Mit Gebaerdensprache im Deutschen Historischen Museum“Teilhabe für Alle ist eine utopische Vorstellung” – diesen Satz hört man häufiger, wenn es um Inklusion geht. Doch wie sehen Betroffene das? Wir haben uns mit Wille Felix Zante, Aktivist und Autor bei der Deutschen Gehörlosenzeitung getroffen, um über barrierefreie Kommunikation zu reden und die Möglichkeiten der digitalen Inklusion zu konkretisieren.

Inklusion ist ein häufig verwendetes und gleichermaßen unscharfes Konzept – oft wird es widersprüchlich und unterschiedlich verwendet. Der Begriff ist ebenso vielfältig und wandelbar wie die Gruppen, denen eine gleichberechtigte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen ermöglicht werden soll. Hinzu kommen unter dem Stichwort digitale Inklusion neue Möglichkeiten, die durch die digitale Revolution entstanden sind. Doch ist es überhaupt sinnvoll, Inklusion und digitale Inklusion zu unterscheiden? Wann ist Inklusion “digital” und wann nicht? Welche Akteure müssen zusammenkommen, damit Inklusion erfolgreich umgesetzt werden kann? Ein Gespräch über digitale Inklusion und barrierefreie Kommunikation.

Gehörlosenzeitung – Sprachrohr der Gehörlosen-Community

Gebärdensprache als gemeinsamer Nenner: Seit 1950 publiziert die Zeitschrift unter dem heutigen Namen rund um das Thema Gehörlosenkultur. Ob Geschichten über gehörlose Menschen, politische Aktionen oder die Aktivitäten des Deutschen Gehörlosenbunds: die Zeitschrift berichtet über Themen, die zur Zeit in der Community wichtig sind. „Die Gehörlosenzeitung richtet sich an alle, die sich für Gebärdensprache interessieren“, erläutert Zante die Zielgruppe. „Ich denke, wir werden hauptsächlich von Gehörlosen gelesen. Aber auch von Hörenden, die zum Beispiel Gebärdensprachpädagogik oder Gebärdensprachdolmetschen studieren. Oder von Leuten, die durch ihr Umfeld davon betroffen sind.“ Seit Januar diesen Jahres gibt es die Zeitschrift nun auch als e-paper. Die Überlegung, die Zeitschrift teilweise als Übersetzung in Gebärdensprache in Videoform sowie Teile der Zeitschrift in vereinfachter Sprache anzubieten, wurden intern diskutiert, so Zante. „Ideal wäre es gewesen, das Ganze im kompletten Heftumfang umzusetzen, aber das ist nicht möglich mit unserem Budget, höchstens mit Unterstützung von außen“. Die Ablehnung der Video-Idee hatte mehr praktische Gründe: für eine Seite Text werden ganze 5 Minuten Video benötigt. „Meine Erfahrung ist, dass sich Leute das Video für drei Minuten angucken, länger nicht. Man kriegt dann nicht den gleichen Tiefgang, es ist ein komplett anderes Medium.“. Das schlüge sich auch produktionstechnisch in einem viel höherem Aufwand nieder.

Barrierefreiheit – Aufgabe der Gesellschaft oder der Politik?

Bei dem Begriff Barrierefreiheit denken viele Leute an bauliche Maßnahmen, zum Beispiel Rollstuhlrampen oder Ampelschaltanlagen für blinde Menschen, aber weniger an Gehörlose, die auf sprachliche Inklusion angewiesen sind. Fehlende Untertitel bei Videos, Sprachnachrichten über WhatsApp: digitale Medien sind für Gehörlose nicht per se inklusiv. Zante erinnert sich an Pager, die ersten digitale Kommunikationsmittel noch vor dem Handy. Dann das Internet: „Ich hab ’96 meinen ersten Internetzugang gehabt, da war ich 13 Jahre alt und das hat mir die Welt geöffnet.“ Das vermehrte Auftauchen von Audio-und Videoinhalten im Internet war dann wieder eine starke Ausgrenzung. „Das Internet ist aber nach wie vor sehr schriftlich“ – das hat Vor-und Nachteile, denn für einige Gehörlose stellt Schriftsprache eine Barriere dar. Doch auf Youtube gibt es immer mehr Videos in Gebärdensprache. Film und Fernsehen haben heutzutage Untertitel, auch wenn diese oftmals von schlechter Qualität sind. Seitdem Instagram auch Videos zulässt, ist die App auch ein visuelles Medium für Gehörlose geworden. Das Internet ist also Raum des Austauschs und der Kommunikation für Gehörlose, auch wenn nicht jeder Bereich gleich zugänglich für alle ist.

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Wille Felix Zante, Jahrgang 1984, studierte Gebärdensprache und Amerikanistik. Heute arbeitet er als freier Autor für die Deutsche Gehörlosenzeitung und bietet Studienhilfe, Beratung und Workshops rund um die Themen Gehörlosigkeit, Behinderung und Gebärdensprache an.

Bild von Hannes Wiedemann

Wie kann man dieser Ungleichheit entgegenwirken? Entweder die Gesellschaft für digitale Barrierefreiheit sensibilisieren, oder mehr Regulierung vom Staat einfordern? „Ich glaube, am effektivsten wäre eine gesetzliche Verpflichtung. Beziehungsweise eine ganz harte Vorschrift.“ Zante verweist auf die USA, wo der gesamte öffentliche Bereich barrierefrei sein muss. Eine Behörde organisiert dort einen Dolmetscher oder stellt eine Art barrierefreier Kommunikation bereit und übernimmt die Kosten. In Deutschland hingegen lastet es auf der Einzelperson. „In Deutschland ist es so, dass ich ganz unterschiedliche Kostenträger habe und es an mir als Betroffener hängen bleibt, mich darum zu kümmern.“ Den Dolmetscher beim Arzt übernimmt die Krankenkasse, aber gegebenenfalls muss noch ein Antrag bei einer Behörde oder einem Kostenträger gestellt werden; ein großer Aufwand, der an den Individuen hängen bleibt. „Also einfach mal spontan Ausweis abholen geht nicht… also das geht in Berlin sowieso nicht“, lacht Zante. „Aber es ist einfach nochmal schwieriger.“ Es ist deshalb nicht überraschend, dass Zante im Bereich der digitalen Barrierefreiheit klare und strikte gesetzliche Vorschriften fordert. Zwar verpflichtet die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung die Behörden zur digitalen Barrierefreiheit, doch gilt dies nicht für private Internetseiten. Ansonsten gibt es nur Richtlinien, doch diese allein reichen ohne gesellschaftliches Bewusstsein nicht aus.

Einen wesentlichen Grund für dieses mangelnde Bewusstsein sieht Zante in der Schule. „Das Schulsystem ist ja von Natur aus selektiv… es gibt auch Berührungsängste, die nur durch Begegnungen abgebaut werden können.“ Ein inklusiver Ansatz für Gehörlose sieht vor, dass Gehörlose an ‚reguläre‘ Schulen gehen und dort ein Dolmetscher bereitgestellt wird. Das ist ein hoher Kostenaufwand, doch könnte dies sehr effektiv sein: wenn Menschen mit Gebärdensprache in Kontakt kommen, kann das ein Anreiz sein, die Sprache zu lernen, für Schüler, sowohl auch für Lehrer.

Hinzu kommt ein Mangel an Dolmetschern. Auf einen Dolmetscher fallen heute fast 100 Gehörlose, mehr Ausbildungsstellen werden benötigt. Die Inklusion von Gehörlosen an Schulen und Universitäten kann nur gelingen, wenn sich auch das Handeln politischer Institutionen ändert. Dazu muss die entsprechende Infrastruktur vorhanden sein. Zum Beispiel die Videotelefonie, die gehörlosen Menschen die digitale Kommunikation durch Gebärdensprache ermöglicht. Auch Video-Dolmetschdienste existieren schon. Leider sind mobile Daten und Internet sehr teuer in Deutschland. „Jetzt gibt es die Möglichkeit. Da muss die Infrastruktur gelegt werden und die Kostenfrage geklärt werden“, fordert Zante. Auch hier zeigt sich: Ohne das entsprechende Handeln politischer Institutionen kann das inklusive Potenzial digitaler Medien nicht voll ausgeschöpft werden.

Neue (Digitale) Räume

Durch neue, digitale und nicht-digitale Inklusionskonzepte fällt auch der Raum der Gehörlosenschule als Ort der Begegnung für Gehörlose weg. Dies sehen einige sehr kritisch, Zante vertritt eine andere Position: es gehe auch darum, in der Mehrheitsgesellschaft zu leben und Strategien zu entwickeln, damit umzugehen. Gerade die Inklusion in ‚reguläre‘ Schulen ist ein wichtiger Aspekt. „Ich glaube, es wird eine sehr selbstbewusste Generation heranreifen in den nächsten 10 Jahren, die sich darüber bewusst sind, was sie sind, was sie brauchen.“ Ob das Digitale in diesem Prozess helfen könne? Sie können vieles vereinfachen, man kann mehr Leute erreichen, aber digitale Medien sind keine Zaubertricks, betont Zante. Allem geht ein Bewusstsein und die Bereitschaft voraus, dass man sich für Barrieren sensibilisiert und dann barrierefreie Kommunikationswege schafft. Das Digitale ist ein Tool hierfür, kein Garant. So könne eine WhatsApp Gruppe hilfreich sein, wenn sich alle in der Schriftsprache sicher und wohl fühlen und keine Sprachnachrichten verwendet werden. Allerdings ist ein Medium nicht per se inklusiv – es ist die Art und Weise, wie es angewandt wird. So fühlen sich viele Gehörlose in der Gebärdensprache wohler. Ähnliches gilt für die Zusammenführung von gehörlosen Schülern und hörenden Schülern: Inklusion beschreibt keine abstrakte Idee, sondern eine Praxis, die sowohl strukturell als auch zwischenmenschlich umgesetzt werden muss. Die Frage, ob gemeinschaftliches und kollektives Denken in einem Schulsystem möglich ist, das auf Selektion und Leistungsdenken aufbaut, ist eine andere. Klar ist aber auf jeden Fall, dass wenn Inklusion erfolgreich umgesetzt werden will, ein kollektiver Wandel stattfinden muss. Dieser muss in der Schule, aber auch in der gesamten Gesellschaft stattfinden.

Inklusion und digitale Medien verändern die Gehörlosen-Community genauso tiefgreifend wie die den hörenden Teil der Gesellschaft. Die Räume, die existieren, verändern sich, ebenso die Art der Kommunikation. So seien Zante zufolge rückläufige Zahlen beim Treffen im Gehörlosen-Clubheim zu beobachten, weil Leute nun über digitale Medien kommunizieren. „Dadurch geht auch der politische Aspekt ein bisschen verloren. Weil das Gehörlosen-Clubheim auch immer eine Interessenvertretung ist.“ Die Gehörlosen-Community organisiert sich im Rahmen der digitalen Revolution neu. Es ist Aufgabe von politischen Entscheidungsträgern, diese Organisation zu unterstützen und mit Gehörlosen neue inklusive Lösungsansätze zu entwickeln und sie mit neuen technischen Entwicklungen zu verbinden.

Im ersten Teil der Serie “Inklusion und das Digitale” haben wir uns gefragt, was zeitgemäße Teilhabe bedeutet. Im dritten Teil haben wir das PIKSL-Projekt vorgestellt.

Titelbild, ‘Mit Gebaerdensprache im Deutschen Historischen Museum‘ by Andi Weiland on gesellschaftsbilder.de, CC BY-NC 2.0

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