Über Crowdsourcing können weltweit Daten und Ideen gesammelt und geteilt werden. Viele digitale Initiativen beweisen, wie diese Synergien zu mehr Meinungs- und Informationsfreiheit führen. Die Open-Source-Software „Ushahidi“ wurde bereits in 90.000 Projekten eingesetzt und zeigt anhand von vielen Beispielen, wie sich normale Bürger online für mehr Transparenz und Sicherheit einsetzen und so zu digitalen Aktivisten werden.
Nach den arabischen Revolutionen stellte sich die Welt vor, wie soziale und digitale Medien in Zukunft Autokratien zu Demokratien umwandeln könnten. Etwa fünf Jahre später wissen wir, dass das so nicht stimmt. Eine digitalisierte Gesellschaft bedeutet zunächst, dass mehr Menschen auf Informationen zugreifen und sich selbst aktiver mitteilen können. In Ländern, wo traditionelle Medien von wenigen, einflussreichen Personen kontrolliert werden, ermöglichen digitale Wege alternative Informationskanäle, die jedoch auch von undemokratischen Regierungen für eigene Zwecke missbraucht werden können. Unzensiert Meinungen teilen, kritisieren und Proteste organisieren – ohne soziale Medien hätten die demokratischen Bestrebungen in Ländern wie Ägypten, Tunesien oder Jemen wohl trotzdem kaum ihre ganze Kraft entfalten können.
„Ushahidi“: digitales Krisenmanagement
Crowdsourcing ist ein Schlüsselbegriff für dieses neuen Informationszeitalter. Der Begriff steht für die Bündelung von Wissen und Ideen von vielen Menschen über das Internet. Es ist eine Art moderne Arbeitsteilung, die zunächst vor allem in der Wirtschaft genutzt wurde. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von gesellschaftlichen und sozialen Projekten, die von der sogenannten „Schwarmintelligenz“ profitieren.
Auf der Open-Source-Software „Ushahidi“ basieren viele Crowdsourcing-Plattformen. Die Software wurde wegen der blutigen Auseinandersetzungen nach den kenianischen Präsidentschaftswahlen 2007 ins Leben gerufen, bei denen etwa 1.500 Menschen ums Leben kamen. Per E-Mail und SMS konnten Augenzeugen melden, wo gerade Gewalt stattfand.
Die Meldungen wurden zunächst von Mitarbeitern verifiziert, meist in Kooperation mit lokalen Journalisten und NGOs, und anschließend in einer Karte bei Google Maps eingefügt und für jeden sichtbar gemacht. Das Ziel: mehr Transparenz und Sicherheit. Mehr als 45.000 Kenianer nutzen die Software, um Gefahrenzonen zu melden.
Spätestens seit dem Einsatz während des Erdbebens in Haiti in 2010 ist „Ushahidi“ international bekannt. Die Software ist kostenfrei, wurde inzwischen in etwa 90.000 Projekten weltweit verwendet und erreichte mit 6.5 Millionen Beiträgen etwa 20 Millionen Menschen. Das sogenannte „Mapping“ ist ein einfaches Werkzeug mit großer Wirkung: Vorfälle oder Missstände, die oft im Nichts verlaufen würden, werden dokumentiert, kartographiert und veröffentlicht. Unter anderem wurden nach dem Erbeben in Japan 2011 auf einer Karte Kriseninformationen veranschaulicht und Hilfe koordiniert sowie bei den Wahlen 2015 in Nigeria Augenzeugenberichte zu Wahlbetrug erfasst.
Drei Initiativen für mehr Meinungs- und Informationsfreiheit
In einer im April veröffentlichten Studie der Deutschen Welle (DW) Akademie zum Thema „Advancing Freedom of Expression“ werden 16 Initiativen vorgestellt, die digitale Technologien benutzen, um Meinungs- und Informationsfreiheit zu verbessern. Viele dieser Initiativen basieren auf Crowdsourcing und nutzen die Software Ushahidi. Sie beweisen, dass digitaler Aktivismus zu mehr Transparenz, öffentlicher Debatte und Beteiligung führen kann.
Eine der Initiativen ist „Follow the Money“ aus Nigeria. Seit 2012 nutzt sie datenjournalistische Formate, um Hilfsgelder zu verfolgen und Korruption zu bekämpfen. Um sicher zu gehen, dass Hilfsgelder von der Regierung vergeben und ihr Ziel erreichen, arbeitet „Follow the Money“ auf digitalen und traditionellen Wegen. Im engen Kontakt mit Gemeinden informiert sie die ländliche Bevölkerung über versprochene Gelder und recherchiert über deren Einsatz. Die Ergebnisse der Recherchen – Interviews, Fotos und kurze Videos – werden direkt auf die „Follow the Money“ Website gestellt und anschließend in sozialen Medien geteilt. Seit ihrer Gründung konnte die Initiative in vielen Orten Nigerias dafür sorgen, dass Hilfsgelder dort ankommen, wo sie dringend benötigt werden. Einer der größten Erfolge gelang nach der schweren Bleivergiftung im Staat Zamfara im Norden Nigerias in 2010, wo „Follow the Money“ sicherstellte, dass das versprochene Budget von umgerechnet 2.65 Millionen US-Dollar für die Säuberung der Umwelt und Gesundheitsversorgung von Kindern eingesetzt wurde.
Für mehr Transparenz und Gerechtigkeit im Gesundheitssystem setzt sich die Initiative „Mera Swasthya Meri Aawaz“ (My Health My Voice) in Indien ein. Im Staat Uttar Pradesh im Norden Indiens müssen Frauen in Entbindungskliniken oft Gebühren für eine Behandlung zahlen, obwohl diese laut Gesetz kostenlos ist. Über eine kostenlose Handynummer können Betroffene ihren Fall anonym melden. Das interaktive Sprachausgabesystem ist direkt mit Ushahidi verbunden – so werden die Fälle der Frauen direkt auf einer Karte sichtbar gemacht. Eine Zeitleiste und Karte visualisiert, wo und für welchen Service nach wie viel Geld gefragt wurde. Diese Informationen dienen nicht nur den Frauen selbst als Hilfe gegen Abzocke in der Klinik, sondern werden als Kontrollinstanz von Gemeindeorganisationen, Frauenverbänden und Regierungsbeamten wahrgenommen. Illegale Geldforderungen in der Region sind seit der Gründung zurückgegangen.
Ein letztes Beispiel, die „HarrasMap“ in Ägypten, zeigt seit 2010, wie Online-Aktivismus gegen sexuelle Belästigung und Gewalt vorgeht. Via E-Mail, SMS oder Twitter können Menschen direkt melden, wo es zu einer sexuellen Belästigung oder einem Übergriff gekommen ist. Die Meldungen sind anonymisiert und werden direkt auf einer Karte markiert. Neben digitalem Engagement lebt die Initiative von seinen über 1.500 Freiwilligen, die auf den Straßen Ägyptens für mehr Bewusstsein gegen sexuelle Übergriffe eintreten. Mit der „HarassMap“ wird so ein praktisches Werkzeug geschaffen, sogenannte „Safe Areas“ aufzuzeichnen. Allerdings geht es den Initiatoren um mehr: als gesellschaftliches Kollektiv ein Zeichen gegen sexuelle Gewalt setzen und somit soziale und legale Konsequenzen von Belästigung bewirken. Während im ersten Jahr noch 42 Meldungen pro Monat eingingen, waren es zwischen 2014 und 2015 nur noch 50 Meldungen pro halbes Jahr.
Digitale Wege für mehr Aktivismus?
Drei Initiativen, die gegen Korruption und Gewalt kämpfen. Drei Beispiele, wie normale Bürger zu digitalen Aktivisten werden können. Die Initiatoren haben Wege gefunden, mit lokalen Herausforderungen umzugehen. Zwar boomt die Zahl von Handy-Nutzern im globalen Süden, jedoch bleiben Internetzugänge rar. Da in Nigeria nur 15% der Bevölkerung Internetzugang haben, half sich „Follow the Money“ mit einem Radiosender und gedruckten Materialien in lokale Sprachen, um mehr Menschen mit ihren Informationen zu erreichen.
Sowohl „Follow the Money“ als auch „HarassMap“ gehen direkt auf Menschen auf der Straße zu und sensibilisieren sie für Themen wie Korruption und sexuelle Gewalt. „Mera Swasthya Meri Aawaz“ berücksichtigt die hohe Zahl an Analphabeten unter Frauen und arbeitet mit einem interaktiven Sprachausgabesystem, bei dem die Anrufer weder lesen noch schreiben können müssen.
Es gibt viele Dinge, die digital einfacher funktionieren: die Vernetzung von Menschen, das Teilen und Veranschaulichen von Informationen oder das Erreichen eines internationalen Publikums. Trotzdem kämpfen viele Initiativen mit ähnlichen Problemen: es braucht ausreichend mobile Geräte vor Ort, die Menschen müssen von dem Projekt wissen und eine Motivation haben, den Service langfristig zu nutzen. Für den Benutzer ist es wichtig, dass Informationen schnell und vereinfacht abrufbar sind, trotzdem müssen Meldungen sorgsam und besonnen auf Richtigkeit überprüft werden. Ein Thema bleibt auch die Reichweite der Initiativen. Der Durchschnittsnutzer der Angebote ist laut Deutsche Welle zwischen 15 und 35 Jahren, männlich und lebt in der Stadt.
Fazit: Reichweite vergrößern
Crowdsourcing ist das Inbild von modernem Informationsmanagement. Viele Stimmen und Meldungen fügen sich online zu einem großen Informationspool zusammen. In Krisen- und Katastrophensituation kann das „Mapping“ von Gefahrenzonen viele Leben retten. Andere Initiativen bekämpfen so ein korruptes System, in dem sie mit gesammeltem Wissen mehr Transparenz und Druck auf ihre Regierungen erzeugen. Die hohe Zahl von Menschen ohne Internetzugang zeigt jedoch auch, dass es weiterhin traditionelle Wege braucht, um Menschen zu informieren und mobilisieren. Das Informationspotenzial dieser Initiativen ist also enorm, jetzt braucht es Ideen, um mehr Menschen den Zugang zu ihnen zu ermöglichen.
Titelbild: Ushahidi 2012 Annual Meetup von Erik (HASH) Hersman via flickr, licenced CC BY 2.0