ist jene der digital Abseitsstehenden um 3% zurückgegangen. Dabei zeigt sich, dass die Mediennutzung mit dem Alter abnimmt, zugleich aber mit höherer Bildung zunimmt. Zwar fühlen sich vermehrt Jugendliche sicher in der digitalen Welt, zunehmend entdecken aber auch Silver Surfer die Möglichkeiten digitaler Medien. Diese lassen sich vor allem in zwei Gruppen einteilen. Die Silver Surfer unterscheiden sich in ihrem Nutzungsverhalten nicht wesentlich vom Rest der Gesamtbevölkerung. Hingegen sind die Offliner jene, welche aufgrund von mangelndem Interesse sowie körperlichen und geistigen Einschränkungen diese Tools nicht nutzen können. Zugleich zeigen Untersuchungen der DIVSI U25-Studie aber auch, dass junge Menschen zunehmend skeptisch sind, in einer Welt zu leben, welche nur noch durch digitale Dienste und die Möglichkeiten von Onlinekommunikation bestimmt werden wird. Daran wird deutlich, dass digitale Kompetenz durch die kritische Anwendung oder den Verzicht auf die Medien bestimmt wird.
Digitalisierung weiterdenken
Zusammenfassend bietet die aktuelle Pandemiesituation ein einzigartiges Versuchsfeld, die vielen Möglichkeiten der Digitalisierung zu erforschen, sie zwingt gewissermaßen sogar dazu. Digitalisierung ist weniger als eine Technik, sondern vielmehr als eine Methode zu verstehen, die es immer wieder zu neu zu lernen, zu trainieren und kritisch zu reflektieren gilt. Deutlich ist hierbei geworden, dass digitale Kompetenz mehr als eine reine technische Anwendungskompetenz umfasst. Digitale Medien stellen weniger ein Werkzeug als vielmehr ein Denkzeug für kreative Ideen und für Kommunikation weltweit dar. Zugleich verschwimmen die Grenzen zwischen virtueller und realer Welt zunehmend. Es kommt daher darauf an, zu reflektieren, in welchen Kontexten digitale Medien eingesetzt werden.
Wie hat diese besondere Zeit den Blick auf die Zukunft in einer digitalen Welt verändert? Vielleicht ist deutlich geworden, dass Alter an sich kein Indikator (mehr) ist für einen souveränen Umgang mit Digitalisierung. Viel eher sind die verschiedenen Generationen der Digital Natives und der Digital Immigrants so heterogen und bunt wie die Welt, welche sie gemeinsam und jeweils mit einem besonderen eigenen Blick erkunden und zu verstehen lernen. Dennoch bietet das Konzept Digital Natives und Digital Immigrants eine philosophisch wertvolle Komponente, sich bewusst darüber zu werden, dass es eine Zeit ohne digitale Medien gab. Hieraus wird ersichtlich, dass digital nicht immer gleich besser bedeutet. Grenzen und Potentiale, Risiken und Chancen einer digitalen Zukunft zu entdecken ist Handlungsfeld und Herausforderung für alle Nutzer zugleich, oder wie es der Bildungsforscher Alfred Treml einmal formulierte: „Pädagogik ist immer die Vorbereitung und Inanspruchnahme von Zukunft.“
Text: CC-BY-SA 3.0