Zum Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz startete das Twistory-Projekt “Heute vor 70 Jahren”. Entstehen soll eine crossmediale Alltagsgeschichte.
Das Twitter-Profil @9nov38, unter dem die nationalsozialistischen Novemberpogrome nacherzählt wurden, bekam 2013 einige Resonanz. Nun geht es unter dem allgemeinen Namen @digitalpast weiter: Bis zum Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai werden einige Aspekte des historischen Geschehens 70 Jahre später jeweils in weniger als 140 Zeichen wiedergeben. Die Perspektive dieses historischen Echtzeitformats reflektiert der Titel des dazu erscheinenden Begleitbuchs: “Als der Krieg nach Hause kam”. Darin fokussiert Moritz Hoffmann, einer der Betreiber des Projekts, die letzten Monate des deutschen Kriegsalltags als Kontext der Tweets.
Jahrestage stimulieren auch in den sozialen Medien die Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Am 27. Januar 2015 ist deshalb #Auschwitz70 ein häufig verwendeter Hashtag. Gleichzeitig markiert das Datum den Start eines Projekts, das längerfristig konzipiert ist: Mehrere Monate fügen nun fünf studierte respektive studierende Historikerinnen und Historiker Tweet für Tweet zu einem Mosaik aus zeitgeschichtlichem Material. Die Frequenz des ersten Tages ist dem Anlass angemessen dabei eher ungewöhnlich hoch, während es auch Tage ohne eine Meldung aus der Geschichte geben wird. Mit Visuellem ist dabei nicht zu rechnen, obgleich dies die Attraktivität sozial-medialer Angebote in der Regel steigert.
Crossmediale Geschichtsschreibung
Im Gegensatz zu anderen historischen Echtzeitformaten, die sich eher am Nachrichtwert der Ereignisse orientieren (siehe unsere Berichterstattung zum #Mauerfall, variiert “Heute vor 70 Jahren” diesen Ansatz. Neben den “Ereignisinseln” soll es laut dem Blog des Twitter-Teams um die Erlebnisse von Einzelpersonen gehen: “Für die Tweets stehen die Tagebuchaufzeichnungen im Vordergrund; das Notierte jener Personen, die entweder die Ereignisse für die Nachwelt erhalten wollten oder sich einfach den Kummer von der Seele schreiben wollten.” Zu den betreffenden Personen gibt es im Blog dann kurze biografische Angaben und Verweise auf die verwendeten Quellen (siehe den ersten entsprechenden Eintrag). Damit dieses Konzept auch für Interessenten ohne größeres Vorwissen aufgeht, wurde ein weiteres Standbein gewählt, nämlich das Begleitbuch “Als der Krieg nach Haus kam“. Basierend auf Tagebucheinträgen und Fachliteratur liefert Autor Moritz Hoffmann darin eine “Chronik des Kriegsendes in Deutschland“, so der Untertitel (Leseprobe).
Eine Alltagsgeschichte der letzten Kriegsmonate aus deutscher Perspektive provoziert freilich den Vorwurf, dass die Opfer der Deutschen dabei aus dem Blick geraten könnten. Womöglich beginnen Buch und “Reentweetment” auch deshalb mit dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, um dieser Gefahr zu begegnen. Bereits jetzt lassen sich einige Tweets, die etwa zum Thema “Dresden und der Bombenkrieg” vorgesehen sind, im Buch nachlesen und sind dort durch den Fließtext erklärend gerahmt. Welche eventuell nicht-intendierten Aneignungen und Formen viraler Verbreitung sie dann im Netz erfahren, wäre begleitend zu analysieren.
Geschichtswerkstatt 2.0
Denn um Öffentlichkeit geht es dem Projekt: Moritz Hoffmann versteht sich als Pionier einer neuen historischen Disziplin, der digitalen “Public History”. In einem programmtischen Beitrag für das Blog seines Verlages proklamiert er: “Beschränken wir uns weiterhin nur auf die seit Jahrzehnten etablierten Kanäle der Geschichtsvermittlung, verlieren wir laufend den Kampf um die Aufmerksamkeit immer neuer Generationen junger Menschen, die sich von linearen Medien wie Fernsehen und Literatur zugunsten eines individualisierten Medienkonsums verabschiedet haben.” Dass für die Herstellung von Öffentlichkeit jedenfalls die Wahl des Kommunikationskanals zentral ist, wurde vor dem Start des Projekts reflektiert. Dass der historische Newsfeed exklusiv bei Twitter und nicht bei der vermeintlich reichenweitenstärkeren Konkurrenz eingespeist wird, liegt am selektiven Algorithmus, heißt es im Blog von digital past: “Wir müssten Facebook Geld zahlen, um diese Einschränkungen zu umgehen und unsere Beiträge allen Lesern anzuzeigen. Aber auch dies würde nicht bedeuten, dass die Beiträge wie auf Twitter ‘sekundengenau’ verbreitet und gelesen werden – und genau das ist ja der Clou bei einem Reentweetment-Projekt.“
Dies ist ein Crosspost von Netzpiloten.de. Der Artikel ist zuerst dort erschienen.
Bild: Bundesarchiv