Zum Auftakt unserer neuen Interviewreihe „Digitale Debatte“ haben wir uns mit der Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär, getroffen.
Seit Anfang März ist Dorothee Bär Staatsministerin für Digitalisierung im Bundeskanzleramt und die Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung. 2017 wurde die Diplompolitologin als Direktkandidatin für die CSU in den Bundestag gewählt. Im Interview spricht sie über die Zusammenarbeit verschiedener digitalpolitischer Institutionen wie z.B. dem Digitalrat, ihre persönlichen Ziele für ein digitales Deutschland, aber auch über den „Digitalen Innovationsstau“ und die digitalen Herausforderungen in Deutschland.
politik-digital.de: Deutschland hat eine erste Staatsministerin für Digitalisierung. Warum hat man sich nicht für eine „lupenreine“ Digitalministerin entschieden?
Dorothee Bär: Losgelöst von meiner eigenen Person finde ich die Ernennung einer Digitalstaatsministerin eine sehr gute Lösung. Alleine ein Büro im Kanzleramt stellt schon einen Wert an sich dar, denn da gibt es keine Eifersüchteleien, das Kanzleramt ist quasi der neutrale Boden, die Uno, wo sich alle treffen können. Ich will aber nicht ausschließen, dass es in späteren Legislaturperioden auch mal ein Digitalministerium mit eigener Liegenschaft geben könnte. Wir müssen nun schauen, welche Strukturen sich bewähren und welche nicht.
Vermissen Sie Kompetenzen oder Handlungsbefugnisse? Können Sie sich durchsetzen oder sprechen Sie primär Empfehlungen aus?
Ich habe es mir schwieriger und komplizierter vorgestellt. Am Anfang hätte ich es als Erfolg gewertet, wenn ich gelegentlich in dem einen oder anderen Haus etwas hätte machen können. Das Gegenteil ist nun der Fall. Viele meiner Kollegen kommen auf mich zu und bitten mich um Unterstützung, sodass ich eigentlich gar nicht allen Wünschen gerecht werden kann. Damit hätte ich nie gerechnet.
Mit dem Ausschuss Digitale Agenda, der Daten-Ethik-Kommission und der Enquete-Kommission künstliche Intelligenz, dem Digitalrat, dem Digitalkabinett und dem Innovation Council gibt es viele neue Initiativen. Haben Sie einen Überblick, was die verschiedenen Ausschüsse und Kommissionen tatsächlich machen?
Das ist gar nicht so kompliziert. Den Ausschuss Digitale Agenda gab es schon in der letzten Legislaturperiode. Dieser ist kein Gremium der Bundesregierung, sondern ein ganz normaler Ausschuss im Deutschen Bundestag. Das Gleiche gilt für die Enquete-Kommission, die auch rein legislativ ist und mit der Bundesregierung nichts zu tun hat. Sie leistet aber auch einen wichtigen Beitrag in der Diskussion zum Umgang mit künstlicher Intelligenz. Das Thema ist auch der Bundesregierung wichtig; wir arbeiten an einer Strategie zur künstlichen Intelligenz, die wir beim Digital-Gipfel am 3. und 4. Dezember in Nürnberg vorstellen werden. Das von mir gegründete Innovation Council besteht aus Experten, die mich als Digital-Staatsministerin beraten sollen. Zeitgleich darf man nicht unterschlagen, dass ich ja nicht nur Digital-Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin bin, sondern auch die Beauftragte der Bundesregierung für Digitalisierung. Denn es hat schon noch mal einen anderen Stellenwert, wenn man für die Gesamtkoordination der Bundesregierung zuständig ist. Der Digitalrat ist ein externes Expertengremium, das für die Bundeskanzlerin zur Verfügung steht. Damit Digitalisierung Durchschlagskraft entfalten kann, muss sie direkt bei der Kanzlerin angesiedelt sein. Und ich bin extrem stolz darauf, dass ich den Digitalrat mit im Koalitionsvertrag verankert habe.
Wie ist die Besetzung des Digitalrats zustande gekommen? Welche Kriterien wurden dabei angelegt?
Für uns war die Mischung aus nationalen und internationalen Experten wichtig, damit wir international breit aufgestellt sind, gleichzeitig aber einen Bezug zu Deutschland behalten. Alle Mitglieder des Digitalrats sprechen deutsch, was nicht die höchste Priorität hatte. Wichtiger ist, dass die Mitglieder uns von außen beraten können und trotzdem Deutschland verstehen, beispielsweise das föderale System, und dass die Gesetzgebung daher manchmal anders läuft. Und wir haben nach Experten gesucht, die wirklich die Sache und nicht sich selbst in den Mittelpunkt stellen.
Warum hat es kein Vertreter einer NGO in den Digitalrat geschafft? Bürgerrechte sind ja ein wichtiges Thema im Internet, beispielsweise beim Datenschutz.
Jedes Mitglied des Digitalrats wurde als Individuum berufen. Es war ein wesentliches Kriterium, nicht nur Spezialist auf einem einzelnen Gebiet zu sein. Da sind auch die Interessen der Zivilgesellschaft vertreten.
Nach der Verkündung des Digitalrats hatte man das Gefühl, dass es größtenteils um die kurzen Hosen von Ijad Madisch ging. Kann man an den Reaktionen ablesen, wo Deutschland oder die Medienszene gerade steht?
Die einzige Frage, die unsere Boulevard-Medien bewegt hat, war „Darf man so zur Kanzlerin gehen?“ Und wenn Ijad Madisch einen Anzug angehabt hätte, wäre das bestimmt auch falsch gewesen. Es ist ja immer eine bigotte Diskussion. Als wir die 40 KI-Spezialisten hier hatten, gab es eine ähnliche Situation. Auf dem anschließenden Foto hatte Chris Boos ein T-Shirt an. Damals war die Reaktion darauf „Wenigstens einer hat ein T-Shirt an.“ Oder „Gott sei Dank, wenigstens einer kennt sich mit Internet aus.“ Umgekehrt bedeutet es wohl, dass jeder, der einen Anzug an hat, sich nicht mit Digitalisierung auskennt. Wenigstens konnte sich dieses Mal keiner über den Anteil der Frauen beschweren. Dafür gibt es dann halt andere Aufreger. Es ist schon eine etwas seltsame Diskussion.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen dem Digitalrat und dem Council? Wie schnell kann hier etwas umgesetzt werden?
Der Digitalrat trifft sich öfter autark. Treffen mit der Bundesregierung sind zwei Mal im Jahr geplant, wobei das nächste Treffen bereits im November stattfinden wird, vor unserer Klausurtagung des Digitalkabinetts. Auch hier ist mittlerweile jedes Ministerium dabei. Man spürt eine breite Unterstützung, aber auch einen echten Wettbewerb zwischen den Häusern darüber, wer hier federführend ist. Man hat jetzt verstanden, dass Digitalisierung eigentlich das coolste Thema ist. Das finde ich positiv.
Wenn diese Legislaturperiode in drei Jahren zu Ende ist, an welchen Parametern würden Sie eine erfolgreiche Arbeit des Digitalrats bewerten?
Wichtig ist, dass etwas umgesetzt wurde. Wir haben genug Bestandsaufnahmen und auch kein Erkenntnisdefizit. Aber wir haben ein starkes Umsetzungsdefizit. Bleiben wir beim Beispiel Ijad Madisch: Wenn analog zu seiner Plattform etwas Vergleichbares auch für den Bildungsbereich in Deutschland entstanden sein könnte, dann wäre das schon einmal ein ganz wichtiges Projekt. Wir stehen ja auch kurz vor dem Launch unseres Bürgerportals. Hier sollen Bürgerinnen und Bürger tatsächlich nach drei Jahren signifikante Verbesserungen spüren können.
Das Bürgerportal hat lange auf sich warten lassen. Irgendwie hat man das Gefühl, dass in Deutschland alles immer länger dauert als in anderen Ländern.
Das ist ein typisch deutsches Phänomen. Wir sind sehr perfektionistisch und warten lieber, bis wir 110 Prozent haben, anstatt mit 80 Prozent einfach mal loszulegen. Deswegen fangen wir jetzt mit unserem Bürgerportal im Oktober einfach mal an, auch wenn statt 16 Bundesländern nur vier und der Bund an Bord sind und statt der 575 Verwaltungsdienstleistungen nur fünf. Das Wichtige ist, loszulegen und dabei auch eine gewisse Fehlertoleranz zu haben.
Wie priorisieren Sie denn die vielen unterschiedlichen Themen und Ziele, die man wahrscheinlich nicht so einfach auf einen Nenner bringen kann.
Ein Vorteil ist, dass ich mehr oder weniger schon alle kannte und viele Berührungspunkte hatte. Unterschätzt hatte ich die Bürgeranfragen. Hier hatten wir in den ersten zwei bis drei Wochen ca. 3.000 E-Mails, die von „Endlich können wir mal jemanden konkret ansprechen“ über „Wann funktioniert mein Personalausweis“ oder „Was ist mit der elektronischen Gesundheitskarte“ bis zu Anfragen zum Breitbandausbau reichten.
Kann man denn Mega-Themen wie Arbeiten 4.0, Digitalisierung der Bildung, künstliche Intelligenz und den Breitbandausbau gegeneinander priorisieren? Wo möchten Sie nach drei Jahren sichtbare Ergebnisse erzielt haben?
Diese Themen sind natürlich allesamt wichtig und müssen parallel behandelt werden. Trotzdem ist das wichtigste Thema von allen aus meiner Sicht der Gesundheitsbereich. Über die Digitalisierung in der Medizin kann man Menschen intellektuell am ehesten abholen. Wenn ein Familienmitglied chronisch krank ist, hat man noch einmal einen ganz anderen Zugang und ist offener für den Umgang mit Daten. So könnte man beispielsweise eine weltweite Vernetzung etablieren, die neue Therapieansätze und Diagnosen ermöglicht. Und „längeres, selbstbestimmtes Leben im Alter“ ist ein Thema, das die meisten Menschen berührt.
Würde man tatsächlich weiter priorisieren, würde an Nummer zwei der Bildungsbereich kommen. Hier bringen 16 Bundesländer mit 16 Kultusministerien viele Herausforderungen mit sich, denn es hängt derzeit noch zu viel von der Leidenschaft und Begeisterung einzelner Schulleiterinnen oder einzelner Lehrer ab. Und dann ist natürlich „Mobilität der Zukunft“ ein großes Thema. Hier habe ich mich in letzten Jahren immer sehr stark auch auf technische Aspekte konzentriert, also beispielsweise „Airmobility“, „Connected“ und „Shared“. Und daneben interessiert mich im neuen Amt auch viel stärker die gesellschaftliche Komponente und damit verbunden die Fragen „Was macht es mit uns? Was bedeutet es für unser Zusammenleben? Oder für den familiären Zusammenhalt? Wie leben und arbeiten wir in der Zukunft? Gibt es einen Einfluss auf unsere Ethik oder Wertvorstellungen?“
Grundsätzlich steht bei uns der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung und des Handelns. Das ist eine klare Abgrenzung zu den USA, wo die Konzerne im Mittelpunkt stehen. Oder zu China, wo der Staat im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Das ist unser absolutes Alleinstellungsmerkmal in Deutschland und auch in Europa.
Wo steht Europa denn im internationalen Vergleich? Es wird immer vom „Digitalen Innovationsstau“ in Deutschland gesprochen. Jetzt versucht man, mit der KI-Strategie ein bisschen Hoffnung zu verbreiten. Besteht eine reale Chance?
„Dum spiro, spero!“ – es gibt immer Hoffnung! Aus meiner Sicht sind nicht alle Züge abgefahren. Ich würde das im Gesamtzusammenhang sehen. Künstliche Intelligenz ist eines der ersten drei Themen des Digitalkabinetts. Daneben stehen Blockchain und Arbeit 4.0. Wir haben große Unternehmen in Deutschland, die zum Beispiel Watson weiterentwickelt haben und damit täglich arbeiten.
Um einzuordnen, wo Deutschland insgesamt steht, muss man differenzieren. Wir haben so viele Bereiche, in denen wir wirklich herausragend sind: In der Sensorik sind wir Weltmarktführer. Wir sind Logistikweltmeister. Auch in der Medizin, Technik und bei KIs spielen wir – was die Grundlagenforschung betrifft – ganz vorne mit. Nur in der Monetarisierung sind wir nicht gut. Da existiert das alte MP3-Trauma.
Deswegen müssen wir in Bereichen wie Robotik einen anderen Weg einschlagen und da ist der Zug aus meiner Sicht noch nicht abgefahren. An den Universitäten entstehen viele tolle Unternehmen, die Weltmarktführerpotenzial haben könnten. Und auch in der Automobilindustrie kann uns keiner die 100-jährige Erfahrung nehmen. Das sieht man beispielsweise auch daran, dass das weltweite Hyperloop-Rennen jetzt zum dritten Mal in Folge von Studenten der TU München gewonnen wurde.
Ein visionärer Ausblick: Was soll in den kommenden zehn Jahren „Digitales Deutschland“ alles passieren? Was wünschen Sie sich? Wo sollten wir stehen?
Grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass jeder – und mit jeder meine ich tatsächlich jeden Bürger – der Digitalisierung erst mal unvoreingenommen begegnet und erkennt, dass es für ihn persönlich in den meisten Bereichen eine absolute Lebenserleichterung mit sich bringt. Und dass man die Chancen nutzt. Ich wünsche mir, dass unser Land dann auch enger miteinander vernetzt ist und dass auch eine größere Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse entsteht. Und dass es irrelevant ist, ob ich in der Stadt lebe oder auf dem Land, was vor dem Hintergrund der Überhitzung unser Großstädte eine echte Chance ist. Und dass wir uns von starren Gegebenheiten, die wir in Deutschland haben, verabschieden. Hierzu zählt beispielsweise das Arbeitszeitgesetz, das viel individueller gestaltet werden und eine wesentlich stärkere Selbstbestimmung und somit auch eine größere Dezentralität ermöglichen könnte. Das würde ich mir wünschen.
Das Gespräch führten Jan Thomas, Josefine Köhn-Haskins und Steffen Wenzel.
Die „Digitale Debatte“ ist eine neue Interviewreihe von politik-digital und dem Print- und Online-Magazin Berlin Valley, in der wir uns mit PolitikerInnen, ExpertInnen und VordenkerInnen über den digitalen Wandel unterhalten.
Titelbild: Franziska Turner
Text: CC-BY-SA 3.0