Sie könnten der Auslöser für eine globale Revolution des Bildungssystems sein: Massive Open Online Courses (MOOCs) versprechen einen kostenlosen Zugang zu höherer Bildung – für jeden, weltweit. Tatsächlich profitieren von den Bildungsangeboten aber vor allem jene, die gar nicht auf sie angewiesen sind.
Die alleinerziehende Afroamerikanerin aus der sozial benachteiligten Nachbarschaft beschäftigt sich mit Quantenphysik, der vielbeschäftige Manager frönt seiner geheimen Leidenschaft für Kunstgeschichte und der jugendliche Schulabbrecher oder der rüstige Rentner tauchen in die Welt der englischen Literatur ein. Massive Open Online Courses (MOOCs) sollen das Bildungswesen umkrempeln und auch die Personengruppen erreichen, die statistisch gesehen bislang häufig von höherer Bildung ausgeschlossen sind. Bei MOOCs handelt es sich um kostenlose, frei zugängliche Online-Kurse, die maximale Flexibilität erlauben und doch ähnlich aufgebaut sind wie Seminare an einer Universität: Sie haben einen fixen Anfangs- und Endtermin und einen festen Vorlesungsplan mit wöchentlichem Input in Form von Videovorlesungen und Übungsaufgaben – und am Ende steht teilweise eine Prüfungsleistung. Foren und soziale Netzwerke ermöglichen den Austausch der Studierenden untereinander.
Der Unterschied zur klassischen Vorlesung ist, dass die Teilnehmer selbst entscheiden können, wann, wo und wie sie das Material im Selbststudium bearbeiten, und dass es für die Teilnahme keinerlei Zugangsvoraussetzungen zu erfüllen gibt – abgesehen von einem Zugang zum Internet, versteht sich. Das ist möglich, weil Websites wie Coursera, edX oder Udacity Kooperationen mit weltweit führenden Universitäten eingehen. Selbst amerikanische Elite-Unis wie Harvard oder das Massachusetts Institute for Technology (MIT) bieten Massive Open Online Courses an. Allein für die von Harvard angebotenen Kurse hatten sich bis Februar 2014 über eine Million Lernwillige aus 193 Ländern angemeldet, Yale hat sogar ein komplettes Masterprogramm angekündigt, das ausschließlich online stattfinden soll. Man könnte MOOCs also als die Fernunis des digitalen Zeitalters bezeichnen – mit dem Unterschied, dass sie kostenlos und frei zugänglich sind und einen besseren Ruf genießen.
Lernen kann man mit MOOCs mittlerweile so gut wie alles: Interesse an Religion und Hip-Hop-Kultur, an Algorithmen, Chansons der Troubadoure oder Finanzanalysen? Gibt es alles! Es ist jedoch anzunehmen, dass sich nicht alle Themen gleichermaßen für die digitale Massenvermittlung eignen. Während sich Computer- und Naturwissenschaften relativ standardisiert vermitteln und per Multiple-Choice-Test auch wieder abfragen lassen, könnte es beim kreativen Schreiben englischer Poesie schon schwieriger werden, neben dem Teenager, der sich den ersten Liebeskummer von der Seele schreibt, auch den alternden Schriftsteller anzusprechen, der seine Technik verfeinern möchte. Bei der Masse an Teilnehmern können die Dozenten nicht auf individuelle Bedürfnisse eingehen, Essays werden deshalb von den Teilnehmern untereinander bewertet – sofern überhaupt eine Leistungsüberprüfung stattfindet.
Von Rockgeschichte bis Regressionsanalyse
Auch von Deutschland aus wird Wissen in die Welt gestreut, MOOCs werden unter anderem von der TU München angeboten. 250.000 Euro hat sich das Hochschulpräsidium die Produktion und Durchführung von fünf MOOCs kosten lassen, aktuell werden “Quality Engineering und Management” sowie “Einführung in Computer Vision” angeboten. Gegen Gebühr gibt es hinterher auch ein Zertifikat für die Teilnehmer. Die Anonymität im Netz kann aber zum Betrug in der Prüfungssituation verleiten: Warum nicht den Onkel mit dem Physikdiplom um Hilfe bitten oder sich die Allwissenheit Googles zunutze machen? Um das von vornherein zu verhindern, bemüht man sich, zumindest für die kostenpflichtigen zertifizierten Prüfungen wasserdichte Lösungen zu finden. Beispielsweise wird eine Prüfung in einem Testcenter in der Nähe abgenommen oder kann mit Coursera sogar betrugssicher von zu Hause aus abgeleistet werden – der Prüfling identifiziert sich vor der Computerkamera mit Ausweis und Foto. Und mittlerweile kann eine Software sogar sichtbar machen, ob auf dem Bildschirm nebenbei Wikipedia oder Google zur Unterstützung geöffnet sind.
Die Wissensabfrage funktioniert also. Nur: Wie viel nutzt so ein Schein im Ernstfall, also zum Beispiel in der Bewerbungssituation? Generell ist ein beglaubigtes Zertifikat mit Identitätsnachweis natürlich mehr wert als eine bloße Bestätigung über die Online-Registrierung. In manch einer US-amerikanischen Universität werden Online-Kurse bereits als Anfänger-Credits gewürdigt und ersparen dem angehenden Studenten so die teuren Studiengebühren für das erste Semester. Und in dynamischen, schnelllebigen Branchen wie der IT kann ein Zertifikat über die Teilnahme an einem MOOC bei einer Bewerbung durchaus ausschlaggebend sein – zum Beispiel, wenn eine neue Programmiersprache noch gar nicht in die analogen Vorlesungspläne von Universitäten aufgenommen wurde.
Wissenszuwachs ja – aber nicht bei jedem
Zertifikate sind die eine Sache – aber wieviel bleibt tatsächlich hängen, wenn ich ein Themengebiet ganz gemütlich vom heimischen Rechner aus bearbeite? Auch dazu gibt es bereits Studien: Wissenschaftler des MIT, der Harvard University und der Tsinghua University kommen in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass das MOOC-Format genauso effektiv sein kann wie Präsenzunterricht in der Uni, und dass bei den MOOC-Kursteilnehmern unabhängig von ihrem anfänglichen Kenntnisstand ein Wissenszuwachs zu beobachten ist. Ausschlaggebend ist demnach der didaktische Ansatz und nicht die Tatsache, ob ein Kurs online oder offline stattfindet. Mit der richtigen Aufbereitung von Inhalten bieten MOOCs also große Potentiale – gäbe es da nicht einen Haken. In der Studie wurden nur die Teilnehmer eines Physik-Kurses analysiert, die mindestens 50 Prozent der Kursaufgaben gelöst haben – von 17.000 Teilnehmern war dies bei gerade einmal knapp über tausend der Fall. Der Wissenzuwachs der verbleibenden 16.000 dürfte also äußerst gering sein. Denkbar also, dass die Teilnehmer der Studie, die ja durchaus etwas gelernt haben, positiv hinsichtlich Motivation und Ehrgeiz selektiert waren.
Ein Querschnitt durch die Bevölkerung sind auch diejenigen nicht, die auf die Idee kommen, sich für einen MOOC anzumelden. An der britischen Bath University zum Beispiel ist ein Großteil der Teilnehmer zwischen 18 und 40 Jahre alt, 70 Prozent haben bereits Erfahrung mit höherer Bildung. Studien von Bildungswissenschaftlern zufolge brechen teilweise mehr als 96 Prozent der angemeldeten Teilnehmer ihren Online-Kurs wieder ab. Der kläglich verbleibende Rest ist größtenteils männlich, weiß und bereits im Besitz eines Hochschulabschlusses. Die junge alleinerziehende Mutter aus dem Problemviertel, die die Bildung so dringend nötig hätte, wird vermutlich kaum unter den erfolgreichen vier Prozent sein – und so helfen die MOOCs vor allem denjenigen, die die Hilfe gar nicht unbedingt benötigen. Die Schere zwischen hoch und gering Gebildeten könnte sich durch die MOOCs möglicherweise also sogar vergrößern. Versteht man die Online-Kurse als ein demokratisches Instrument, das vor allem benachteiligten Gesellschaftsmitgliedern einen Zugang zu höherer Bildung verschaffen soll, so stellt sich angesichts der Studienergebnisse die Frage, ob das Geld an anderer Stelle nicht besser investiert wäre – zum Beispiel in Initiativen wie arbeiterkind.de, die junge Menschen aus bildungsfernen Familien gezielt auf dem Weg durch ein reguläres Studium den Rücken stärken. Global betrachtet besteht zudem das Problem, dass nur an den Kursen teilnehmen kann, wer Zugang zu einer stabilen Internetverbindung hat – auch hier wird die Tür zur Bildung für diejenigen, die sie am dringendsten benötigen, verschlossen bleiben. Sieht so eine Revolution aus?
Letztendlich müssen die MOOCs ja auch nicht gleich als Allheilmittel gegen Bildungsarmut die Welt retten – werden sie als Weg verstanden, bestimmten Gesellschaftsgruppen Weiterbildung und lebenslanges Lernen zu ermöglichen, dann erfüllen die Kurse durchaus ihren Zweck. Die Publitzistin Nora Stampfl ist der Ansicht, dass die Online-Kurse ihren größten Nutzen entfalten, wenn sie die Präsenzlehre von Universitäten ergänzen. Studierende könnten sich Studieninhalte dann über MOOCs in Eigenregie aneignen, Professoren könnten die dadurch entstandenen Freiräume in den Präsenzveranstaltungen nutzen, um Fragen zu klären, Inhalte zu vertiefen und weiterführende Themen zu diskutieren. Schon in naher Zukunft könnten die MOOCs als vollwertige Kurse samt dazugehöriger Credits anerkannt werden, so die Prognose der Publizistin. Vor allem in den USA, wo horrende Gebühren den Traum vom Studium vieler junger Menschen platzen lassen, könnte sich die Lage dadurch entspannen.
Ganz so optimistisch ist Prof. Christoph Bieber vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen nicht: “Es könnte sein, dass das durchaus vorhandene Potenzial der MOOCs in anderen “Modernisierungsprozessen” des Hochschulalltags regelrecht zerrieben wird. Wenn wie z.B. in Nordrhein-Westfalen auch für normale Seminarveranstaltungen keine Präsenzpflicht mehr besteht, dann treiben MOOCs die schleichende Aushöhlung der ‘Campus-Universität’ voran. Als Alternative zu den klassischen Vorlesungen tragen sie dazu bei, die Studierenden vom gemeinsamen Lernort fernzuhalten und verhindern das Gespräch in der Peer-Group ebenso wie das zufällige Stolpern über interessante Bücher, spannende Diskussionen oder einfach nur neue Bekanntschaften.” Dennoch: Wenn es gelänge, eine zuverlässige Kombination aus Lehrangebot, Online-Diskussion und -Feedback und passendem Prüfungsformat zu konstruieren, könnten MOOCs eine gute Ergänzung im Studienalltag sein, hofft Prof. Bieber.
Foto: nosha
Erst einmal Glückwunsch zu dem äußerst gelungenen Artikel. Als Ergänzung kann man schreiben, dass MOOCs inzwischen auch in Deutschland stark im kommen sind. Neben dem kommerziellen MOOC Portal iversity gibt es auch die universitären Projekte vom HPI und und unser MOOC-Portal mooin von der FH Lübeck http://mooin.oncampus.de und das Portal imoox aus Graz.
Inzwischen sind die geschriebenen Abbrecherzahlen von 96% auch längst überholt. Wir haben inzwischen “nur” noch 80% Abbrecher und das HPI und auch Marburg sogar nur noch 70-60%. MOOC stehen am Anfang einer neuen Entwicklung und verbessern sich ständig.
Leider wird auch die Frage der außeruniversitären Weiterbildung wenig beleuchtet. Können MOOCs nicht auch Volkshochschulen helfen, ihre Angebote zu digitalisieren? Wir haben mit dem ichMOOC jetzt eine neue Kooperation mit den VHSen Bremen und Hamburg gestartet und auch mit unserem VideoMOOC sprechen wir neue Zielgruppen an. Gerade kleiner Bildungsanbieter ohne IT-Infrastruktur könnten ohne Kooperationen nie solche Angebote verwirklichen.
Grüße aus dem Norden
Andreas