Am Mittwoch, 5. April, war Christian
Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts
Niedersachsen e.V.
von 13.00 bis 14.00 Uhr zu Gast im tagesschau-Chat.
Er beantwortete Fragen zur Gewalt an Schulen und den Problemen der
Integration und den Auswirkungen des Medienkonsums.

Moderator: Gast im tagesschau-Chat
ist heute Christian Pfeiffer. Er leitet das Kriminologische Forschungsinstitut
in Niedersachsen (KFN) und hat sich intensiv mit dem Thema Jugendkriminalität
und dem Problem der Integration jugendlicher Migranten beschäftigt.
Herr Pfeiffer chattet mit uns aus den Räumlichkeiten des KFN
in Hannover. Können wir beginnen?

Christian Pfeiffer: Jederzeit.

Brian Molko: Guten Tag, Herr Prof. Pfeiffer. Die
Hauptschule abschaffen, damit es keine Gewalt dort mehr gibt, klingt
für mich wie die Arbeit abschaffen, damit es keine Arbeitslosen
mehr gibt. Meinen Sie das ernsthaft?

Christian Pfeiffer: Ja, in der Hauptschule haben
wir zumindest in Norddeutschland eine kontraproduktive Zusammenballung
von Randgruppenkindern. Die innerfamiliäre Gewalt ist hoch,
die Armut der Elternhäuser ausgeprägt. Jeder Zweite hat
Migrations-Hintergrund mit der Folge der oft schwächeren Sprachkenntnisse.
Aus dieser Kombination ergibt sich an vielen Hauptschulen ein Klima
der Leistungsverweigerung, des Macho-Gehabes und der Gewalt. Wenn
wir …(Liebe Leser von tagesschau.de: An dieser Stelle des
Chats hat es leider ein technisches Problem gegeben. Deshalb ist
das Chatprotokoll hier nicht vollständig. Dafür bitten
wir um Entschuldigung.) …Mehrheit der Schüler leistungsmotiviert.
Der Anteil der Mädchen wäre deutlich höher und die
Schule hätte nicht das Stigma der "Verliererschule".
In Thüringen läuft das richtig gut.

dieter: Durch die Abschaffung der Hauptschulen
wird sich die Qualität der anderen weiterführenden Schulen
deutlich verschlechtern. Oder wollen Sie bestimmte schwache Klassen
schaffen?

Christian Pfeiffer: Das Gegenteil ist richtig,
wenn Sie den internationalen Vergleich der Pisa-Studie anschauen.
Länder mit Gesamtschulen wie etwa Finnland, Kanada oder Neuseeland
schneiden dort hervorragend ab, obwohl es die bei uns übliche
Trennung nach der vierten Klasse gar nicht gibt. Noch entscheidender
als die Zusammenführung von Haupt- und Realschule wäre
freilich die Einrichtung der Ganztagschule. Natürlich dann
eine, die nicht eine Kinderbewahranstalt mit Suppenküche wäre,
sondern nach Mittag nur ein Motto kennt: Lust auf Leben wecken durch
Sport, Kultur, soziales Lernen. Gegenwärtig ist der Nachmittag
von männlichen Hauptschülern durch vier bis fünf
Stunden Computerspielen und Fernsehen geprägt.

grobi: Sehr geehrter Herr Professor Pfeiffer,
steuern wir amerikanischen Verhältnissen entgegen mit schuleigenen
Sicherheitsdiensten, um Waffen aus den Schulen fernzuhalten und
um Lehrer zu schützen?

Christian Pfeiffer: Nein, zum Glück nicht.
auch wenn es die Öffentlichkeit nicht glauben will: Seit 1997
geht die Gewalt an deutschen Schulen zurück. Die Versicherungen,
denen Verletzungen auf Schulhöfen und Schulwegen, die ärztlichen
Einsatz nötig machten, immer gemeldet werden, signalisieren
klar: Pro tausend Kinder hatten wir seit 1997 einen Rückgang
solcher schweren "Raufunfälle" um 27%. Unsere wiederholten
Dunkelfeldstudien bestätigen das. Aber gleichzeitig sehen wir
deutlich, dass es an Hauptschulen im Vergleich zu Gymnasien viermal
so viel Intensivtäter der Gewalt gibt und im Vergleich zu Realschulen
doppelt so viel.

vechta: Herr Pfeiffer, würden Sie die Hauptschule
flächendeckend als ‘Verliererschule ‘ kennzeichnen oder würden
Sie die Hauptschule nur dort, wo sie große Probleme bereitet
– besonders in städtischen Ballungsräumen – abschaffen?

Christian Pfeiffer: Ob sie eine "Verliererschule"
ist, entscheidet der Arbeitsmarkt. In Norddeutschland haben wir
leider inzwischen generell das Problem, dass Hauptschüler in
der Konkurrenz mit Realschülern und Abiturienten bei Lehrstellenbewerbungen
meist den Kürzeren ziehen. Ich gebe zu, in den Städten
ist diese Situation noch schlimmer als auf dem Land. Aber es gibt
nun einmal die Abstimmung mit den Füßen. Bundesweit nutzen
nur noch 15 Prozent der deutschen Familien die Hauptschule. Nur
im Süden ist das anders, weil dort die Laufbahnempfehlung der
Grundschule bindend ist.

PlusBildung: Hallo. Was haben Sie vom kriminologischen
Institut eigentlich mit Bildung zu tun? Mir fehlt da die Verbindung.

Christian Pfeiffer: Wir führen zurzeit die
europaweit wohl größte Untersuchung zu der Frage durch,
wie sich extensiver Medienkonsum auf Schulleistungen, Persönlichkeitsentwicklung
und Gewaltverhalten von Kindern und Jugendlichen auswirkt. Insgesamt
haben bis jetzt circa 30.000 Kinder und Jugendliche unseren Fragebogen
ausgefüllt. Zwangsläufig ergeben sich daraus auch Erkenntnisse
über die Schulen und die Bildungspolitik der Länder.

Zeus: Gibt es Unterschiede bei gewaltbereiten
Jugendlichen ausländischer Herkunft und gewaltbereiten Jugendlichen
deutscher Herkunft? Welche Rolle haben dabei Kinder von EU-Bürgern,
die ja auch Ausländer sind?

Christian Pfeiffer: Kinder und Jugendliche mit
türkischem, jugoslawischen oder russischem Familienhintergrund
begehen nach eigenen Angaben weit häufiger Gewalttaten, als
etwa einheimische Deutsche oder Kinder aus holländischen, englischen
oder französischen Familien, die in Deutschland leben. Die
Gründe für die ethnischen Unterschiede im Gewaltverhalten
sind vielfältig: So fängt es schon damit an, dass im Alter
von 10 die Migrantenkinder bereits zu 44% über die eigene Spielkonsole
und zu gut der Hälfte über den eigenen Fernseher verfügen.
Bei den Deutschen sind es "nur" 22 Prozent bzw. 32 Prozent.
Je mehr aber die Kinder Zeit mit Fernsehen und hier insbesondere
den gewaltorientierten Inhalten verbringen, umso schlechter fallen
ihre Schulleistungen aus. Ein zweiter Faktor ist die bei den Migrantenfamilien
doppelt so häufig anzutreffende Belastung durch Armut (Eltern
arbeitslos oder Sozialhilfeempfänger). Ein dritter Faktor ist
die in Migrantenfamilien weit höhere innerfamiliäre Gewalt.
Letztere führt wiederum bei den Jungen zu einer starken Übernahme
der vom Vater vorgelebten Macho-Kultur. Wenn man das unterbrechen
will, fängt man am besten im Kindergarten an. Wenn der Mehmet
mit Max und Moritz im Sandkasten spielt, so die deutsche Sprache
lernt und Freundschaften schließt, läuft es gut. Wenn
er dagegen gar keinen Kindergarten besucht oder einen, wo er nur
mit Mustafa und Igor zusammentrifft, dann bleibt er in seiner isolierten,
getrennten Welt und sein Lebensweg ist weniger chancenreich.

Moderator: Sind die gewalttätigen Schüler
eigentlich eher Täter oder Opfer?

Christian Pfeiffer: Türkische Jugendliche
als Beispiel sind im Alter von 15 nur zu 8,3 Prozent als Opfer in
Erscheinung getreten. Die Opfer wiederum benannten sie aber zu 35
Prozent als Täter. Der Anteil der türkischen Neuntklässler
liegt bei 8,7 Prozent. Sie sind also
bei den Tätern extrem überrepräsentiert und das im
Übrigen nicht nur aus der Sicht der Opfer, sondern auch nach
eigenen Angaben. Aber dies gilt eben nicht überall. In Oldenburg
beispielsweise, weisen Türken eine nur halb so hohe Gewaltrate
auf wie in Dortmund. Aber in Oldenburg sind sie von Beginn an sozial
besser integriert. 90 Prozent der zehnjährigen türkischen
Jungen gaben beispielsweise an, dass sie von deutschen Kindern zum
Geburtstag eingeladen sind. In Dortmund waren es nur 29 Prozent.

CDUwähler: Was halten sie von folgendem Vorschlag:
Die Hauptschulen bereiten auf das Handwerk vor, die Realschulen
auf Angestelltenberufe und Gymnasien auf eine akademische Ausbildung.

Christian Pfeiffer: Das lässt sich auf keine
Fall von oben steuern. Das Handwerk würde sich im Übrigen
beklagen, wenn ihm die Realschüler und die Abiturienten nicht
mehr zur Verfügung stehen. Angesichts der großen Leistungsdefizite,
die viele Hauptschüler nun einmal aufweisen, bleibt nur der
Weg, letztere besser auszubilden. Und damit sind wir wieder beim
Ausgangspunkt. Das hat zumindest in Norddeutschland nur geringe
Chancen, angesichts der aktuellen Zusammensetzung der Hauptschüler.

bastarto: Hallo Herr Pfeiffer. Kann es sein, dass
die Strafen für Gewalttaten nicht hoch genug sind? Was halten
sie davon, Jugendlichen mit Abschiebung zu drohen und das dann natürlich
auch durchzuführen?

Moderator: Die Abschiebung setzt voraus, dass
der Gewalttäter keinen deutschen Pass hat. Unsere Daten zeigen
aber einen deutlichen Trend. Ein jedes Jahr wachsender Anteil der
jungen Migranten hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Im Übrigen
fallen die Strafen in Deutschland bei Gewalttaten keineswegs zu
milde aus. Und die Abschreckung durch die Justiz läuft im Übrigen
primär über das Risiko des Erwischtwerdens durch die Polizei.
Das aber hat sich ohnehin in den letzten Jahren ständig erhöht.
Wir haben die beste Polizei, die es in Deutschland je gab. Auch
das ist ein Grund dafür, dass die Jugendgewalt insgesamt betrachtet
nicht mehr ansteigt. Zunehmende Zahlen bei Körperverletzungsdelikten
sind Ausdruck davon, dass die jugendlichen Opfer erfreulicherweise
immer häufiger den Mut haben, die Täter anzuzeigen. Kompliment
an die Polizei, die hier an den Schulen erfolgreich vertrauensbildend
gewirkt hat.

Peter Lustig: Warum geben sie hauptsächlich
den PC-Spielen Schuld an den Vorfällen in Berlin?

Christian Pfeiffer: Das habe ich nicht getan.
Es ist ein Bündel von Ursachen, was die Situation an der Rütli-Schule
herbeigeführt hat: Die Zusammenballung von Problemkindern,
die schlechten Perspektiven, die Absolventen dieser Schule auf dem
Arbeitsmarkt haben, der öde, von Medienkonsum dominierte Nachmittag
dieser Schüler, die familiär mitbedingte Macho-Kultur,
die an der Schule das Unterrichten erheblich erschwert hat. Das
Aufwachsen der Jugendlichen in getrennten Lebenswelten.

Borges: Finden sie es nicht etwas gewagt, einen
Kausalzusammenhang zwischen exzessivem Videospielen und Gewalt-
bzw. Kriminalitätsbereitschaft zu ziehen? Sollte man nicht
viel mehr ein medienkompetentes Einfinden in ein zukünftig
vollkommen digitalisiertes Lebensumfeld gerade über den Konsum
digitaler Medien gezielt fördern?

Christian Pfeiffer: Unsere Forschungsbefunde sind
nun einmal eindeutig. Selbst wenn wir alle Faktoren, die sonst Gewalt
fördern, kontrollieren, also beispielsweise deutsche männliche
Jugendliche nehmen, die aus einem Elternhaus ohne Arbeitslosigkeit
und Armut kommen, und eine Realschule oder ein Gymnasium besuchen,
dann zeigt sich klar: Wer oft Computerspiele spielt, die erst ab
18 freigegeben sind, hat zum einen deutlich schlechtere Schulnoten
im Vergleich zu denen, die nie solche Spiele konsumieren, und zum
zweiten ist der regelmäßige Spieler solcher Gewaltexzesse
im Vergleich zu der Gegengruppe mehr als doppelt so oft als Gewalttäter
aktiv.

ron1711: Wie kommt man darauf, dass in der Hauptschule
die Gewalt eskaliert, während alle Morde und grausamen Verbrechen
der letzten Jahre in weiterführenden Schulen waren? Wird hier
nicht mal wieder das schwächste Glied populistisch genutzt?

Christian Pfeiffer: Ich stimme hier Ihrer Einschätzung
nicht zu. Aus dem einen Fall von Erfurt können Sie keine generelle
These ableiten. Unsere Befragung zeigt auf der Basis von 17.000
Neuntklässlern eindeutig, dass wir an Hauptschulen vier mal
häufiger Intensivtäter der Gewalt haben, als an Gymnasien
und doppelt so viele wie an Realschulen.

Burgund: Alle reden über die Schüler,
aber niemand scheint mit ihnen zu reden. Haben Sie mal den direkten
Kontakt zu Hauptschülern gesucht? Wenn ja, was haben diese
Ihnen über ihre Wünsche erzählt?

Christian Pfeiffer: Ich habe regelmäßig
direkten Kontakt zu Hauptschülern. Erst gestern hatte ich die
Chance in Waldshut (Baden-Württemberg) vor über 200 Hauptschülern
unsere Forschungsergebnisse zu Gewalt, aber auch zu den Integrationschancen
von jungen Migranten darzustellen. Wer sich hierüber ausführlich
informieren will, kann das im Übrigen auf unserer Homepage
tun: www.kfn.de. Ein Thesenpapier mit elf Punkten zu Integration
findet sich dann gleich auf meiner Seite. Aber zurück zu Ihnen:
Die Hauptschüler haben die ganz normalen Wünsche von allen
Jugendlichen. Sie wollen einen guten Job, später eine Familie
gründen und anständig leben. Aber sie sind frustriert
darüber, dass der Arbeitsmarkt ihnen wenige Chancen gibt und
dass die Realschüler ihnen die besten Plätze wegnehmen.
Deutlich ist spürbar: Sie haben Angst vor dem, was nach der
Schule auf sie zukommt und flüchten sich in die Scheinwelt
der Medien.

Charly: Ist der Beruf Hauptschullehrer in Brennpunkten
überhaupt noch zumutbar?

Christian Pfeiffer: Ich habe großen Respekt
vor den Lehrern, die sich diesen, bestimmt anstrengenden Job zumuten.
Aber zum Glück ist es ja an den meisten Hauptschulen nicht
so wie an der Rütli-Schule. Vor allem in ländlichen Regionen
und in Süddeutschland sind die Verhältnisse durchaus noch
gut steuerbar. Schwierig ist die Situation in norddeutschen Großstädten.

Renate Krenz: Welche Bedeutung hat die Tatsache,
dass in Kindergärten und Grundschulen vorwiegend weibliche
Fachkräfte arbeiten?

Christian Pfeiffer: Das war doch auch schon in
den 60er und 70er Jahren weitgehend so. Viel problematischer ist
für die Jungen, dass sich immer mehr Väter aus dem Staub
machen und dass da zu Hause dann die Identifikationsfigur fehlt.
Auch hier bieten sich Ganztagsschulen als konstruktive Antwort,
wenn man an den Nachmittagen über Sporttrainer, Theaterlehrer
und Sozialarbeiter auch viele männliche Bezugspersonen einschleusen
könnte.

dschungel: Herr Prof. Pfeiffer, wie beurteilen
sie die Diskussion der vergangenen Tage? Aus Problemschulen werden
schnell Ausländerschulen. Daraus ergibt sich, wenn man die
Springerpresse verfolgt, eine latente Ausländerfeindlichkeit
– in Schlagzeilen und in der öffentlichen Meinung. Eine Frage,
die sich daran anschließt: Welcher Weg sollte derzeit als
erster beschritten werden, um nicht mit jeder Diskussion gleichzeitig
auch zu diskriminieren?

Christian Pfeiffer: Wir sollten verstärkt
nach solchen Ausländern Ausschau halten, die man als "Perlen
der Integration" bezeichnen könnte. Es gibt doch sehr
viele, die mit beiden Beinen in unserer Gesellschaft gelandet sind
und respektable Berufe ausüben. Als Justizminister Niedersachsens
hatte ich mich einmal deswegen gezielt auf die Suche gemacht und
dann zu meiner Freude fünf Frauen und Männer aus Migrantenfamilien
zu Richtern und Staatsanwälten berufen können- alle mit
exzellenten Noten und starker Persönlichkeit. Die Resonanz
in den ausländischen Medien war überwältigend. Es
war spürbar, wie stolz beispielsweise die türkische Zeitung
„Hürriyet“ war, dass sie eine halbe Seite über
eine junge türkische Frau schreiben konnte, die es in Niedersachsen
zur Richterin gebracht hat. Sogar die türkische Tagesschau
hat über sie berichtet. Wir dürfen unsere aktuellen Vorschläge
nicht nur an den Problemen orientieren, sondern sollten gerade auch
die Biografie von erfolgreich integrierten Ausländern als Lehrstück
begreifen.

DAK: Die Medien waren in ihrer Berichterstattung
lange Zeit sehr zurückhaltend oder schon fast verleugnend manipulativ,
wenn es um den Tatbestand misslungener Integration ging. Ist unser
heutiges Problem nicht auch dadurch erst geworden was es ist, weil
es seit 10 Jahren totgeschwiegen wurde? Was kann/muss man unternehmen,
um dieses Thema zu enttabuisieren?

Christian Pfeiffer: Zuerst einmal auch an dieser
Stelle ein Dank an die Lehrer der Rütli-Schule. Es gehörte
viel Mut dazu, dass eigene Scheitern einzugestehen und die Verhältnisse
ehrlich zu beschreiben. In den letzten Jahren hatten wir Wissenschaftler
viel Gelegenheit, unsere Alarmrufe loszuwerden. Es ist also nicht
so, dass die Medien sich uns verweigert hätten. Kritisch muss
man allerdings bewerten, wie wenig die Politik aus den Vorschlägen
gemacht hat, die beispielsweise der von Frau Prof. Süssmuth
geleitete Migrationsrat der Bundesregierung, gestützt auf wissenschaftliche
Gutachten, vorgelegt hatte.

murat: Herr Pfeiffer, glauben Sie wirklich nicht,
dass das Problem in der Antihaltung der Deutschen gegen Ausländer
liegt? Wenn der deutsche Vater sagt, spiele nicht mit Türken
und so den Hass an seine Kinder weitergibt, verhalten sich diese
dann so in der Schule und es kommt dann zur Gruppierung „Mehmets
unter Mehmets“.

Christian Pfeiffer: Es ist leider oft genau anders
herum. Deutsche Eltern schreiben mir, dass türkische Kinder
bei Geburtstagseinladungen nein sagen mussten, weil ihre Eltern
das nicht erlaubt haben. Natürlich gibt es auch deutsch Eltern,
die ausländerfeindlich eingestellt sind. Aber das sind weniger
als zehn Prozent. Die große Mehrheit ist offen dafür,
dass ihre Kinder mit den Kindern aus Migrantenfamilien spielen,
zusammen lernen und gut miteinander leben.

Brussels1: Geehrter Prof. Pfeiffer, wie viel Investitionen
bräuchte es, um das Schulsystem ins 21ste. Jahrhundert zu führen?

Christian Pfeiffer: Deutschland wendet im Vergleich
zu anderen europäischen Ländern nur einen sehr geringen
Prozentsatz seines Bruttosozialprodukts für Bildung auf (ca.
4%). In anderen Ländern ist das um ein Drittel bis zur Hälfte
mehr. Zukunftsinvestition Jugend müsste eigentlich der wichtigste
Grundsatz in der Politik werden, weil angesichts des Geburtenrückgangs
unsere Kinder kostbarer sind als je zuvor. Wir können es uns
einfach nicht leisten, dass zehn Prozent die Schule ohne Abschluss
verlassen und dass ebenso zehn Prozent pro Jahr sitzen bleiben.
Mit beiden Werten stehen wir in Europa mit an der Spitze. Eine zentrale
Antwort wäre, die flächendeckende Einführung von
Ganztagsschulen, wie sie alle führenden Pisa-Länder haben.

markus1508: Ist es nicht auch so, dass den Lehrern
die Möglichkeit genommen wurde sich durchzusetzen? Ich selbst
habe vor drei Jahren die Schule mit dem Abitur verlassen und schon
damals wussten wir, dass der Lehrer uns eigentlich nichts anhaben
kann, wenn wir schwänzen, oder uns ‘unterrichtskonform ‘ verhalten.

Christian Pfeiffer: Gerade zum Schwänzen
haben wir soeben eine Sonderauswertung durchgeführt. Sie zeigt
klar: Dort, wo die Lehrer die Möglichkeiten der Schulordnung
nutzen und über das Schwänzproblem intensiv mit Eltern
und Schülern reden, haben wir ein niedriges Niveau. Eine Kultur
des Wegschauens und ein laisier-faire dagegen fördern das Schwänzen
nachhaltig. Es stimmt schlicht nicht, dass die Lehrer keine Möglichkeiten
hätten, auf Fehlverhalten zu reagieren. Manche meiden aber
leider die Anstrengung des Gegensteuerns.

Moderator: Haben Sie den Eindruck, dass die Politiker
angemessen auf die Situation reagieren, die durch die Rütli-Hauptschule
offenbart wurde?

Christian Pfeiffer: Es überwiegen zu sehr
die repressiven Töne, die Drohgebärden. Ich bin gespannt,
ob der so genannte Integrationsgipfel hier eine differenziertere
Antwort bringen wird. Und noch einmal verweise ich alle Neugierigen
auf unser Elf-Punkte-Papier zur Integration von Migranten und zur
Reduzierung der Gewalt: www.kfn.de

Heloise1: Gerade laufen in Baden-Württemberg
die Grundschulempfehlungen. Was raten sie Eltern, deren Kinder in
die Hauptschule müssen?

Christian Pfeiffer: Die Eltern haben ja dort nicht
die Möglichkeit, das Kind einfach stattdessen zur Realschule
zu schicken. Die Eingangsprüfungen schafft kaum jemand. Deswegen
bleibt nur der Weg, das Kind konstruktiv zu begleiten und es darin
zu stärken, dass es aus der Hauptschule heraus in die Realschule
wechselt. Viele schaffen das. In Baden-Württemberg ist die
Situation im Übrigen nicht mit der der Rütli-Schule vergleichbar.

Moderator: Das waren 60 Minuten tagesschau-Chat.
Herzlichen Dank für viele interessante Fragen, die wir leider
nicht alle berücksichtigen konnten. Dennoch vielen Dank an
alle, die mitgemacht haben. Besonderen Dank auch an Sie, Herr Pfeiffer,
dass Sie heute Zeit für unsere User hatten. Nächster Gast
bei uns ist Konrad Schily. Er ist MdB der FDP und wird am Donnerstag,
den 6. April zum tagesschau-Chat ins ARD-Hauptstadtstudio kommen.
Beginnen werden wir pünktlich um dreizehn Uhr.

Christian Pfeiffer: Ich danke für die vielen
gescheiten Fragen.

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