Rote Telefonzellen, schwarze Taxis, Doppeldeckerbusse: Sie gehören zu London wie Big Ben, das London Eye und die Tower Bridge. Doch die Taxis sind in Gefahr, und die Telefonzellen sterben aus – genauso wie die Privatsphäre der Londoner. Verantwortlich dafür sind die Smartphone-Apps, mit denen das kontaktlose Bezahlen in Bus, Taxi und U-Bahn möglich ist. Fortschritt oder erschreckende Veränderung?

Im Sommer 2014 brach in London Streit aus: zwischen den Fahrern der ikonischen Black Cabs und Uber, jenem ethisch fragwürdigen Technologiekonzern aus Kalifornien, der mit seiner App Taxifahrenden das Leben leichter machen will. Die App erlaubt es Nutzern, ihr Taxi zu bestellen, zu bezahlen und dabei den besten Deal zu bekommen – bei festgelegtem Preis ohne Trinkgeld. Die Fahrer der ohnehin zunehmend gefährdeten Black Cabs wollten sich einen „Uber-griff“ auf ihr jahrhundertelang bestehendes, speziell reguliertes Geschäftsmodell nicht kampflos gefallen lassen und protestierten.
Denn Cabbies üben ihren Beruf mit Stolz aus, für einige hat er gar eine romantische Komponente, die weit über den Kultstatus ihrer schwarzen Autos hinausgeht. So kennen die Fahrer London wie ihre Westentasche, eignen sich drei bis vier Jahre lang „The Knowledge“ an – umfassende Kenntnisse aller Straßen in der Hauptstadt, die in mehreren Tests belegt werden müssen. Dafür genießen die Cabbies gewisse Privilegien: Black Cabs dürfen in Busspuren fahren, man kann sie von der Straße aus heranwinken. Die konkurrierenden Minicabs sind dagegen ausschließlich über Zentralen buchbar. Nur die Black Cabs haben fest installierte Taxameter. Das ist per Gesetz so geregelt.
Uber, so beschweren sich die Cabbies, umgehe das Gesetz, da eine App eben nicht fest im Fahrzeug installiert ist, aber wie ein Taxameter funktioniert. Andere argumentieren, dass der Symbolstatus der schwarzen Taxis wohl kaum Innovation und Fortschritt im Weg stehen dürfe. Ob das Reisen in Uber-Taxis sicherer für die Fahrgäste ist, bezweifelt nicht nur Guardian-Kolumnistin Victoria Coren-Mitchell. Auch die BBC berichtete im vergangenen Juni, dass zumindest Sorgen über das Thema Datenschutz nicht ganz unbegründet seien, von Nachrichten über „God View“ ganz zu schweigen, das es Uber-Angestellten angeblich ermöglicht, den Aufenthaltsort von Kunden zu verfolgen.

Bequemlichkeit vs. Datenschutz: Kontaktlos bezahlen in der U-Bahn

Der Fall Uber zeigt, dass nicht alle Aspekte des digitalen Wandels bei Betroffenen auf Gegenliebe stoßen. Dabei wirkt sich dieser schon seit Langem auf die Londoner Reisegewohnheiten aus. U-Bahn (Tube) und Bus sind für Londoner das Fortbewegungsmittel der Wahl. Kaum etwas nervt uns mehr, als auf dem eiligen Weg zur Arbeit, ins Fitnessstudio oder in den Pub von auf der Rolltreppe links stehenden Touristen ausgebremst zu werden. Da erscheint die Digitalisierung des Bezahlvorgangs eine gute Idee, ist sie doch unkompliziert und zeitsparend.
Seit 2003 gibt es die sogenannte Oyster-Card: eine kreditkartenförmiges Stück Plastik mit eingebautem Mikrochip, das man entweder nach Bedarf aufladen oder mit einer Monatskarte bestücken kann. Am Eingang zur Tube oder beim Einsteigen in den Bus hält man die Oyster einfach auf einen gelb-runden Scanner und der Computer zieht automatisch das Fahrgeld ab. Seit 2014 hat Oyster Konkurrenz. „Contactless Payment“ heißt eine neue Funktion vieler Kreditkarten, die ganz ähnlich funktioniert: draufhalten, bezahlen, fertig. Ideal für ständig unter Zeitdruck stehende Großstädter. Oder nicht? Probleme gibt es reichlich. „Card clash“ – also das versehentliche Halten beider Karten auf das Lesegerät – ist nur eines davon. Gegen „Contactless“ wehren sich auch die Gewerkschaften: Weniger Tickets bedeuten weniger Ticketschalter und damit weniger Arbeitsplätze. Aber auch Datenschützer sollte Contactless alarmieren: Reise- und Abrechnungsdaten registrierter Karten werden zwölf Monate lang gespeichert, damit Kunden stets den Überblick über ihre Zahlungsaktivitäten haben. Seit Beginn des NSA-Skandals und in Anbetracht von Enthüllungen über den britischen Geheimdienst GCHQ drängt sich automatisch die Frage auf, wer außer den Kunden noch Zugriff auf die Daten nimmt.

„CCTV is in operation“: Die überwachte Stadt

Ob nun mit Bus, Tube oder Taxi, Contactless oder Oyster, auf jeden Fall wird man bei seiner Reise durch London jederzeit von den massenhaft installierten Überwachungskameras beobachtet. Sie gehören genauso unausweichlich zum Stadtbild des zunehmend digitalisierten London wie die Leuchtreklame am Piccadilly Circus. Über genaue Zahlen herrscht Uneinigkeit: Erhebungen gestalten sich als schwierig, da nicht nur der Staat Kameras auf die Bürger richtet. Schätzungen reichen von zwei über 4,5 bis hin zu 5,9 Millionen Kameras, also eine Kamera auf 32, beziehungsweise 14, beziehungsweise 11 Menschen.
Wie die Zahlen auch liegen mögen, Tatsache ist, dass Überwachung in Großbritannien teilweise absurde Züge annimmt. So gibt es in einigen Städten seit 2007 mit Mikrofonen ausgerüstete oder sogar voll automatisierte, sprechende Kameras. Sie weisen Menschen, die beispielsweise ihre Zigarettenstummel nicht ordnungsgemäß entsorgen, darauf hin, dass sie für ihr schlechtes Benehmen zur Rechenschaft gezogen werden können. Sich von der lokalen Überwachungskamera bevormunden zu lassen, ist also auch Teil der Digitalisierung Großbritanniens.
Die in Deutschland umstrittene automatische Nummernschilderkennung ist in London ebenfalls an der Tagesordnung. Und das, obwohl Scotland Yard die flächendeckende Überwachung schon 2010  als „Fiasko“ bezeichnet haben soll. Die schiere Flut an Bildern sei schlicht nicht zu bewältigen, zumal nur ein Bruchteil wirklich für die Verbrechensaufklärung relevant sei. Und die gesetzliche Regulierung ist schwammig. Somit ist das Ganze unter Datenschützern höchst umstritten. Der Rest der Briten aber regt sich darüber kaum auf. Die Frage, ob wegen der allgegenwärtigen Überwachung in Großbritannien auch die Snowden-Veröffentlichungen für relativ wenig Aufregung sorgen, erscheint da ein bisschen wie die Frage nach der Henne und dem Ei. Kein Wunder, mag man denken, das Panoptikon ist ja schließlich eine britische Erfindung.

It’s not all Doom and Gloom: Rettet die Telefonzellen!

Im Gegensatz zu den Überwachungskameras verschwinden rote Telefonzellen mehr oder weniger still und leise aus London. Denn wer braucht im Zeitalter des Smartphones noch öffentliche Fernsprechgeräte? Harold Craston und Kirsty Kenney, zwei Studenten der London School of Economics, nahmen sich den Verlust der weltbekannten roten Kästen offenbar zu Herzen. Sie gründeten das Start-Up-Unternehmen Solarbox und wandeln jetzt rote Telefonzellen in grüne solarbetriebene Ladestationen für Handys um. Dafür wurden Sie vom Londoner Bürgermeister mit einem Preis für nachhaltige Erfindungen ausgezeichnet.
Die erste Solarbox ging am 1. Oktober 2014 an den Start, neun weitere sollen im Frühjahr 2015 folgen. 365 Tage im Jahr kann man hier zwischen halb sechs am Morgen und halb zwölf am Abend kostenlos sein Handy über Mini-/Micro-USB oder iPhone-Anschluss mit Energie aus einer 150-Watt Solarzelle aufladen. Laut Entwicklerin Kenney brauchen die grünen Boxen nur drei Stunden Sonnenlicht am Tag: Die auf dem Dach montierte Solarzelle speichert in den Sommermonaten überschüssige Energie und gleicht so Defizite im Rest des Jahres aus. Finanziert wird das Ganze durch Werbung (zum Beispiel für Ubers Taxi-App) und ist daher für Nutzer kostenfrei. Bedenken, die Zellen würden eventuell heimlich Nutzerdaten abgreifen, weist Craston zurück: “Wir sind doch viel zu blöd, um so etwas zu programmieren.” Grüne Telefonzellen sind zwar nicht ganz authentisch – und treffen auch nicht den Geschmack aller – aber vielleicht werden sie ein erstes, sichtbares Zeichen nicht nur eines zunehmend digitalen, sondern auch ökologischeren London.
Dennoch wird das Verschwinden der roten Telefonzellen das Stadtbild ebenso nachhaltig verändern wie das der schwarzen Taxis. Der Verlust ikonischer Symbole ist nur der kleinste Teil tiefgreifender Veränderungen, die der digitale Wandel für London bedeutet. Eingedenk von Massenüberwachung, Datenschutz und Stellenstreichungen hatte Frank Schirrmacher sicher nicht nur in Bezug auf London Recht, als er schrieb, dass es an der Zeit sei, „Gewinn und gesellschaftliche Kosten neu zu verhandeln“.
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