Seit den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2008, 2012 und 2013 wollen die Demonstrationen in der armenischen Hauptstadt Jerewan nicht enden. Ende 2014 übertrafen sie jedoch alle vorangegangenen. Grund für die erneuten Proteste ist neben der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem aktuellen Regime die schlechte soziale und wirtschaftliche Lage der Bevölkerung. Armenien steht womöglich vor politischen Umwälzungen – und das Internet spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Laut Angaben der Vereinigung für Internationale Telekommunikation (ITU) ist die Internetnutzung in Armenien seit dem Jahr 2008 um 700 Prozent, von ca. sechs auf knapp 50 Prozent angestiegen. Das Internet stellt heute eine wichtige Plattform für den politischen und sozialen Diskurs in Armenien dar. Sein Potential wurde jedoch erst nach den dramatischen Entwicklungen vor sieben Jahren erkannt. Was damals geschah:

Die Protestbewegung 2007-2008  

Jeder Armenier erinnert sich an die Ereignisse vom 1. März 2008. An diesem Tag wurden die seit Monaten andauernden friedlichen Demonstrationen gewaltsam aufgelöst. Acht Menschen kamen laut offiziellen Angaben ums Leben, ca. 150 Menschen wurden festgenommen. Der scheidende Präsident, Robert Kotcharian, verhängte daraufhin den Ausnahmezustand. „Eine solche Wendung der Ereignisse kam für viele unerwartet, wirkte einschüchternd und entmutigend“, berichtet die Politikwissenschaftlerin Hripsime Grigoryan, die selbst an der Protestbewegung beteiligt war. Wie viele andere junge Armenier war auch sie mit der herrschenden Regierung unzufrieden und suchte nach Wegen, sich für mehr Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenrechte einzubringen.

Im September 2007 hatte der erste Präsident der Republik Armenien, Lewon Ter-Petrosjan, im Vorfeld der Präsidentenwahl eine beeindruckende Rede gehalten. Darin kritisierte er das Regime als kriminell, korrupt und oligarchisch und setzte den Anfang für die landesweite Protestbewegung. Insbesondere junge Armenier fühlten sich von ihm und seiner Rede inspiriert und sahen in ihm ihr zukünftiges Staatsoberhaupt. „Damals war das Internet in Armenien nicht besonders verbreitet, also organisierten wir uns über private Kontakte“, erzählt die Politikwissenschaftlerin Grigoryan. Die Bewegung bekam den Namen „Volksbewegung“, sie sollte die verfassungsmäßige Ordnung im Lande wiederherstellen und das „räuberische“ Regime abschütteln. „Die Anhängerschaft des ehemaligen Präsidenten Lewon Ter-Petrosjan wuchs rapide. Binnen weniger Monate erreichte ihre Anzahl mehrere Hunderttausend“, erinnert sie sich.

Trotz registrierter Wahlfälschungen und Angriffen auf Oppositionsführer und Journalisten erklärte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die am 19. Februar 2008 abgehaltenen Wahlen für rechtmäßig. Der Nachfolger des amtierenden Präsidenten wurde Sersch Sargsjan mit ca. 53 Prozent der Stimmen. Lewon Ter-Petrosjan, den offiziell lediglich 21,5 Prozent der Armenier gewählt hatten, rief die Opposition auf, die Wahlen zu torpedieren und appellierte an das Verfassungsgericht. Die friedlichen Kundgebungen und Proteste wurden auf dem Platz der Freiheit fortgesetzt, um am 1. März 2008 ihr gewaltsames Ende zu finden. „Die Polizei griff an diesem Tag die Protestierenden auf dem Platz der Freiheit an, als sie ahnungslos in den aufgeschlagenen Zelten schliefen. Hunderte von Zivilisten wurden brutal zusammengeschlagen und verletzt“, berichtet Hripsime Grigoryan.

Medienzensur und das Aufleben des Internets

In derselben Nacht verhängte der scheidende Präsident Robert Kocharyan den Ausnahmezustand für 20 Tage und verabschiedete ein Dekret, demzufolge die Medien nur aus offiziellen Quellen berichten durften. Die Zensur erstreckte sich auf alle traditionellen Massenmedien.

„Die Menschen erhielten keine Informationen darüber, wie viele Tote, Verletzte und Verhaftete es gab, was genau in der Nacht zum 1. März vorgefallen war, welche Institutionen involviert waren, welche Rolle dabei die Polizei und die bewaffneten Streitkräfte spielten”, so Grigoryan. „Es war dieses Informationsvakuum und das absolute Fehlen einer alternativen Informationsquelle, die die Menschen dazu brachten, ins Internet zu gehen. Obwohl es damals nur von einigen wenigen Armeniern genutzt wurde und trotz langsamer Dial-Up-Verbindung, war es damals die einzige Quelle, aus der zuverlässige InformPowiationen bezogen werden und dann über Mailinglisten, Telefongespräche sowie persönliche Treffen verbreitet werden konnten“, berichtet die Politikwissenschaftlerin.

Die „Volksbewegung“ bekam damit eine Internetpräsenz. Besonders aktiv war damals die Webseite payqar.net (zu Deutsch: Kampf.net, heute nicht mehr online). Neu entstanden waren auch das Online-Journal „Independent Armenia“, Tzitzernak2 (Die Schwalbe2), khosk.com (zu Deutsch: das Wort.com, ebenfalls nicht mehr existent), die politischen Blogs UNZIPPED, Aramazd etc.

Hripsime Grigoryan stammt aus Armenien und studierte Politikwissenschaft an der Central European University in Budapest.  Sie ist Analystin für zivilgesellschaftliche Partizipation und Prozesse. Als ehemalige Aktivistin der Jugendbewegung „Hima“ („Jetzt“) war sie an den Protesten im Jahr 2008 beteiligt.

Infolge der politischen Entwicklungen wurde 2008, unter Leitung des Oppositionsführers Levon Ter-Petrosjan der Armenische Nationalkongress gegründet – eine Koalition aus 13 Oppositionsparteien, die ebenfalls über eine eigene Webseite verfügt. Herausragende Mitglieder des Armenischen Nationalkongresses wie Nikol Pashinyan sind heute aktive vielfach gelesene Blogger.

Auch zahlreiche Printmedien zog es damals ins Internet, unter anderem die Zeitung Azatutjun.am (zu Deutsch: Freiheit), die Nachrichtenagentur A1Plus.am , die Zeitungen ArmTimes.com  und Aravot.am (zu Deutsch: Der Morgen).

Die Berichterstattung in den Internet-basierten Medien unterschied sich grundlegend von den Themen der offiziell zugelassenen. Während die Opposition und ihre Anhänger das Internet nutzten, um auf die Menschenrechtsverletzungen und die fehlende Meinungsfreiheit hinzuweisen, behandelten die herkömmlichen offiziellen Massenmedien in erster Linie die Themen „Sicherheit und Stabilität“, so beschreibt die Menschenrechtlerin und Medienspezialistin Tsovinar Nazaryan die Situation von damals. Die Aktivistin ist die Gründerin der Initiative „Army in Reality civic initiative“ und lebt heute im Ausland.

Die zivilgesellschaftlichen Bewegungen seit 2010

Besonders effektiv agieren heute die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich über soziale Netzwerke wie Facebook, YouTube oder Blogs organisieren. Die ersten erfolgreichen Bürgerinitiativen wurden 2007 und 2010 gegründet, den Anfang machte die Umweltbewegung „Rettet Teghut”. Teghut ist ein Dorf in der Provinz Lori im Norden Armeniens und hat großes Kupfer-und Molybdänvorkommen. Die Inititative machte auf die umweltschädliche Gewinnung dieser Metalle aufmerksam, wollte die Bevölkerung für Umweltfragen sensibilisieren und umliegende Dörfer vor Grundwasservergiftung und Gesundheitsschäden retten. Eine zweite Bürgerinitiative hatte sich die Aufrechterhaltung der Stadtparks unter dem Slogan: “Die Stadt gehört uns”zum Ziel gesetzt.

Andere soziale Online-Bewegungen richten sich gegen konkrete Gesetzentwürfe und Verordnungen der Regierung. So konnten, dank der Initiativen “We pay 100 dreams” und “I am against!”, die Preissteigerungen für öffentliche Verkehrsmittel sowie die Besteuerung von Renten abgewendet werden.

„In den ersten Jahren hatte sich der Ort des Protests von den Straßen ins Internet verlagert, weg von politischen Fragestellungen in Richtung soziale Gerechtigkeit“, bestätigt Hripsime Grigoryan. Die Bevölkerung scheint sich jedoch allmählich von den entmutigenden Ereignissen vom 1. März 2008 zu erholen. Der in Armenien bekannte Politikanalytiker und Aktivist Arthur Avtandilyan meint eine interessante Tendenz zu erkennen: Die sozialen Bewegungen werden wieder politischer.

Das Internet wird in Armenien heute – sehr viel später als anderswo – von politischen Parteien, Menschenrechtlern, Bürgern und Medien aktiv genutzt. Die Zahl der neuen Internet-Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen wächst stetig weiter. Die oppositionelle Bewegung unter Leitung des ehemaligen Präsidenten Levon Ter-Petrosjan scheint neuen Schwung zu bekommen. Noch ist nicht abzusehen, ob die Proteste auch diesmal eine längerfristige Wirkung zeigen werden.

Bilder: Arman Vaziryan (Artikelbild), Nane Khachatryan (Porträt)

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